Sonntag, 21. Januar 2018

Juristischer Quantensprung (Ralph Hartmann)


Im nüchternen, mit hochmoderner Computertechnik ausgestatteten ersten Gerichtssaal des Haager Jugoslawien-Tribunals am Churchillplatz Nr. 1 ist das Licht ausgegangen. Die Richter in respektheischenden roten Roben auf blauen Sesseln vor blauem Hintergrund haben ihre Arbeit eingestellt. Der 1993 geschaffene Gerichtshof ist nach fast 11.000 Prozesstagen Geschichte. Der Berliner Jurist Wolfgang Schomburg, der hier sieben Jahre lang Richter war, zog Bilanz: »Es ist ein Quantensprung auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit gewesen, dass dieses Gericht eingerichtet wurde.« So zitierte ihn der Tagesspiegel, um selbst festzustellen: »Das UN-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag war für die internationale Justiz ein Riesenschritt.« Spiegel online stand dem Blatt nicht nach und meinte, es habe »ein wegweisendes Kapitel in der Weltjustizgeschichte« geschrieben. Und die Frankfurter Rundschau sah die Bedeutung des Tribunals noch globaler, denn es »machte die Gerechtigkeit zum Faktor in der Weltpolitik«.

Wie weit der »Quantensprung« und der »Riesenschritt« reichten, wie groß die »Gerechtigkeit« war, zeigten viele der 161 vor allem gegen Serben geführten Prozesse. Keiner aber offenbarte exemplarisch den wahren Charakter des Gerichtshofes so wie das Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens und Serbiens, Slobodan Milošević. Beginn und Ende des Prozesses seien in Erinnerung gebracht.

Am Dienstag, dem 12. Februar 2002, exakt um 9.30 Uhr war es soweit. Der Vorhang hob sich und der »Prozess der Prozesse« begann. Milošević war angeklagt in 66 Punkten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwerer Kriegsverbrechen. 1200 Medienvertreter aus aller Welt hatten sich eingefunden, die Mehrzahl von ihnen verfolgte das Geschehen in Nebenräumen auf großen Bildschirmen. Nach der Eröffnung durch Richter Richard George May verlas die Chefanklägerin Carla Del Ponte ihre einleitende Erklärung. Sie, die es vehement abgelehnt hatte, die Kriegsverbrechen der NATO im 78-tägigen Bombenterror gegen Jugoslawien zu ermitteln, beschrieb den Angeklagten als machtbesessenen Kriegsherrn ohne Ideale, dessen Verbrechen an eine »nahezu mittelalterliche Barbarei« erinnerten.

Anschließend hielt der Staatsanwalt Geoffrey Nice, ebenso wie Richter May aus dem NATO-Land Großbritannien kommend, ein endlos langes Eröffnungsplädoyer, in dem er nachzuweisen versuchte, dass den Untaten des Expräsidenten »das Verbrechen der gewaltsamen Beseitigung der Nichtserben« zugrunde liegt, »damit Milošević einen zentralistisch-serbischen Staat erhält und kontrolliert«. Mit Tonaufzeichnungen, Fotos und Videos machte er seine Anklage streckenweise zu einem Lichtbildervortrag über die in Jugoslawien während der Bürgerkriege geschehenen Gräuel, für die Milošević verantwortlich sei. Nices Plädoyer war ausschließlich darauf gerichtet, den Angeklagten als »Balkanmonster« hinzustellen, denn dessen Gegner in den NATO-Metropolen hatten ihm nie verziehen, dass er seinen sozialistischen Idealen treu geblieben war, konsequent für den Erhalt der multinationalen jugoslawischen Föderation eintrat, der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der NATO die Stirn bot. So hatten sie ihn ausgerechnet während der verbrecherischen Aggression des Kriegspaktes gegen Jugoslawien angeklagt.

Am dritten Prozesstag erhielt Milošević das Wort. Nachdrücklich und wohlbegründet kennzeichnete er die Beschuldigungen als ein »Meer von Lügen und bewussten Fälschungen, die das Opfer einer kriminellen Aggression als kriminellen Täter darstellen sollen«. Seiner aussichtslosen Lage war er sich bewusst. »Dieser Prozess ist nicht fair: Auf der einen Seite steht ein riesiger Apparat, sind die Medien und (Nachrichten)-Dienste, und ich habe nur eine öffentliche Telefonzelle. Sie möchten, dass ich mit gebundenen Händen und Füßen an einem Schwimmwettkampf über 100 Meter teilnehme. Dies ist ein Wettkampf zwischen Recht und Unrecht.« Aus guten Gründen ging er detailliert auf den Angriff der NATO-Staaten ein, »die zusammen 676-mal stärker als Jugoslawien sind« und warf ihnen »Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen die Genfer Konvention« vor. Dem Beispiel des Anklägers folgend, untermauerte er seine Darlegungen mit Fotodokumenten über die NATO-Verbrechen: zerstörte Gebäude, Fabriken, Krankenhäuser, Leichen, Leichenteile, verkohlte Körper, von Raketen zerfetzte albanische Flüchtlinge.

