Bei der Suche nach Entwicklungsmöglichkeiten der DDR im Herbst 1989 hatte Bernd Gehrke den Schwerpunkt auf das Politische gelegt, auf die radikaldemokratische Alternative zur konservativen Anschlusspolitik. Um eine vor allem ökonomische Alternative zu Kohls Politik ging es Jörg Roesler, dem vielleicht besten Kenner der DDR-Wirtschaftsgeschichte, in seinem 2014 erschienenen Aufsatz »Vom Partner zum Adoptivkind. Der Wandel in der Haltung der Bundesregierung zur DDR im Verlauf der Herbstrevolution«. Kohl sei, so heißt es dort, Mitte Januar 1990 von seinen bisherigen deutschlandpolitischen Vorstellungen abgerückt und habe gegen den Rat namhafter Fachleute auf eine rasche Vereinigung bei vorheriger Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion gedrängt. Verursacht worden sei sein Sinneswandel wohl durch die wachsende Instabilität der DDR und vor allem den Strom von Ost-West-Übersiedlern, der im Westen für wachsenden Unmut sorgte und damit seine Wiederwahl im Dezember 1990 gefährdete. Die Reformvorstellungen der Modrow-Regierung vom Februar 1990, die im Laufe von drei Jahren die DDR-Wirtschaft weltmarkttauglich machen wollte, kamen nicht zum Zuge.
Die DDR-Wirtschaft war Ende der 80er Jahre keinesfalls nur noch ein Haufen Schrott, wie manche meinen. 1988 war etwa die Hälfte der Maschinen und Anlagen nicht älter als zehn Jahre – im Westen waren es nur zwanzig Prozent mehr. Doch wichtig ist nicht nur der Umfang, sondern auch das technische Niveau der Neuanlagen, und so lassen diese zwei Zahlen ebenso wenig wie die jeweiligen Wachstums- und Akkumulationsraten die Lage der DDR-Wirtschaft hinreichend erkennen. Deutlich wird sie unter anderem anhand der Devisenrentabilität: Mussten 1980 2,40 Mark aufgewandt werden, um auf dem Weltmarkt 1 DM zu erwirtschaften, waren es 1989 schon 4,40 M. Das war in der Hauptsache Folge eines zunehmenden, aus eigener Kraft nicht mehr aufzuholenden Rückstands in der Produktivität und Produktqualität, der einherging mit sinkender Arbeitslust.
Modrows höchst anspruchsvoller Dreijahresplan hätte unter anderem, um die Ausfuhr zu fördern und den Binnenmarkt zu schützen, einen dieser Rentabilität entsprechenden Ost-West-Wechselkurs von etwa 4:1 bis 5:1 verlangt – so ein von Jörg Roesler andernorts zitierter bundesdeutscher Experte. Vor allem aber brauchte man viel Geld aus dem Westen, mehr als eine Billion Mark auf alle Fälle, und ein kräftiges Anpacken überall im Lande. Zumindest die Kapitaleigner im Westen hatten aber wenig Interesse, auf dem Absatzmarkt Ost eine Konkurrenz heranzuziehen. 1992 haben sie hier nur gut 30 Milliarden DM investiert; oft war es für sie gewinnbringender, Ostbetriebe, selbst wenn sie entwicklungsfähig waren, stillzulegen und die Kapazität der eigenen Firmen besser auszulasten. Bedrohlich war auch der enorme Verlust an Arbeitskräften, die westwärts zogen – doch das hätte die BRD, wie der Autor meint, erschweren können, indem man, einem Vorschlag Lafontaines folgend, den Übersiedlern nicht mehr die sozialen Rechte der Altbürger zuerkannt hätte. Unter all diesen Voraussetzungen wäre die Ost-Arbeiterschaft aber vermutlich nicht ans Werk, sondern auf die Straße gegangen – für Einheit spätestens morgen früh. Vielleicht hätte man sie im Anschluss an Forderungen unter anderem aus dem Neuen Forum mit größeren Rechten zur Mitsprache im Betrieb motivieren können? Doch Alternativen zu den innerbetrieblichen Herrschaftsverhältnissen in der BRD spielten, folge ich Jörg Roeslers Text, in Modrows Dreijahresplan keine Rolle. Wahrscheinlich wären den Belegschaften im Osten so aber wenigstens Erfahrungen wie der massenhafte Rausschmiss erspart geblieben. Dass daraus nichts wurde, lag wohl weniger an Kohl als vielmehr am Hegemonialinteresse des BRD-Kapitals und an der Westorientierung eines Großteils der DDR-Arbeiterschaft.
