Sonntag, 28. Oktober 2018

Brasilien: Gottes Segen, Gespenster der Junta


Silas Lima denkt gerne zurück. An die Zeiten, als die Schüler ihren Lehrern noch gehorchten. Als man ohne Angst auf die Straße gehen konnte. Als es der Wirtschaft gut ging. Viel habe sich in Brasilien verändert, sagt Lima während der Regen auf das Blechdach trommelt. Am Sonntag wird er deshalb den Mann wählen, der Brasilien spaltet: Jair Messias Bolsonaro.
Ein tiefer Riss geht durch die brasilianische Gesellschaft: Freundschaften zerbrechen nach politischen Diskussionen, täglich kommt es zu Übergriffen, in sozialen Netzwerken tobt der Hass. Für viele findet am Sonntag die wichtigste Wahl in der Geschichte des Landes statt. Eine Zäsur wird erwartet, denn in den Umfragen für die Stichwahl führt der rechtsradikale Bolsonaro vor dem Kandidaten der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad.
Auch in Itaquera unterstützen viele den rechten Hardliner. Früher war der Stadtteil im äußersten Osten von São Paulo eine Hochburg der PT. Das größte Sozialbauprojekt der Mega-Metropole steht hier. Von Weitem sehen die Wohnblocks aus wie überdimensionale Bauklötze. Die Virginia Ferni ist eine enge, wuselige Straße am Rand der Cohab II, wie die Bewohner ihre Siedlung nennen. Kleine Geschäfte mit bunter Fassade wechseln sich ab mit Schönheitssalons und gekachelten Spelunken mit Plastiktischen und Spielautomaten. Aus einer Box vor einer Apotheke dröhnt laute Countrymusik, nebenan lässt sich ein Mann in einem winzigen Friseurladen einen Kurzhaarschnitt verpassen, während Händler auf einem Markt lauthals ihr Gemüse anpreisen.
Von dem unscheinbaren Haus mit der Nummer 1884 führt eine Treppe steil nach oben. Schon auf halbem Weg hört man wummernde Technobeats, Gestöhne und das Geklapper von Metall. Der Geruch von Schweiß liegt in der Luft. Seit zwei Jahren arbeitet Silas Lima - 32 Jahre alt, trainierter Körper, weiche Gesichtszüge - in dem mehrstöckigen Fitnessstudio. Glücklich sei er gewesen, als er den Job bekommen habe. Nach seiner Ausbildung als Fitnesstrainer war er erst einmal arbeitslos - so wie viele hier im Stadtteil. Ein Freund habe ihm den Job verschafft.
Früher habe Lima die PT gewählt. Sensationell sei die Zeit gewesen, als Luiz »Lula« Inácio da Silva Präsident war (2003 -2011). Doch als die Politikone von der technokratischen Dilma Rousseff abgelöst wurde, sei »der Zug entgleist«. Als dann noch ein gigantisches Korruptionsnetz ans Licht kam und eine schwere Wirtschaftskrise Brasilien heimsuchte, wuchs bei Lima die Wut auf die gesamte politische Klasse. So wie ihm geht es vielen Brasilianern.
Diese Unzufriedenheit nutzt Bolsonaro geschickt aus. Der Politiker aus Rio de Janeiro hat es geschafft, sich als Anti-Esta-blishment-Kandidat und Gegenpol zur korrupten Elite zu inszenieren. Und der Rechtsaußenpolitiker, den einige auch als klassischen Faschisten bezeichnen, versteht es, mit rassistischer, sexistischer und homophober Hetze die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Zu einer Abgeordneten sagte er einmal, dass sie es nicht verdiene, vergewaltigt zu werden, weil sie zu hässlich sei. Ein anderes Mal erklärte er, dass er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte. Mehrfach beschimpfte er schwarze Brasilianer und Indigene auf rassistische Weise. Lima meint: Einige Aussagen seien unglücklich, manchmal vergreife er sich im Ton. Dennoch: Bolsonaro sei der Einzige, der das Land wieder auf die richtige Spur bringen könne.
Insbesondere wegen seiner harten Hand gegen die Kriminalität werde er am Sonntag Bolsonaro wählen. Erst kürzlich hätten Verbrecher seinen Bruder mit gezogener Waffe überfallen. »Überall kann man heute ausgeraubt oder im schlimmsten Falle sogar ermordet werden«, sagt Lima und zeigt auf die angrenzenden Wohnblocks, die durch die breite Fensterfront des Fitnessstudios zu sehen sind. Gerade »Arbeiter« wie er würden unter der Gewalt leiden. So unterstützt er auch Bolsonaros Pläne, die Polizei aufzurüsten und die Bevölkerung zu bewaffnen. »Das wird die Verbrecher abschrecken.«
Darüber kann Mariel Rodrigues Conceição nur lachen. »So wird Brasilien ins Chaos gestürzt«, sagt die kleine, runde Frau, während sie auf einem Stuhl in ihrer Holzhütte herumwippt. Eigentlich ist Conceição eine fröhliche Frau, die viele Witze macht und gerne lacht. Wenn sie über Bolsonaro spricht, verdunkelt sich ihre Miene. »Im schlimmsten Fall droht mit ihm eine Rückkehr in die Diktatur« von 1964 bis 1985 wurde das riesige Land von einer brutalen Militärjunta beherrscht.
Conceição ist Mitglied der Wohnungslosenbewegung MTST. Seit einem Jahr wohnt sie in der besetzten Siedlung »Neues Palästina« im äußersten Süden von São Paulo. Nur selten verirren sich Bewohner der zentralen Stadtteile in diesen Teil der Megalopolis, wo die asphaltierten Straßen enden, die wenigsten Menschen eine Postadresse haben und man abends auch schon mal Schüsse hört.
Wer die Besetzung der MTST besuchen will, braucht vor viel Zeit. Vom Zentrum sind es zwei Stunden Fahrt, bei starkem Verkehr drei. Wie eine Bergbahn rattert der Bus die steilen Straßen hoch, vorbei an roten Backsteinhäusern, stinkenden Flüssen und Wänden mit Jesus-Graffitis. Auf den engen Straßen herrscht großer Betrieb. Ein Melonenverkäufer lädt vor einem Geschäft seine Ware ab, während die Sonne unbarmherzig auf den nackten Rücken eines Schrottsammlers knallt, der einen vollbepackten Handwagen geschickt durch den dichten Verkehr balanciert. Vor einem Hang stoppt der Bus. Auf einem Holzschild steht: »Besetzung Neues Palästina«. Ein mit Hütten und Plastikzelten übersäter Hügel ragt wie ein pickeliger Buckel in die Höhe, dahinter erstreckt sich ein Naturschutzgebiet wie ein grüner Teppich in die Ferne. Die Hochhaussilhouetten der 20-Millionen-Stadt lassen sich gerade noch am Horizont erahnen.
Vor fünf Jahren haben Tausende Familien das Gelände besetzt. Ihr Ziel: endlich in Würde leben. In São Paulo ist die Wohnungsnot groß. Die ständig steigenden Mieten können sich viele Bewohner nicht mehr leisten. Die Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße. So entstehen immer mehr Besetzungen. »Neues Palästina« ist ein Labyrinth aus Plastikzelten und Holzhütten. Mit seinen Schotterstraßen ähnelt die Besetzung einer kleinen Stadt. Es gibt Gemeinschaftsküchen, Biogärten, einen großen Versammlungsraum mit Bibliothek und sogar einen Fußballplatz.
Dennoch sei das Leben hier nicht einfach, sagt Conceição. Die Strom- und Abwasserversorgung ist improvisiert und falle oft aus. Bei starken Regenfällen laufen die Hütten manchmal mit Wasser voll. Ab und zu schaue auch mal die Polizei vorbei und mache Ärger. Aber sie sei eine »Kämpferin«. Schon immer habe sie sich durchgebissen.
Wie viele Bewohner der Vorstadt von São Paulo stammt Conceição aus dem Nordosten. Im dürren Hinterland des Bundesstaates Bahia sah sie jedoch keine Zukunft: »Dort verdient man in einem Monat so viel, wie hier an einem Tag.« Deshalb kam sie vor gut 20 Jahren nach São Paulo. Ihren Akzent hat sie bis heute behalten. Lange lief es ganz gut für Conceição. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebte sie in einem kleinen Haus unweit der Besetzung. Dann kam die Trennung, und ihr Mann verkaufte das Haus. Zusammen mit ihren Söhnen musste sie umziehen, lebte fortan zur Miete. Als sie arbeitslos wurde, konnte sie die hohe Miete nicht mehr zahlen. »Eine Freundin hat mir von der Bewegung erzählt, so kam ich hierher.«
Heute ist Conceição eine von rund 1000 Menschen, die hier dauerhaft leben. Ihr »kleines Paradies« ist eine dunkle, mit Plastikplanen abgedichtete Hütte unweit des Eingangs der Besetzung. In einer Ecke steht eine kleine Küche, auf einem Schrank neben Kinderfotos eine Nähmaschine. »Mein Hobby«, sagt die Aktivistin. Mittlerweile hat sie wieder einen Job. Fünfmal in der Woche arbeitet sie als Altenpflegerin in der Innenstadt. Fünf, manchmal auch sechs Stunden brauche sie für die Busfahrt jeden Tag. In den vergangenen Wochen sei es anders gewesen. Die Leute im Bus würden nun offen über Politik reden, oft käme es zu Streits. Dass arme Bewohner Bolsonaro unterstützen, kann sie nicht verstehen. »Wie kann man nur jemanden wählen, der offen gegen Frauen, Schwarze und Homosexuelle hetzt?«
Was sie am meisten schockiere? Einmal habe er auf einer Wahlkampfveranstaltung ein kleines Mädchen dazu gebracht, ihre Finger zu einer Pistole zu formen. Und auch die verbalen Angriffe des rechten Revolverhelden gegen ihre Bewegung machten ihr große Sorge. Conceição verschwindet im Schlafzimmer, kommt mit einem Smartphone zurück und startet ein Video. In seiner gewohnt cholerischen Art erklärt Bolsonaro darin, die MTST als terroristische Vereinigung einstufen zu lassen, falls er gewählt werde. Conceição schüttelt den Kopf. »Der ist doch verrückt.«
Für die Wohnungslosen steht viel auf dem Spiel. Die MTST ist mittlerweile die größte soziale Bewegung des Landes. Überall in Brasilien gibt es Besetzungen der MTST. Das ist nun alles in Gefahr, ist sich Conceição sicher. Wenn es die Bewegung nicht mehr geben sollte, weiß sie nicht, wo sie hin soll. Ein Plan B hat sie nicht.
Auch der Fitnesslehrer Lima aus Itaquera ist unzufrieden mit der Wohnsituation in seiner Stadt. Eine eigene Wohnung kann er sich nicht leisten, deshalb wohnt er immer noch bei seinen Eltern. Aber er finde es falsch, dass sich die Wohnungslosenbewegungen einfach Wohnraum nehmen. Auch die müssten sich schließlich an Gesetze halten. Der Ex-Militär Bolsonaro fasziniere ihn, weil er viele Dinge anders mache und Sachen direkt ausspreche. Lima meint: »In schwierigen Zeiten können Militärs unser Land am besten regieren.« Als die blutige Militärdiktatur im Jahr 1985 endete, war er zwar noch nicht geboren. Sein Vater meine aber, dass es Brasilien nie besser ging als während dieser Jahre. Und die Verfolgungen, die Folter, das staatliche Morden? Lima ist sich sicher: Das wird oft falsch dargestellt.
Trotz allem bezeichnet er sich als Demokrat. Alle sollten wählen können, wen sie wollen. Gewalt gegen Andersdenkende lehne er ab. Lima ist höflich, denkt nach, bevor er spricht. Von Morddrohungen, die Bolsonaro gegen politische Gegner ausgesprochen hat, habe er nichts mitbekommen. Aber viel werde falsch dargestellt, ist er sich sicher. »Die versuchen, sein Bild mit Fake News zu beschmutzen.« Die »Wahrheit« lese er auf seinem Smartphone.
Wie ein Großteil der Brasilianer bezieht Lima seine Informationen fast nur noch über die sozialen Netzwerke. Bei Facebook postet er selbst fleißig Fotos, schreibt Kommentare, setzt einen hochgestreckten Daumen unter die Beiträge seines Idols Bolsonaro. So funktioniert heute der Wahlkampf in Brasilien. Gerade WhatsApp ist zur wichtigsten Waffe der Rechten geworden. Über den Kurznachrichtendienst werden hartnäckig Falschinformationen in die Welt gesetzt - vor allem über die PT. Ein geplantes Programm der Partei zur Bekämpfung von Homophobie an Schulen wurde zur »Frühsexualisierung von Kindern« umgedichtet. Das kam auch bei Lima an. Er meint: »Haddad will mit seiner Genderideologie die Kinder sexualisieren. Das finde ich falsch.«
Dass Bolsonaro sich auf die Familie beziehe, finde er hingegen gut, ebenso seine Nähe zur Kirche. Früher sei Lima Katholik gewesen, bis ihn sein Cousin einmal zu einem evangelikalen Gottesdienst mitnahm. Dort habe er »einen spirituellen Halt« gefunden, nun gehe er regelmäßig zu den oft emotional gehaltenen Messen. Die ul- trakonservativen, evangelikalen Kirchen erleben gerade in den armen Vorstädten großen Zulauf: An fast jeder Straßenecke findet sich mittlerweile eine Kirche. Oft sind die Räume nicht größer als ein Wohnzimmer und nur mit ein paar Plastikstühlen und einer Musikanlage ausgestattet. Der Erfolg Bolsonaros ist ohne den enormen Einfluss der Evangelikalen nicht zu erklären. Sein Regime hätte für diese Gottes Segen.
Auch Conceição vertraut auf Gott. Dass andere Christen einen Mann wählen, der Folter befürwortet und unverhohlen Hass verbreitet, kann sie jedoch nicht verstehen. Sie tippt auf eine Bibel mit blauem Einband, die auf ihrem klapprigen Holztisch liegt: »Hier drin steht, dass man alle Menschen respektieren soll. Für mich ist Bolsonaro kein wahrer Christ.« Deshalb wird sie am Sonntag die 13 in den Wahlcomputer tippen - die Zahlenkombination für den PT-Kandidaten Fernando Haddad. Klar, die PT habe viele Fehler gemacht. Lange Zeit galt ihre Bewegung als eine der schärfsten linken Kritikerinnen der PT-Regierung. Doch jetzt müsse es erst einmal darum gehen, Bolsonaro zu verhindern. Und wenn er gewinnt? Für einen kurzen Moment schießen der sonst so fröhlichen Aktivistin Tränen in die Augen. Dann fängt sie sich wieder und sagt: »Wenn der Irre Präsident wird, müssen wir erst recht kämpfen.«

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