Elke Dangeleit
05.06.2016
Tausende von Häusern seien zerstört worden, Augenzeugen berichten von einer Hinrichtung von 20 Personen
Nusaybin (kurd.: Nisebin) ist eine mehrheitlich von
Kurden bewohnte Stadt direkt an der syrischen Grenze. In
Rojava/Nordsyrien liegt direkt hinter der Grenze die Stadt Qamishlo.
Zwischen Nusaybin und Qamishlo verläuft die Bagdadbahn. Mit der
willkürlichen Grenzziehung durch das Ankara-Abkommen 1921 zwischen
Frankreich und Türkei wurde die Stadt geteilt.
Nun ereigneten sich Nusaybin ähnliche
Menschenrechtsverletzungen wie in Cizre, wo in Kellern, die von
türkischen Militärs beschossen und in Brand gesetzt wurden, nahezu 100
Menschen bei lebendigem Leibe verbrannten. Dem kurdischen Zentrum für
Öffentlichkeitsarbeit, Civaka Azad, zufolge berichteten
Augenzeugen den kurdischen Nachrichtenagenturen Dicle (DIHA) und JINHA,
dass am 31. Mai mehr als 20 Menschen in der Nähe zur Grenze von
Qamishlo hingerichtet und ihre Leichname anschließend verbrannt worden
sein sollen. Eine Karte zeigt die letzten Ereignisse in Nusaybin.
Am späten Abend gegen 22 Uhr sollen die 20 Zivilisten in
die Nähe eines Friedhofs im Stadtteil "Yeni Mahalle" gebracht worden
sein. Dort wurden sie in drei Gruppen aufgestellt und ermordet. Die
Augenzeugen berichten, dass sie die Erschießung beobachten konnten, weil
eines der Fahrzeuge seine Scheinwerfer angelassen habe. Eigentlich
hätte die Erschießung im Dunklen erfolgen sollen, so die Mutmaßung eines
Augenzeugen, denn einer der anwesenden Polizisten hätte den Fahrer des
Fahrzeugs nach der Erschießung wegen der Beleuchtung der Szene
beschimpft.
Nach der Erschießung sollen die Leichname
aufeinandergestapelt und verbrannt worden seien. Der Tatort wurde bis
zum Morgengrauen bewacht. Am frühen Morgen soll nach Berichten ein Militärfahrzeug gekommen sein, um die letzten Beweise der Hinrichtung niederzubrennen.
Schon eine Woche vorher äußerte die Bürgermeisterin von
Nusaybin, Sara Kaya, die Befürchtung, es könne zu einem Massaker kommen.
Sie berichtete,
dass zwar 42 Zivilisten, Frauen, Kinder und Verletzte, aus der Stadt
geborgen werden konnten, es aber immer noch rund 50.000 Zivilisten in
der Stadt gäbe.
Bild: Civaka Azad
Nach wie vor ist es schwierig, überprüfbare
Informationen aus den kurdischen Gebieten zu bekommen, weil die
gleichgeschalteten türkischen Medien darüber nicht berichten. So ist man
auf Augenzeugenberichte, Fotos und Videoaufnahmen von Amateuren vor Ort
und von der anderen Seite der Grenze aus Qamishlo angewiesen. Auch der
HDP-Abgeordnete Ali Atalan wurde telefonisch von Augenzeugen informiert,
berichtet die Tageszeitung Özgür Gündem. Ali Atalan vermutet, dass
derartige Gräueltaten auf das Konto der Spezialeinheiten JITEM gingen,
die von der Regierung in die Region entsandt wurden.
Nach Civaka Azad
hatte schon 1993 der damals in Mardin (kurd.: Merdin) leitende
Kommandant Musa Çitil 13 Dorfbewohner außergerichtlich hinrichten
lassen. Die Gerichte sprachen ihn danach frei. Heute ist Musa Çitil
wieder für die türkische Gendarmarie in der Provinz Diyarbakir (kurd.
Amed) im Einsatz. Es wird behauptet, dass mit seiner Entsendung die
Hinweise auf erneute außergerichtliche Hinrichtungen gestiegen seien.
Der FDP-Politker Tobias Huch veröffentlichte auf seiner Facebook-Seite ein Video
aus Nusaybin mit dem Hinweis, dass nun offensichtlich M58 MICLIC
(Minenräumsprengketten mit C4-Sprengstoff) eingesetzt werden, um alle
Häuser systematisch zu zerstören und die Stadt - schlimmer noch als in
Cizre - dem Erdboden gleich zu machen. Nach Reuters hat das türkische
Militär Kampfjets eingesetzt.
Nach dem türkischen Militär seien 27 PKK-Kämpfer dabei getötet worden.
Nach dem türkischen Militär, das die Antiterror-Operation am Freitag beendete,
aber die Ausgangssperre fortsetzte, seien seit März 496 "Terroristen"
getötet, 508 Barrikaden entfernt, 52 Gräben gefüllt und 1.258
Sprengsätze zerstört worden (Bilder aus der zerstörten Stadt).
Beschuss der Stadt am 2. Juni. Screenshot aus dem Video von nusaybinarena
Die Bürgermeisterin berichtete der Tageszeitung "Yeni
Özgür Politika", dass bisher schätzungsweise 8.000 Gebäude zerstört
wurden, darunter auch historische Bauten. Selbst in Stadtteilen, in
denen es keine Gefechte gegeben habe, seien Gebäude angezündet und
zerstört worden. Der älteste Bazar von Nusaybin, Kaçakçılar Çarşısı, sei
abgebrannt und geplündert worden. Auch die Einkaufspassage Acatlar
Pasajı sei geplündert worden. Weiter berichtet sie, dass die Versorgung
der noch verbliebenen Bevölkerung sehr problematisch sei, da keine neuen
Lebensmittel in die Stadt kämen und die Vorräte aufgebraucht seien.
Menschen seien vor ihrer Haustür ermordet worden, Häuser über ihrem Kopf
zerstört worden. Leichen lägen auf der Straße.
Nusaybin war früher eine der bedeutendsten christlichen
Städte in der Region. Die antike Stadt Nisibis entstand um das 10
Jahrhundert vor Christus. Im Grenzbereich gibt es noch Ruinen
bedeutender historischer Gebäude der Aramäer. Bekannt ist der Heilige
Jakob von Nisibis, der dort um 338 n. Chr. Bischof war. Ein historisches
Gebäude ist die Kirche des Jakob von Nisibis. Ob auch sie mit zerstört
wurde, entzieht sich der Kenntnis der Autorin. Im März dieses Jahres verließ
jedoch der letzte Küster der Jakobskirche mit seiner Familie Nusaybin.
Er floh vor den Kämpfen. Das Schicksal der Kirche, die auf der
Vorschlagliste für das Weltkulturerbe steht, ist ungewiss. Von 363 bis
489 war Nusaybin auch Sitz der berühmten christlichen Schule von Edessa.
Für die aramäischen Christen hat Nusaybin von daher noch heute eine
wichtige Bedeutung.
Zu befürchten ist, dass die ganze Stadt abgerissen wird,
da sie direkt an der Grenze zu Qamishlo liegt. Zwar behauptet die
türkische Regierung, sie würde die zerstörten Stadtteile kurdischer
Städte wieder "modern" aufbauen, aber das ist im Fall Nusaybin zu
bezweifeln. Ein Wiederaufbau in Diyarbakir oder Cizre würde zudem einer
Gentrifizierung gleichkommen, da sich die kurdische Bevölkerung, die
bereits alles verloren hat, solche Häuser oder Wohnungen nicht leisten
könnte.
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