Sein erster Auftritt war so beeindruckend, dass selbst zahlreiche Korrespondenten aus NATO-Staaten feststellten, dass Milošević so vom Angeklagten zum Ankläger wurde. So blieb er es auch an den folgenden 247 Verhandlungstagen. Der Expräsident, der sich selbst verteidigte, führte die Kreuzverhöre der 300 Zeugen der Anklage so überlegen, dass alle Anschuldigungen zusammenbrachen. Darunter makabererweise auch die Verhöre mit den für den brutalen Luftkrieg gegen Jugoslawien maßgeblich verantwortlichen NATO-Generälen Wesley Clark und Klaus Naumann.

Der Prozess drohte für die Anklage zu einem Debakel zu werden. Die Drahtzieher gerieten in Verwirrung. Unter Berufung auf ein Gespräch mit dem stellvertretenden US-Außenminister John Bolton verfasste Jeffrey Kuhner, einer der führenden Ideologen der Republikanischen Partei, einen Beitrag, den die Washington Times am 24. Oktober 2004 veröffentlichte. Darin wurde Alarm geschlagen: »Die Bush-Administration fordert jetzt, dass die Hauptanklägerin … Del Ponte, ihre Fälle vor dem Gericht zu Ende bringt ... Washington hat jetzt in der Tat verstanden, dass es ein Frankenstein-Monster geschaffen hat ... Das Tribunal hat einen Misserfolg erlitten.«

Was tun? Miloševićs angeschlagene Gesundheit bot einen Ausweg. Bereits 2002 hatte ein vom Gericht bestellter niederländischer Kardiologe bei dem Angeklagten einen extrem hohen Bluthochdruck mit sekundärem Organschaden, Erweiterung der linken Herzkammer, diagnostiziert. Er warnte, dass der Druck des Verfahrens zu extremer Erschöpfung, zu Gehirnschlag, Herzinfarkt und Tod führen könnte. Dessen ungeachtet lehnte das Tribunal eine Behandlung durch Miloševićs Belgrader Ärzte ab und verweigerte ihm die von diesen verordneten Medikamente. Im Gegenteil, man verabreichte ihm kontraindizierte. Damit nicht genug, seinem Antrag, sich wegen seiner akuten Leiden am weltbekannten Moskauer Bakuljew-Zentrum von russischen Herzspezialisten behandeln zu lassen, wurde nicht stattgegeben, obwohl die russische Regierung schriftliche Garantien für seine Rückführung nach Den Haag gegeben hatte. Auch ein Wiedersehen mit seiner Frau Mira verweigerte das Tribunal ihm. Noch einen Tag vor seinem Tod hatte Milošević seinem Rechtsberater Zdenko Tomanovic gesagt, dass man ihn vergiften wolle, worüber der Berater umgehend das holländische Justizministerium, die Polizei und die russische Botschaft mit einem handschriftlichen Brief Miloševićs an Außenminister Lawrow informierte. Es war zu spät. Am Morgen des 11. März 2006 wurde Milošević tot in seiner drei mal fünf Meter großen Einzelzelle im Scheveninger Gefängnis nahe Den Haag aufgefunden. Seine Angehörigen baten, eine Obduktion in Moskau durchführen zu lassen. Das Tribunal lehnte das ab. Warum wohl? Die vom Gericht angeordnete Untersuchung des Leichnams ergab, dass der langjährige Präsident Jugoslawiens und Serbiens an einem Herzinfarkt gestorben war.

Einen Tag vor seinem Tod hatte Milošević in einem Telefongespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), Milorad Vucelic, gesagt: »Sie werden mich nicht brechen können.« Das waren seine letzten überlieferten Worte. Mit ihnen hat er Recht behalten. Sie haben ihn nicht gebrochen, zu Tode gebracht haben sie ihn.

Von den insgesamt 161 angeklagten Personen wurden 84 verurteilt. Das letzte Strafverfahren endete am 29. November 2017. Zum 31. Dezember 2017 wird der Strafgerichtshof offiziell geschlossen.

Keines der in Den Haag geführten Verfahren hat so anschaulich und überzeugend gezeigt, dass das Jugoslawien-Tribunal ein »Quantensprung«, ein »Riesenschritt«, ein »wegweisendes Kapitel in der Weltjustizgeschichte« war, wie der Schauprozess gegen Slobodan Milošević. Nur unverbesserliche Ignoranten könnten dem widersprechen.

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