In ganz anderer Absicht als Bernd Gehrke und Jörg Roesler knüpfen zwei unlängst im Freitag erschienene Beiträge an die eben erwähnten Erfahrungen an, »Andere Wende« von Karsten Krampitz und »Vergessene Lebenswege« von Katrin Rohnstock (Nr. 34 bzw. 39/2017). Krampitz geht dabei familiengeschichtlich vor: Für seine Eltern, beides kleine Leute, seien die 90er Jahre die schwersten ihres Lebens gewesen – die Mutter, Nachtwache in einem Kinderheim, und der Vater, SED-Mitglied, Chefredakteur einer Betriebszeitung, verloren Arbeit und Wohnung; Verbitterung und Alkoholismus waren die Folge. Aber wer hat denn diese Redakteure damals ihres Postens enthoben? In der Regel die kleinen Leute, die Arbeiter, die diese Zeitungen in eigene Hände nehmen wollten. Menschen wie seine Eltern, so Krampitz weiter, tauchten »in der Erinnerungspolitik nicht oder nur verzerrt auf«. Er zitiert die britische Historikerin Mary Fulbrook: Die Sozialgeschichte der DDR sei, so schreibt sie in »Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR« (Übersetzung von Karl Nicolai), weitgehend allein im Hinblick auf politische Maßnahmen des Regimes und den Widerstand des Volkes dagegen dargestellt worden. Seine Folgerung: »Seit 27 Jahren wird das Leben in der DDR also absichtlich so erzählt, dass neun von zehn Menschen sich nicht wiederfinden [sic!].« Bestand das Volk hier zu neunzig Prozent aus kleinen Funktionären? Zudem hat Mary Fulbrook für ihr Buch auf eine Vielzahl alltagsgeschichtlicher Arbeiten zurückgegriffen, die Literatur aber mit einer Ausnahme nur bis zum Jahre 2003 erfasst. Wie kommt Krampitz da auf 27 Jahre? Auch fallen mir auf Anhieb mehrere Bücher ein, deren Autoren die sogenannten kleinen Leute keinesfalls außer Acht lassen: Wolfgang Englers »Die Ostdeutschen« zum Beispiel, Dorothee Wierlings »Geboren im Jahre 1«, Renate Hürtgens Arbeiten zur betrieblichen Sozialgeschichte.
Ausgangspunkt der Überlegungen Katrin Rohnstocks sind die AfD-Erfolge im Osten: Dauernde Kränkung habe sich in Wut entladen; es fehlten Erinnerungsmuster, die den Lebenswegen hier gerechter werden als bisher. Im herrschenden Geschichtsbild vom DDR-Alltagsleben habe man die Erzählungen von ein paar Oppositionellen in den Mittelpunkt gestellt; man halte sich in Politik und Medien an eine durch Westsicht geprägte DDR-Geschichte. Was denn, kam die DDR-Opposition etwa aus dem Westen? Und was haben die oben genannten Bücher mit Oppositionserzählungen zu tun? Die Folgen der Deindustrialisierung seien nicht untersucht worden, die Suizide, der Alkoholismus. Zum Alkoholismus gibt es aber zumindest eine aussagekräftige Studie, und die Suizidrate ist von 1990 bis 1992 zwar geringfügig gestiegen, lag jedoch immer noch unter der von 1989, der niedrigsten in der Geschichte der DDR. Obendrein seien Rentenansprüche nicht anerkannt worden – welche, sagt sie sicherheitshalber nicht. Krampitz und Rohnstock wollen, so scheint mir, nicht aufklären, sondern Ressentiments wecken, auf dass wir Ostler zusammenrücken, solidarisch sind auch mit denen, die im Herbst 1989 vom Volke entmachtet wurden – denn gelitten haben wir doch alle. Nee danke.
Läuft es also bestens in Sachen DDR-Geschichte? Keinesfalls. Zwar sind hier ganz unterschiedliche Kräfte am Werk, doch was etwa das Bonner Haus der Geschichte in seiner herzlich schlechten DDR-Ausstellung in der Berliner Kulturbrauerei zeigt, die eigentlich den Titel »Siegerblick« tragen müsste, hat auf das DDR-Bild der meisten sicherlich mehr Einfluss als alle klugen Bücher und Broschüren. Deutlich werden müsste in diesem Bild die Vielschichtigkeit des Lebens im Osten, die Vielfalt der Lebens- und Erlebensweisen, ohne dabei stehenzubleiben. Deutlich werden müssten Wesenszüge, Entwicklungen und vor allem auch jene Entwicklungsmöglichkeiten der DDR, wie sie etwa im Verfassungsentwurf des Rundes Tisches zu finden sind.
Der erste Teil von »Erbschaft jenes Herbstes« erschien in Ossietzky 24/2017.
Die DDR-Wirtschaft war Ende der 80er Jahre keinesfalls nur noch ein Haufen Schrott, wie manche meinen. 1988 war etwa die Hälfte der Maschinen und Anlagen nicht älter als zehn Jahre – im Westen waren es nur zwanzig Prozent mehr. Doch wichtig ist nicht nur der Umfang, sondern auch das technische Niveau der Neuanlagen, und so lassen diese zwei Zahlen ebenso wenig wie die jeweiligen Wachstums- und Akkumulationsraten die Lage der DDR-Wirtschaft hinreichend erkennen. Deutlich wird sie unter anderem anhand der Devisenrentabilität: Mussten 1980 2,40 Mark aufgewandt werden, um auf dem Weltmarkt 1 DM zu erwirtschaften, waren es 1989 schon 4,40 M. Das war in der Hauptsache Folge eines zunehmenden, aus eigener Kraft nicht mehr aufzuholenden Rückstands in der Produktivität und Produktqualität, der einherging mit sinkender Arbeitslust.
Modrows höchst anspruchsvoller Dreijahresplan hätte unter anderem, um die Ausfuhr zu fördern und den Binnenmarkt zu schützen, einen dieser Rentabilität entsprechenden Ost-West-Wechselkurs von etwa 4:1 bis 5:1 verlangt – so ein von Jörg Roesler andernorts zitierter bundesdeutscher Experte. Vor allem aber brauchte man viel Geld aus dem Westen, mehr als eine Billion Mark auf alle Fälle, und ein kräftiges Anpacken überall im Lande. Zumindest die Kapitaleigner im Westen hatten aber wenig Interesse, auf dem Absatzmarkt Ost eine Konkurrenz heranzuziehen. 1992 haben sie hier nur gut 30 Milliarden DM investiert; oft war es für sie gewinnbringender, Ostbetriebe, selbst wenn sie entwicklungsfähig waren, stillzulegen und die Kapazität der eigenen Firmen besser auszulasten. Bedrohlich war auch der enorme Verlust an Arbeitskräften, die westwärts zogen – doch das hätte die BRD, wie der Autor meint, erschweren können, indem man, einem Vorschlag Lafontaines folgend, den Übersiedlern nicht mehr die sozialen Rechte der Altbürger zuerkannt hätte. Unter all diesen Voraussetzungen wäre die Ost-Arbeiterschaft aber vermutlich nicht ans Werk, sondern auf die Straße gegangen – für Einheit spätestens morgen früh. Vielleicht hätte man sie im Anschluss an Forderungen unter anderem aus dem Neuen Forum mit größeren Rechten zur Mitsprache im Betrieb motivieren können? Doch Alternativen zu den innerbetrieblichen Herrschaftsverhältnissen in der BRD spielten, folge ich Jörg Roeslers Text, in Modrows Dreijahresplan keine Rolle. Wahrscheinlich wären den Belegschaften im Osten so aber wenigstens Erfahrungen wie der massenhafte Rausschmiss erspart geblieben. Dass daraus nichts wurde, lag wohl weniger an Kohl als vielmehr am Hegemonialinteresse des BRD-Kapitals und an der Westorientierung eines Großteils der DDR-Arbeiterschaft.
In ganz anderer Absicht als Bernd Gehrke und Jörg Roesler knüpfen zwei unlängst im Freitag erschienene Beiträge an die eben erwähnten Erfahrungen an, »Andere Wende« von Karsten Krampitz und »Vergessene Lebenswege« von Katrin Rohnstock (Nr. 34 bzw. 39/2017). Krampitz geht dabei familiengeschichtlich vor: Für seine Eltern, beides kleine Leute, seien die 90er Jahre die schwersten ihres Lebens gewesen – die Mutter, Nachtwache in einem Kinderheim, und der Vater, SED-Mitglied, Chefredakteur einer Betriebszeitung, verloren Arbeit und Wohnung; Verbitterung und Alkoholismus waren die Folge. Aber wer hat denn diese Redakteure damals ihres Postens enthoben? In der Regel die kleinen Leute, die Arbeiter, die diese Zeitungen in eigene Hände nehmen wollten. Menschen wie seine Eltern, so Krampitz weiter, tauchten »in der Erinnerungspolitik nicht oder nur verzerrt auf«. Er zitiert die britische Historikerin Mary Fulbrook: Die Sozialgeschichte der DDR sei, so schreibt sie in »Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR« (Übersetzung von Karl Nicolai), weitgehend allein im Hinblick auf politische Maßnahmen des Regimes und den Widerstand des Volkes dagegen dargestellt worden. Seine Folgerung: »Seit 27 Jahren wird das Leben in der DDR also absichtlich so erzählt, dass neun von zehn Menschen sich nicht wiederfinden [sic!].« Bestand das Volk hier zu neunzig Prozent aus kleinen Funktionären? Zudem hat Mary Fulbrook für ihr Buch auf eine Vielzahl alltagsgeschichtlicher Arbeiten zurückgegriffen, die Literatur aber mit einer Ausnahme nur bis zum Jahre 2003 erfasst. Wie kommt Krampitz da auf 27 Jahre? Auch fallen mir auf Anhieb mehrere Bücher ein, deren Autoren die sogenannten kleinen Leute keinesfalls außer Acht lassen: Wolfgang Englers »Die Ostdeutschen« zum Beispiel, Dorothee Wierlings »Geboren im Jahre 1«, Renate Hürtgens Arbeiten zur betrieblichen Sozialgeschichte.
Ausgangspunkt der Überlegungen Katrin Rohnstocks sind die AfD-Erfolge im Osten: Dauernde Kränkung habe sich in Wut entladen; es fehlten Erinnerungsmuster, die den Lebenswegen hier gerechter werden als bisher. Im herrschenden Geschichtsbild vom DDR-Alltagsleben habe man die Erzählungen von ein paar Oppositionellen in den Mittelpunkt gestellt; man halte sich in Politik und Medien an eine durch Westsicht geprägte DDR-Geschichte. Was denn, kam die DDR-Opposition etwa aus dem Westen? Und was haben die oben genannten Bücher mit Oppositionserzählungen zu tun? Die Folgen der Deindustrialisierung seien nicht untersucht worden, die Suizide, der Alkoholismus. Zum Alkoholismus gibt es aber zumindest eine aussagekräftige Studie, und die Suizidrate ist von 1990 bis 1992 zwar geringfügig gestiegen, lag jedoch immer noch unter der von 1989, der niedrigsten in der Geschichte der DDR. Obendrein seien Rentenansprüche nicht anerkannt worden – welche, sagt sie sicherheitshalber nicht. Krampitz und Rohnstock wollen, so scheint mir, nicht aufklären, sondern Ressentiments wecken, auf dass wir Ostler zusammenrücken, solidarisch sind auch mit denen, die im Herbst 1989 vom Volke entmachtet wurden – denn gelitten haben wir doch alle. Nee danke.
Läuft es also bestens in Sachen DDR-Geschichte? Keinesfalls. Zwar sind hier ganz unterschiedliche Kräfte am Werk, doch was etwa das Bonner Haus der Geschichte in seiner herzlich schlechten DDR-Ausstellung in der Berliner Kulturbrauerei zeigt, die eigentlich den Titel »Siegerblick« tragen müsste, hat auf das DDR-Bild der meisten sicherlich mehr Einfluss als alle klugen Bücher und Broschüren. Deutlich werden müsste in diesem Bild die Vielschichtigkeit des Lebens im Osten, die Vielfalt der Lebens- und Erlebensweisen, ohne dabei stehenzubleiben. Deutlich werden müssten Wesenszüge, Entwicklungen und vor allem auch jene Entwicklungsmöglichkeiten der DDR, wie sie etwa im Verfassungsentwurf des Rundes Tisches zu finden sind.
Der erste Teil von »Erbschaft jenes Herbstes« erschien in Ossietzky 24/2017.
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