Misereor 22.8.2017
Gewaltsames „Verschwindenlassen“: Straflosigkeit ist Symptom und Ursache
2014 verschwanden bei einer Demonstration im
mexikanischen Staat Guerrero 43 Studenten spurlos. Auch fast
drei Jahre später sind die Hintergründe noch immer nicht
aufgeklärt. Seither sorgt das Phänomen
des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ national und
international für Empörung. Im Interview spricht Dr. Rainer
Huhle, Mitglied des Expertenausschusses der Vereinten Nationen
zur Umsetzung der „UN-Konvention gegen Verschwindenlassen“, über
den schwierigen Kampf gegen das Verbrechen.
Bekannt geworden ist diese Art von Verbrechen durch die
Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre, nun scheint das
Verschwindenlassen wieder massiv Praxis zu sein. Haben Sie eine
Erklärung für den Anstieg der Fälle?
Dr. Rainer Huhle: Grundsätzlich ist bei solchen übergreifenden
Vergleichen Vorsicht geboten. Was wir über das Verschwindenlassen
von Personen wissen, hängt auch stark davon ab, ob die Menschen in
der Lage sind, diese Verbrechen zu erkennen und anzuklagen. Was
etwa in einigen afrikanischen oder asiatischen Ländern passiert
oder geschehen ist, bekommen wir häufig kaum mit. Lateinamerika
dagegen hat schon sehr viel länger eine Kultur des Kampfes gegen
die Straflosigkeit solcher schweren Menschenrechtsverletzungen
entwickelt. Sie sind allerdings, anders als in den „klassischen“
Militärdiktaturen, in unübersichtlichen Bürgerkriegssituationen
mit oft mehr als zwei beteiligten Akteuren und unklaren
Verantwortlichkeiten sehr viel schwerer zu benennen.
Einige der Länder, in denen die meisten Menschen
verschwinden, sind wie Mexiko Demokratien und haben
rechtsstaatliche Systeme. Wieso ist trotzdem nicht nur die Zahl
der Taten hoch, sondern auch die Straflosigkeit in diesen
Fällen?
Häufige oder durchgehende Straflosigkeit von Verbrechen wie dem
Verschwindenlassen ist zugleich deren Symptom und Ursache. Sie
verweist auf schwerwiegende Defizite solcher Staaten.
Straflosigkeit in großem Umfang ist kein Versehen, sondern
verweist auf eine mehr oder weniger subtile Komplizenschaft von
Verbrechern und Staatsorganen, die viele Facetten annehmen kann.
Korruption und Einschüchterung können dabei ebenso eine Rolle
spielen wie gemeinsame Interessen. Sind solche Systeme erst einmal
verfestigt, sind sie nur schwer wieder aufzulösen. Auch aufrechte
Polizisten oder Richter können dann kaum noch etwas ausrichten.
Und anders als gegen Militärdiktaturen mit ihren sichtbaren
Zeichen undemokratischen Machtmissbrauchs lässt sich dagegen auch
sehr viel schwieriger mobilisieren.
Unser Partner CADHAC
aus Mexiko hat in einer schwierigen Situation erreicht,
dass der Staat zumindest minimal reagieren muss; in einigen
Fällen wird nun ermittelt. Dies scheint auch in Mexiko die
absolute Ausnahme zu sein. Sie selbst überprüfen eine Reihe von
Staaten für die Umsetzung der UN Konvention. Gibt es Staaten,
die diese Art von Verbrechen erfolgreich bekämpft haben und gibt
es bestimmte Voraussetzungen, um dies zu erreichen?
