Gegen die Mauern des Kapitalismus
In Mexiko halten Zapatistas zweiten kritischen Wissenschaftskongress ab und gedenken des Aufstandes von 1994
San Cristóbal, Chiapas. In einem Tross von Kleingruppen erreichen wir morgens die autonome »Universität der Erde« am
Rande der zweitgrößten Stadt des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. Wie immer geht es gelassen und sehr gut
organisiert zu, wenn die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) zu einem Treffen aufruft.
Wir besuchen den zweiten kritischen Wissenschaftskongress »ConCiencias« (etwa: Wissenschaften mit Bewusstsein) mit dem
Thema »Die Wissenschaften gegen die Mauer«; gemeint sind die vielfältigen ausbeutenden und ausschließenden
Mechanismen des kapitalistischen Systems. 51 Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Frankreich, Kanada, Mexiko,
Österreich, Uruguay und den USA beschäftigen sich an vier Tagen kapitalismus- und patriarchatskritisch mit
naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Agrarökologie, Astrophysik, Astronomie, Biologie, Kosmologie, Ökologie, Bodenkunde,
Physik, Genetik, Geophysik, Mathematik, Medizin, Mikrobiologie, Neurowissenschaften, Optik und weiteren Fachbereichen.
Passend zum jüngst deutlich verschärften Sicherheitsgesetz, das den Militärs einen Freibrief für den Einsatz im Inneren wie in
einer Diktatur gibt, beschreibt die Chemie-Ingenieurin Fabiola Méndez äußerst faktenreich die exponentiell zunehmende
Zusammenarbeit von Wissenschaften unterschiedlichster Fachbereiche und Militärs und kommt zu dem Schluss: »Die
kapitalistische Hydra bereitet sich auf ihre Verteidigung vor. Dagegen müssen wir solidarische Wissenschaften setzen.« Viele
Beiträge fordern mehr Kollektivität in der Wissenschaft, klare Linien gegen das herrschende System, mehr Ethik, mehr
Interdisziplinarität, den Bruch mit dem akademischen Elfenbeinturm und konkrete Schritte, wie die Gründung antikapitalistischer
Institute, um dies voranzubringen.
Neben den 100 zapatistischen Frauen und 100 Männern, die als Delegierte aus ihren Gemeinden teilnehmen und die neuen
Informationen später vor Ort weitergeben sollen, nehmen knapp 900 Zuhörerinnen und Zuhörer aus unterschiedlichen Ländern
teil.
Arturo, Lehrer aus Argentinien, hält das Treffen für wichtig: »Ich war schon beim ersten ConCiencias und einigen Vortragenden
ist es tatsächlich gelungen, die Fragen der zapatistischen Delegierten vom vergangenen Jahr gut zu beantworten, wie zum
Beispiel Remy Freissart aus Frankreich.« Freissart erläuterte in seinem Vortrag »Für eine rebellische und autonome Medizin«,
wie Bakteriophagen Antibiotika ersetzen können, um Parasiten zu bekämpfen und unterstrich, dass die entsprechenden Mittel
leicht herzustellen seien.
Nadja, Studentin aus den Niederlanden, ist zum ersten Mal auf einem zapatistischen Treffen: »Ich bin total geflasht vom
Kongress. Allein der Ort, die Universität der Erde, was die Jugendlichen hier alles lernen können: Autos schrauben, Soziologie,
Nähen, Agrarökologie, Computerbedienung, Musikinstrumente spielen etc. Die Mehrheit der Themen finde ich gut, einige sehr
gut. Ein paar Beiträge waren leider klassische Uni-Vorträge, da wurde zu schnell gesprochen und viele Begriffe wurden
vorausgesetzt.«
Diana, Biologin aus Mexiko-Stadt, betont: »Dass die junge Generation in der EZLN diesen Raum geöffnet hat, ist für mich eine
unglaubliche Möglichkeit! Ich kann Leute aus vielen Teilen der Welt kennenlernen und diskutieren, wie wir die Wissenschaften
immer mehr in den Kampf einbeziehen - gerade angesichts des neuen Gesetzes zur Biodiversität, dass den Konzernen Tür
und Tor für Biopiraterie und den Einsatz von Gentechnik öffnet.«
Abgerundet werden die Tage durch politisch-analytische und teils humoristische Einlassungen von Subcomandante Galeano
(ehemals Subcomandante Marcos, d. Red.) sowie durch Reden von zapatistischen Frauen aus den fünf Einflusszonen der
EZLN, in denen sie die Auswirkungen von Kapitalismus und Patriarchat geißeln und selbstbewusst auf das bisher Erreichte im
rebellischen Gebiet verweisen.
Den größten Beifall erhält der Beitrag der EZLN-Comandantas Jessica, Esmeralda, Lucía und Zenaida: »Wir wissen gut, dass
das schlechte System uns nicht nur als menschliche Wesen ausbeutet, unterdrückt, beraubt und verachtet; es unterdrückt,
beraubt, verachtet und beutet uns zusätzlich als Frauen, die wir sind, aus. Jetzt ist es noch schlimmer, denn nun ermorden sie
uns weltweit. Die Mörder - die immer das System mit seinem Macho-Gesicht verkörpern - stört es nicht, dass sie uns
umbringen. Sie werden dafür von Polizisten, Richtern, Medien und den schlechten Regierungen - all denjenigen dort oben, die
auf Kosten unserer Schmerzen das sind, was sie sind - gedeckt, unsichtbar gemacht und sogar belohnt.« Unter großem Jubel
kündigten sie das »Erste
internationale politische, künstlerische, sportliche und kulturelle
Treffen der Frauen, die kämpfen« für
kommenden März an.
Zum Jahreswechsel feierten Tausende Zapatistas und Sympathisant*innen in ihren selbstverwalteten Hauptsitzen den 24.
Jahrestag ihres »Krieges gegen das Vergessen«, der am 1. Januar 1994 - zeitgleich mit dem Inkrafttreten des neoliberalen
Freihandelsabkommens NAFTA zwischen Kanada, Mexiko und den USA - begonnen wurde. Subcomandante Moisés schloss in
Oventik mit den Worten: »Wir sind uns sicher. Wenn die Menschen sich organisieren und kämpfen, werden wir das erreichen,
was wir wollen, was wir verdienen: unsere Freiheit.«
* Luz Kerkeling, Chiapas
Alle Beiträge auf Spanisch: http://radiozapatista.org/
kapitalismus.html
Quelle: Sozialistische Tageszeitung neues deutschland / 04.01.2018 / Seite 8
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