Samstag, 19. August 2017

Warum verteidigst Du Erdogan?



Nachdem der „Brief eines türkischstämmigen Menschen in Deutschland an Außenminister Gabriel“ [1] mehr Aufmerksamkeit erzielt hat, als ich vermutet hatte, wurde ich mit privaten Anfragen überflutet, warum denn ausgerechnet ich die Politik Erdogans oder gar Erdogan selbst verteidigen würde. Jene, die mich zuvor kannten, wussten, dass ich ein Anhänger Imam Chameneis bin und die Befreiungstheologie der Islamischen Revolution im Iran unterstütze. Und jene, die mich nicht kannten, konnten das schnell herausfinden. 



Wie also kann es sein, dass ausgerechnet ich die Türkei unterstütze, fragten sich einige Anhänger Imam Chameneis. Manche Türkischstämmige, die mir in Facebook eine Freundschaftsanfrage zugeschickt hatten, zogen diese wieder zurück, nachdem sie recherchiert hatten, wer ich bin.

Die vorwurfsvollen Fragen werden gekoppelt an Zusatzfragen wie: Hast Du denn nicht gesehen, wie Erdogan in Syrien gegen den Iran gekämpft hat? Hast Du nicht gesehen, wie Erdogan die völlig friedlichen TV-Sender der Schiiten in der Türkei ausradiert hat? Hast Du nicht gesehen, wie Erdogan seine Politik wieder mit Israel versöhnt hat? Hast Du nicht den verschwenderischen Palast gesehen, in dem er lebt? Hast Du nicht gesehen, dass …? Hast Du nicht gesehen, wie …? Die Liste der Vorwürfe gegen die aktuelle Politik der Türkei scheint endlos zu sein.

Alle jene, die diese Fragen aufwerfen, sollten meine Wenigkeit nicht so drastisch unterschätzen. Ich versuche nach bestem Wissen und Gewissen die Dinge in dieser Welt zu verfolgen und bin mir durchaus bewusst, auf welche Seite ich mich mit einem so offenen Brief stelle und auch gegen wen. Allerdings bedarf es wohl der Erläuterung eines Grundprinzips im Islam, um dieses Verhalten zu verstehen. Im Islam sind die Mittel heilig! Und kein Ziel rechtfertigt jedes Mittel. Vielmehr sind die Mittel, die man verwendet, ebenfalls an moralische Prinzipien gekoppelt, die man gut kennen muss, bevor man in der Öffentlichkeit tätig wird.

Ein Grundprinzip des Islam ist, dass Geschwister ihre Meinungsunterschiede untereinander austragen und keine Familienfremden hinzuziehen, nur um die eigene Position zu stärken; selbst wenn man ohne die Externen verlieren würde! Im Osmanischen Reich, das ich aus verschiedenen Gründen nicht als islamisches Regierungssystem akzeptieren kann, lebten Muslime verschiedener Völker und Stämme ohne Grenzen miteinander. So lange ein Minimum an Zusammenhalt gegeben war, war das System stark nach außen. Die kapitalistisch-imperialistischen Kräfte des Westens haben das Gift des Nationalismus in die islamische Welt getragen, ein Gefühl, das der Islam nicht kennt. Dadurch haben sie Araber gegen Türken, Kurden gegen Türken, Araber gegen Kurden usw. aufgestachelt! Das Ergebnis war der Zerfall des Osmanischen Reiches, der Verlust jeglichen Islams für viele Jahrzehnte und die Demütigung durch Besatzer und Kolonialisten. Der damalige Fehler wird heute noch praktiziert von einigen palästinensischen Gruppen, die sich Hilfe von den USA erhoffen und einigen kurdischen Gruppen, die sich Hilfe von USA und Israel erhoffen. Das Ergebnis dieser falschen Hoffnung ist immer wieder Erniedrigung und Demütigung durch Imperialisten. Auch in der Türkei wird über Umwege versucht ein Gefühl zu etablieren, das den Islam relativiert. So ist für viele Muslime ihre Nationalflagge fast genau so heilig wie der Heilige Quran. Dabei ist jenes Nationalsymbol bei vielen Muslimen gerade einmal ein Jahrhundert alt und von Menschen gemacht, wohingegen der Heilige Quran das Wort Gottes ist. 

Ich bin Anhänger der Islamischen Revolution im Iran und vertrete die Befreiungstheologie des Islam. Zweifelssohne finde ich vieles, was die Politik der Türkei vor dem Putsch geprägt hat, falsch. Aber muss ich deshalb in die Öffentlichkeit gehen und den militärischen und ideologischen Gegnern des Islam und der Muslime Munition liefern? Ist das Grund genug, an der Seite der USA und Israels zu stehen, um den Islam zu bekämpfen? Auch einiges, was die amtierende iranische Regierung tut, finde ich nicht richtig. Soll ich das den Briten mitteilen? Die meisten Türken sind Muslime! Sie glauben an Gott, haben denselben Heiligen Quran, den auch ich Zuhause habe, sie beten und fasten und streben nach Wahrheit. Das gilt auch für viele türkische Christen, die anders sind als westlich-materialistische Christen. Zudem sind die Türken in der Türkei benachbart mit Kurden, sie sind benachbart mit Iran, Irak und Syrien. Die USA betrachten jene Länder hingegen ausschließlich als Ausbeutungsobjekte. Ist es da so verwunderlich, an wessen Seite ich stehe?

Der Islam lehrt mich ein Ideal. In diesem Ideal gibt es weder Türken noch Iraner noch Kurden noch Araber. In diesem Ideal gibt es Geschwister, die allesamt von dem gleichen Vater und von der gleichen Mutter abstammen. In meinem Ideal gibt es auch keine Grenzen, die mit einem Lineal auf Landkarten von Verbrechern gezogen worden sind. In meinem Ideal reise ich von Istanbul bis nach Islamabad auf dem Landweg, ohne jemals eine Grenze zu passieren. In meinem Ideal leben wir Muslime gemeinsam eine geschwisterliche Moral vor, die zum Vorbild für alle Menschen wird. Ja, in meinen Idealvorstellungen gibt es noch viele Träume, die so unendlich weit weg scheinen, dass ich dafür eher ausgelacht werden dürfte. Aber muss der Keim für das Ideal nicht heute eingepflanzt werden, damit meine Urenkel die Früchte ernten können?

Mein Ideal ist der Islam, nicht der USlam und nicht der Clown-Islam, den manche Westler uns Muslimen durch Vorbeter vorstellen wollen, die ihre Mitbeter fragen müssen, wie man betet. Nein, mein Ideal ist der Islam des Propheten Muhammad, der Gnade für die gesamte Schöpfung. Es ist mir bewusst, dass manch Anhänger Erdogans diesen Islam anders versteht als meine Wenigkeit. Aber das diskutiere ich bei geeigneter Gelegenheit mit ihm und nicht mit Vertretern einer westlichen Imperialpolitik, die den gesamten Islam bekämpfen, weil der Islam das einzige verbliebene Hindernis gegen ihre Weltmachtphantasien ist. Ich diskutiere unsere Unterschiede im internen Rahmen. Es mag sein, dass manche meiner Argumente überzeugen. Es mag sein, dass ich selbst von anderen Argumenten überzeugt werde. Es mag aber auch sein, dass ich manche meiner Argumente, von denen ich fest überzeugt bin, nicht vermitteln kann und die Gegenposition Überhand gewinnt. Dennoch würde ich niemals den Beistand von denen suchen, die den Islam hassen! Das ist die Lehre der Wahrheit, wie ich sie von allen Propheten bis zum Propheten Muhammad und seiner gesegneten Frau Chadidscha, von Imam Ali und Fatima, von Imam Hassan, Imam Hussein und der gesegneten Zaynab sowie von vielen anderen Vertretern der Wahrheit gelernt und verinnerlicht habe. Deshalb werde ich mich gegen jeden deutschen Außenminister stellen, der versucht Muslime zu demütigen! Schließlich muss jeder von uns sein Handeln vor Gott und seinem Gewissen rechtfertigen und nicht vor seinem Kritiker.

Bliebe noch die abschließende Frage, warum ich als deutscher Muslim ausgerechnet solch einen Text in Deutschland und in deutscher Sprache veröffentliche? Die Antwort darauf ist, dass es für mich in meinem Ideal nicht nur keine Türken und Araber als Unterscheidungsmerkmal gibt, sondern auch keine Deutschen. Deutschland ist meine Heimat und meine nichtmuslimischen Nachbarn sind Träger des Geistes Gottes in ihrem Herzen, selbst wenn sie es nicht wissen. Deutschland ist derzeit ein Spielball der Westlichen Welt und muss jedes Verbrechen der USA und Israels mittragen. Hingegen hat Deutschland eine historisch gewachsene Freundschaft zu Muslimen, die es gilt wiederzuerwecken, auch um Deutschland zu befreien. 

Als die Sowjetunion zusammengebrochen ist, haben viele Völker ein Fenster zur Befreiung gehabt. Leider haben die meisten es nicht genutzt und sind in den Rachen des westlichen Imperialismus gestürzt, denn sie waren nicht vorbereitet. Schon bald könnte es die USA in ihrer heutigen Form und Israel als Apartheidstaat nicht mehr geben. In jenem Zeitfenster der Befreiungsmöglichkeit würde ich gerne Deutschland an der Seite der friedliebenden Völker sehen, die durch ihre Tugenden zum Vorbild für andere werden können und nicht durch Macht und kulturelle Ausbeutung. Die Vorbereitungen für jenen Tag haben schon längst begonnen. Auch wir müssen uns vorbereiten. Und ich möchte ein Tropfen in dem Ozean der Befreiung sein, der sicherlich eines Tages kommen wird. Dann kann ich vielleicht von Delmenhorst bis Islamabad reisen, ohne eine Grenze passieren zu müssen. 

[1] Brief eines türkischstämmigen Menschen in Deutschland an Außenminister Gabriel

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