Das hartnäckige und mutige Insistieren von
zivilgesellschaftlichen Organisationen wie CADHAC auf einer
Veränderung der Situation, gepaart mit der klugen Nutzung der
Spielräume, die die verantwortlichen staatlichen Institutionen
trotz allem noch öffnen, ist sicher ein guter Weg. Aber schon
innerhalb Mexikos, und erst recht in anderen Ländern, variieren
die Handlungsspielräume für solche Initiativen stark, so dass es
keine Patentrezepte geben kann. Trotzdem sind Erfahrungen – und
Erfolge – von Organisationen wie CADHAC bedeutsam und sollten
genau angeschaut werden. Auch im UN-Ausschuss stehen wir immer vor
der Frage, was wir am Ende unserer Analyse der Situation in einem
Land dem betreffenden Staat empfehlen sollen. Gute Gesetze,
unabhängige Justizorgane, rechtsstaatlich kontrollierte
Sicherheitsorgane und eine Bereitschaft zur Anerkennung der
Probleme sind Mindestvoraussetzungen, um das Verschwindenlassen zu
bekämpfen. Aber sie müssen in jedem Umfeld konkret ausgestaltet
werden. Eine ebenso entscheidende Voraussetzung, eine aktive
informierte Zivilgesellschaft, können wir vom Staat nicht fordern.
Wohl aber, dass er die Voraussetzungen gewährleistet, dass sich
diese aktive, informierte Gesellschaft entfalten kann und dass
deren Sprecherinnen und Sprecher nicht verfolgt werden.
Was muss auf internationaler Ebene passieren, um diese
Verbrechen zu beenden? Wie kann mehr Druck auf die Täter und
ihre Unterstützer gemacht werden? Was können nichtstaatliche
Organisationen wie MISEREOR in Europa tun und was jeder einzelne
Bürger?
Das berühmte „naming and shaming“, also die Verhältnisse und
gegebenenfalls auch die Verantwortlichen beim Namen zu nennen,
damit Druck für Veränderung aufgebaut wird, ist weiterhin richtig
und wichtig. Aber in komplexen Situationen, wo jeder die
Verantwortung auf andere schiebt, verliert dieses klassische
Instrument der Menschenrechtsbewegung an Wirkung. Umso wichtiger
wird meines Erachtens die Unterstützung und Begleitung derjenigen,
die sich für die Respektierung der Menschenrechte im eigenen Land
einsetzen. Diesen Sommer war der mexikanische Künstler Alfredo
López mit seinem Projekt „Spuren der Erinnerung“ in Deutschland
unterwegs. Er begleitet seit Jahren die Familienangehörigen von
Verschwundenen, sammelt ihre Geschichten, ihre Wünsche – und ihre
Schuhe. Die Ausstellung dieser Schuhe mit den auf den Sohlen
eingravierten Botschaften macht nicht nur das riesige Problem des
Verschwindenlassens in Mexiko sichtbar, sondern auch diejenigen,
die gegen alle Widerstände nicht nachlassen, dagegen anzukämpfen.
Solche Menschen und Projekte gilt es zu unterstützen, denn ohne
sie wird sich nichts verändern.
Das Interview führte Stefan Ofteringer, Berater für
Menschenrechte bei MISEREOR.
Zur Person:
Rainer Huhle, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler mit den Arbeitsschwerpunkten sowie zahlreichen Publikationen zu den Themen Menschenrechte, Erinnerungspolitik und Lateinamerika. Er war mehrere Jahre beruflich in Lateinamerika im Bereich Menschenrechte tätig. Rainer Huhle ist Vorstandsmitglied des „Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V.”“; von 2003-2015 war er stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Er ist Dozent des Masterstudiengangs „Human Rights“ an der Universität Erlangen-Nürnberg und Vizepräsident des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen von Personen.
Rainer Huhle, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler mit den Arbeitsschwerpunkten sowie zahlreichen Publikationen zu den Themen Menschenrechte, Erinnerungspolitik und Lateinamerika. Er war mehrere Jahre beruflich in Lateinamerika im Bereich Menschenrechte tätig. Rainer Huhle ist Vorstandsmitglied des „Nürnberger Menschenrechtszentrum e.V.”“; von 2003-2015 war er stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Er ist Dozent des Masterstudiengangs „Human Rights“ an der Universität Erlangen-Nürnberg und Vizepräsident des UN-Ausschusses gegen das Verschwindenlassen von Personen.
Weitere Informationen
https://blog.misereor.de/2017/08/22/gewaltsames-verschwindenlassen-straflosigkeit-ist-symptom-und-ursache/?_ga=2.45328615.2145701478.1503918379-1680307276.1502958209Chiapas98 Mailingliste
JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider
Chiapas98@listi.jpberlin.de
https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen