Freitag, 15. Juli 2016

Flexible Union mit europäischem FBI

Berlins Dominanz in der EU wird nun auch mehr oder weniger offiziell von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestätigt. Deutschland werde auch in Zukunft „eine zentrale, wenn nicht sogar eine noch wichtigere Rolle in der Europäischen Union spielen“, erklärt Juncker.

BELGIUM-EU-BRITAIN-DIPLOMACY

BERLIN
german-foreign-policy.com vom 27.06.2016 – Mit massivem Druck treibt Berlin nach dem Austritts-Referendum in Großbritannien die Neuformierung der EU voran. Unter dem Schlagwort „flexible Union“ werden erste Schritte zum Aufbau eines „Kerneuropa“ in die Wege geleitet; es entstünde eine EU, die von einem kleinen, fest zusammengeschweißten Kern geführt würde, dem sich wiederum die übrigen EU-Staaten als Mitglieder zweiter Klasse unterzuordnen hätten. Gleichzeitig fordern der EU-Parlamentspräsident und der Bundeswirtschaftsminister (beide SPD) eine geschlossene EU-Außenpolitik, eine schärfere Abschottung der EU-Außengrenzen und eine Verstärkung der inneren Repression inklusive des Aufbaus eines „europäischen FBI“. Die deutsche Kanzlerin hat für den heutigen Montag Frankreichs Präsidenten sowie Italiens Ministerpräsidenten nach Berlin geladen, um Vorabfestlegungen für den EU-Gipfel am morgigen Dienstag zu treffen; deutsche Kommentatoren sprechen von einem „neuen Direktorium“ der EU unter Berliner Führung. Parallel erhöht Berlin den Druck auf London; der Vorsitzende des EU-Ausschusses im Bundestag sagt ein neues schottisches Sezessionsreferendum voraus und fordert Schottlands schnelle Aufnahme in die EU. Während deutsche Politiker im Europaparlament Druck machen, um mit einer raschen Abwicklung des britischen EU-Austritts die Neuformierung der EU schnell über die Bühne bringen zu können, droht Kanzlerin Merkel zum wiederholten Mal, „Versöhnung und Frieden“ in Europa seien „alles andere als selbstverständlich“, sollten sich die Staaten Europas nicht mehr in die EU einfügen wollen.
Kerneuropa
Erste Vorbereitungen, einen Umbau der EU in Richtung auf eine „flexible Union“ beziehungsweise „Kerneuropa“ einzuleiten, hat Berlin bereits zu Jahresbeginn getroffen. Am 9. Februar kamen in Rom die Außenminister der sechs EU-Gründungsstaaten [1] zu einem exklusiven Treffen zusammen, um über die diversen aktuellen Krisen des Staatenbundes zu beraten. Das ungewöhnliche Format wurde damals nicht zuletzt als Kontrapunkt zur Visegrád-Gruppe [2] eingestuft, die sich vor allem mit Stellungnahmen gegen die Berliner Flüchtlingspolitik hervortat. Allerdings wurde in Rom nicht nur über die Flüchtlingspolitik, sondern bereits auch über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU diskutiert.[3] Die sechs Außenminister verwiesen in einer Gemeinsamen Erklärung ausdrücklich auf die „unterschiedlichen Integrationspfade“, die laut Vertrag von Lissabon in der EU eingeschlagen werden können – ein Hinweis auf die Option der „flexiblen Union“.[4] Erneut kamen die Außenminister der sechs Gründungsstaaten am 20. Mai im Schloss Val Duchesse südlich von Brüssel zusammen, diesmal erklärtermaßen, um über die Entwicklung der EU nach dem möglichen britischen Austritt zu beraten. Letzten Samstag trafen sie sich erneut. Diskussionsgrundlage war ein Papier, das der deutsche Außenminister gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen vorgelegt hatte und das wörtlich eine „flexible Union“ forderte.[5] Die Gemeinsame Erklärung, auf die sich die sechs Minister am Samstag einigten, spart den polarisierenden Begriff aus, umschreibt das gewünschte Kerneuropa jedoch inhaltlich: Man müsse „anerkennen“, heißt es, „dass es unter den Mitgliedstaaten mit Blick auf das Projekt der europäischen Integration unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt“.[6]
Der starke Mann hinter Juncker
Neben dem Bestreben, über das Gründungsstaaten-Format die Einigung auf die „flexible Union“ voranzutreiben, die vor allem von denjenigen Staaten abgelehnt wird, die zu Mitgliedern zweiter Klasse degradiert würden, macht Berlin auch auf anderen Ebenen Druck. Schon am 23. Mai ist ein erstes offizielles Treffen im Rahmen der EU-Kommission abgehalten worden, um Vorkehrungen für einen etwaigen Austritt Großbritanniens zu treffen.[7] Dazu eingeladen hatte der Kabinettschef von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der deutsche Jurist Martin Selmayr. Selmayr hatte von 2001 bis 2004 die EU-Vertretung der deutschen Bertelsmann AG geleitet und anschließend zunächst als Sprecher, dann als Kabinettschef der luxemburgischen EU-Kommissarin Viviane Reding gewirkt; über seinen Einfluss sagten Beobachter, Reding werde von manchen nur noch als „Puppe von Bauchredner Selmayr“ eingestuft.[8] Selmayr, der – so deutsche Medien – „starke Mann hinter Juncker“ [9], hatte zu dem Strategietreffen am 23. Mai nicht nur Vertreter der beiden Staaten nach Brüssel eingeladen, die ab Juli bzw. ab Januar 2017 die EU-Präsidentschaft innehaben – die Slowakei und Malta -, sondern auch den europapolitischen Berater der deutschen Kanzlerin, Uwe Corsepius, der als einer der wichtigsten europapolitischen Strategen Berlins gilt.[10]
Das neue Direktorium
Jenseits solch langfristiger Absprachen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für den heutigen Montag Frankreichs Präsidenten François Hollande, den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi und EU-Ratspräsident Donald Tusk zu Gesprächen über die Zukunft der EU nach dem Austritt Großbritanniens nach Berlin geladen. Ziel ist es, vorab wichtige Festlegungen für den EU-Gipfel am Dienstag zu treffen – nach dem Vorbild von Merkels Zusammenkünften mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy („Merkozy“), auf denen in den Jahren 2010 und 2011 die Weichen für das Vorgehen der EU in der Eurokrise gestellt wurden. Beobachter weisen einerseits darauf hin, dass Merkel neben Hollande auch Renzi eingeladen und damit Frankreichs Position offen zurückgestuft hat. Zugleich ist in den deutschen Medien von einem „neuen Direktorium“ der EU die Rede. Klar sei freilich: „Deutschland bleibt der wichtigste EU-Staat, politisch wie wirtschaftlich.“[11] Das „Direktorium“ dient damit faktisch – ganz wie damals die Treffen zwischen Merkel und Sarkozy – vor allem der Transmission deutscher Vorgaben in die EU-Mitgliedstaaten.
Die zentrale Rolle
Berlins Dominanz in der EU wird nun auch mehr oder weniger offiziell von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestätigt. Deutschland werde auch in Zukunft „eine zentrale, wenn nicht sogar eine noch wichtigere Rolle in der Europäischen Union spielen“, erklärt Juncker.[12]
Supranationale Repression
Parallel zu den Vorbereitungen auf eine Neuformierung der EU dringen führende deutsche Sozialdemokraten auf weitere Schritte zur politisch-ökonomischen Straffung des Staatenbundes bzw. seines Kerns.[13] So fordern Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in einem Positionspapier mit dem Titel „Europa neu gründen“ unter dem Schlagwort „ökonomisches Schengen“ einen Ausbau des EU-Binnenmarkts. Dabei müsse es etwa darum gehen, flächendeckend „zentrale“ Arbeitsmarktreformen durchzuführen. Gegen eine solche Arbeitsmarktreform erheben sich zur Zeit Massenproteste in Frankreich.[14] Die EU müsse zudem „stärker als bisher“ als „einheitliche regionale Ordnungsmacht auftreten“, fordern Gabriel und Schulz; dazu solle die EU-Außenpolitik „vergemeinschaftet werden“. Eine solche Vergemeinschaftung liefe angesichts der Berliner Dominanz über die EU weitgehend auf die globale Verfolgung deutscher Interessen durch Brüssel hinaus. Schließlich fordern die deutschen Sozialdemokraten den konsequenten Auf- und Ausbau supranationaler Repressionsstrukturen. So sollen die Apparate zur Abschottung der EU gegen Flüchtlinge systematisch gestärkt („effektive Sicherung der europäischen Außengrenzen“) und die Kooperation der Inlands-Repressionsbehörden intensiviert werden. Anzustreben sei zum Beispiel die Gründung eines „europäischen FBI“.
Projekt Abschreckung
Um andere EU-Staaten von etwaigen eigenen Referendumsplänen abzuschrecken, verstärkt Berlin den Druck auf London massiv. Die britische Regierung strebt, um unnötige Brüche zu vermeiden, eine gewissenhafte Vorbereitung und sorgfältige Durchführung der Verhandlungen an. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärt nun ultimativ, er „erwarte“ von der britischen Regierung, den Austrittsantrag bereits beim EU-Gipfel am kommenden Dienstag einzureichen. Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), fordert ein Ausscheiden Großbritanniens „innerhalb der geplanten Frist von zwei Jahren, besser sogar innerhalb eines Jahres“.[15] Brüssel hat bereits eine „Brexit Task Force“ und eine „Artikel 50 Task Force“ gegründet; letztere ist nach dem Artikel des Vertrags von Lissabon benannt, der den Austritt eines Staates aus der EU regelt. Vor allem aber fachen führende deutsche Politiker die schottischen Sezessionspläne an. „Die EU wird weiter aus 28 Mitgliedstaaten bestehen“, erklärt der Vorsitzende des Ausschusses für EU-Angelegenheiten im Deutschen Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), „denn ich rechne mit einem neuerlichen Unabhängigkeitsreferendum in Schottland, das dann Erfolg haben wird“. Krichbaum fordert: „Einen Aufnahmeantrag des EU-freundlichen Landes sollten wir schnell beantworten.“[16] Deutsche Medien fachen den schottischen Separatismus energisch an: Offen wie vielleicht noch nie seit 1945 wird die Zerschlagung eines westeuropäischen Staates aus der Bundesrepublik befeuert.
Krieg in Europa
Begleitend werden in Berlin Äußerungen laut, die kaum anders denn als indirekte Kriegsdrohungen verstanden werden können. „Auch wenn es für uns kaum noch vorstellbar ist“, dürfe man „nie vergessen“, dass „die Idee der europäischen Einigung eine Friedensidee“ gewesen sei, behauptet die deutsche Kanzlerin.[17] Die Äußerung entspricht weniger der historischen Realität [18] als vielmehr der üblichen Eigenwerbung der EU. Dennoch erklärt Merkel, „Versöhnung und Frieden“ seien innerhalb Europas sowohl jetzt als auch „für die Zukunft alles andere als selbstverständlich“. Diese Auffassung hat die Kanzlerin in den diversen Krisen der EU bereits mehrfach geäußert (german-foreign-policy.com berichtete [19]). Demnach ist das Potenzial der europäischen Staaten, mit ihren Streitkräften übereinander herzufallen, im Kern ungebrochen und kann entfesselt werden, sollten sie sich nicht mehr in die deutsch dominierte EU einfügen wollen.
Mehr zum Thema: Der erste Austritt.
[1] Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg.
[2] Der Visegrád-Gruppe gehören Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn an.
[3] EU-Gründerstaaten: „Europäische Dreifachkrise“ und „Herausfordernde Zeiten“. de.euronews.com 10.02.2016.
[4] Joint Communiqué. Charting the way ahead. An EU Founding Members’ initiative on strengthening Cohesion in the European Union. www.esteri.it 09.02.2016.
[5] Berlin und Paris schlagen „flexible EU“ vor. www.handelsblatt.com 24.06.2016.
[6] Gemeinsame Erklärung der Außenminister Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande am 25. Juni 2016.
[7] EU rüstet sich für Brexit-Ernstfall. www.spiegel.de 27.05.2016.
[8] Hendrick Kafsack, Werner Mussler: Die EU spricht deutsch. www.faz.net 26.06.2014. S. dazu Deutschland besonders nahe.
[9] Hendrick Kafsack: Der starke Mann hinter Juncker. www.faz.net 10.09.2014.
[10] S. dazu Unter der deutschen Rute (I).
[11] Nikolas Busse: Das neue Direktorium. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.06.2016.
[12] Juncker sieht starke Rolle für Deutschland. www.handelsblatt.com 25.06.2016.
[13] Sigmar Gabriel, Martin Schulz: Europa neu gründen. www.spd.de.
[14] S. dazu Der Preis der Deregulierung.
[15] EU-Parlamentspräsident Schulz fordert Austrittsantrag der Briten bis Dienstag. www.sueddeutsche.de 25.06.2016.
[16] Jacques Schuster, Daniel Friedrich Sturm: Und zurück bleiben die verwirrten Staaten von Europa. www.welt.de 26.06.2016.
[17] Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel zum Ausgang des Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union am 24. Juni 2016 in Berlin.
[18] Die „Einigung“ des europäischen Kontinents unter deutscher Dominanz gehörte bereits zu den deutschen Kriegszielen im Ersten Weltkrieg; damals sprach beispielsweise Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg von der Gründung eines „mitteleuropäischen Wirtschaftsverbands“. Auch im NS-Staat wurden entsprechende „Einigungs“-Strategien vertreten. Mehr dazu: Europas Einiger.
[19] S. dazu Eine Frage von Krieg und Frieden in EuropaDas Brecheisen als Führungsinstrument und Vom Krieg in Europa.

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