Sonntag, 28. Oktober 2018

Tempi passati (Frank Schumann)


Wo die Uckermark endet und die Feldberger Seenplatte beginnt (oder umgekehrt), liegt Warbende. Der schmale Weg dorthin windet sich zwischen Hügeln hindurch, erst holpert das Auto über Kastanien, dann übers Kopfsteinpflaster. Der Ortsname ist zwar seit Jahrhunderten in den üblichen Registern verzeichnet, aber viel mehr als die gegenwärtig vielleicht fünfzehn Anwesen werden es wohl nie gewesen sein. Zweimal im Jahr, im Juni und im September, lädt die Uckermark zu Besuch in »Offene Gärten«, wozu auch Parks und private Grünanlagen rechnen. Die meisten sind das ganze Jahr über öffentlich, also zugänglich. So auch der Guts-park Warbende. Das Gutshaus existiert nicht mehr: Die Ruine wurde Mitte der 1980er Jahre abgetragen. Allerdings werfen die riesigen Bäume des – von Lenné inspirierten – englischen Gartens noch immer ihre Schatten. Darunter sind solche auswärtigen Exoten wie die Gurken-Magnolie, der Tulpenbaum, eine schlitzblättrige Buche oder die Rotblühende Kastanie, deren Früchte aussehen wie Kiwi und frei von Stacheln sind. Und nicht zu vergessen: die fein geschnittenen Taxussäulen, die im Halbrund – zwei geöffneten Händen gleich – am Parkeingang stehen. Das war der sogenannte Pleasureground.

Dort, wo sich einst das Gutshaus erhob, ist eine Wiese. Auf der steht ein Campingstuhl und nahebei ein Tischchen mit einem kleinen Weinballon. Auf dessen Grund liegen einige Scheine, womit seine Funktion hinlänglich ausgewiesen ist. Auf dem Stuhl sitzt Siegfried Zimmermann, ein freundlicher und mitteilsamer Rentner. Er steht dem Kultur- und Heimatverein der Gemeinde Weggun vor. Auch Weggun gibt es nicht mehr. Die Gemeinde existierte ganze vier Jahre, dann ging sie nach diversen brandenburgischen Gebiets- und Verwaltungsreformen 2001 in der Großgemeinde Nordwestuckermark auf. Diese erstreckt sich auf mehr als 250 Quadratkilometern und ist damit größer als Frankfurt am Main. Doch im Unterschied zur Mainmetropole leben hier nur wenig mehr als viertausend Menschen. Die jungen ziehen fort, die alten sterben weg. Wie überall.

Weggun lebt virtuell im Vereinsnamen fort, wie Zimmermann lebhaft berichtet. Zwanzig aktive und sieben fördernde Mitglieder zählt ihr Kreis, der sich auch um den Gutspark Warbende kümmert. Ein kleines Kleinod, fürwahr, das Johann Springefeld in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anlegen ließ. Viel weiß man über den Rittergutsbesitzer nicht. Pfarrer Gerd Zellmer – inzwischen verstorben – fand nicht viel in den Kirchenbüchern für seine im Jahr 2000 erschienene Orts-chronik, die er anlässlich der urkundlichen Ersterwähnung Warbendes vor 625 Jahren zusammenstellte. An Springefelds Bruder Carl erinnert ein Grabstein am Rande des Parks. Der »Königl. Griechische Gestütsdirector u. Capitain« verstarb mit 58 Jahren beim Familienbesuch, der Landrat genehmigte damals seine Bestattung an eben diesem Orte.

1869 wechselte der Eigentümer des Ritterguts. Die Zarnekows wurden 1945 enteignet, im Haus neun Umsiedlerfamilien untergebracht und das Gutsland im Rahmen der demokratischen Bodenreform auf Neubauern verteilt. In den 1950er Jahren wurde der Feldweg in den Nachbarort befestigt: von den Anwohnern selbst, die die Steine von ihren Äckern holten und dort verlegten. Ende der 1960er erhielt der Ort eine zentrale Wasserversorgung, Ende der 1970er Jahre rief der Genosse Dorfschullehrer Otto Karg ein »Parkaktiv« ins Leben, das sich des inzwischen verwilderten Gutsparks annahm. 1982 feierte man das erste Parkfest, vier Jahre später das zweite. Mit maßgeblichem Engagement der LPG Fürstenwerder wurde auch die eingestürzte Parkmauer wieder aufgerichtet, an der sich heute das weißblaue Denkmalschutzschild findet. Fortan kamen Kommunal- und Kulturpolitiker aus der DDR auf Exkursion nach Warbende. Die Trias von Landschaft, Park und Geschichte lockte.

Nach der »Wende« wurde als Erstes der ambulante Handel aus Prenzlau eingestellt, die im Mai 1991 vollmundig angekündigte Errichtung einer Kurklinik (130 Arbeitsplätze) bereits zwei Monate später wieder abgesagt. Es folgten die damals überall im Osten übliche Straßenerneuerung und die Modernisierung der Ortslaternen – und 2001 erstmals wieder ein Parkfest: Dank der Initiative von Zimmermanns Kultur- und Heimatverein. Und seit 2013 beteiligt sich dieser mit dem Gutspark Warbende an den Tagen der »Offenen Gärten« in der Uckermark. Ein Besuch in der Abgeschiedenheit lohnte auch außerhalb dieses Datums, wie Zimmermann versicherte. Da hat er gewiss recht.

Wir fahren reichlich zwanzig Kilometer weiter durch die gewellte Landschaft, die an die Toskana erinnert. Wolfshagen verdankt seinen Namen tatsächlich den hier einst lebenden Wölfen. Mitte des 17. Jahrhunderts belehnte Brandenburgs Kurfürst den Freiherrn von Schwerin mit diesem Rittergut unweit von Woldegk. Dieser Otto stammte von einer Seitenlinie des weit verzweigten mecklenburgischen und pommerschen Adelsgeschlechts, er liegt aber nicht im Familiengrab auf dem dortigen Friedhof. Durch einen Spalt hinter der vergitterten Tür zur Gruft erspähe ich eine Tafel. Sie gilt einem Schwerin, der am 2. Februar 1943 in Stalingrad blieb.

Das Gutsdorf wurde von den Schwerins seit 1830 ausgebaut; es existieren heute an die vierzig Baudenkmale, was Wolfshagen zu einem Ort von nationaler kultureller Bedeutung macht. Wer aber weiß das schon? Kurios die hübsche neogotische Kirche, die 1858 eingeweiht und von der Amtskirche nicht gewollt wurde, weshalb sie im Privatbesitz der Schwerins verblieb und folgerichtig 1945 mit allen Ländereien und Wäldern enteignet wurde. Das Haus war zu DDR-Zeiten Kultur- und Gemeindezentrum, und auch heute finden dort gelegentlich Konzerte und Trauungen statt. Letztere höchst selten, auch hier erfolgt wie überall in der Region die Landflucht mangels Arbeit. Keine 300 Menschen wohnen noch im Dorf. Die LPG, mit etwa 200 Beschäftigten einst der größte Betrieb, überdauerte als Agrargenossenschaft. Die weiten Felder werden heute von einem halben Dutzend Landwirten bestellt. Kein Konsum, keine Kneipe: In Wolfshagen rastet niemand, man rast durch. Was ein Fehler ist.

Denn den Betreffenden entgeht Einzigartiges, darunter auch der von Lenné angelegte Park am Ufer des Haussees. Aus dem ursprünglichen französischen Garten machte er einen englischen Landschaftsgarten, in den er viele der vorhandenen Bauwerke und Denkmale einbezog oder neue errichten ließ. Ein Kunstdorf entstand. Eingebunden darin auch das Barockschloss, das in den letzten Kriegswochen von der Wehrmacht belegt war und dies nicht überlebte. Eine ältere Frau, die wir im Park beim Sammeln von Walnüssen trafen, meinte hingegen, polnische Zwangsarbeiter hätten es angesteckt, um sich für die auf der Domäne erlittene Drangsal zu rächen. Kann sein, es muss nicht so gewesen sein, es finden sich keine Belege für die mündlich überlieferte Nachricht.

Das barocke Schloss ist verschwunden – im Unterschied zur jenseits des Sees gelegenen Ruine der alten Blankenburg, deren Bergfried jüngst restauriert wurde. Wie die hübsche Fliesenbrücke auch, deren Bögen aus Feld- und Ziegelsteinen vor einem viergeschossigen Bau aus rotem Klinker elegant dahinschwingen. Das Haus, einst ein Speicher, weist viele kaputte Fenster auf, steht aber unter Denkmalschutz und soll demnächst restauriert werden. Die Ankündigung ist inzwischen schon einige Jahre alt.

Über die Brücke gelangt man zum Denkmal der Befreiungskriege 1813/15: Leipzig, Paris, Belle Alliance – Wilhelm Graf von Schwerin fiel am 18. Juni 1815 als preußischer Oberst in der Schlacht bei Waterloo, steht da in Eisen gegossen. Im Jahr zuvor war er unter Blüchers Kommando in Paris eingezogen und als Siegesbote nach Berlin entsandt worden. Dort traf er schon nach zehn Tagen mit der Meldung ein. Der Preußenkönig verlieh ihm das Eiserne Kreuz 1. Klasse, der Zar den Orden des Heiligen Wladimir und Habsburg den Österreichischen Leopold-Orden.

Das 1828 auf einem Hügel errichtete neugotische Backsteinmonument folgt dem Muster von Schinkels Nationaldenkmal für die Befreiungskriege auf dem Berliner Kreuzberg ...

Ohne Beispiel hingegen ist die Königssäule, die durch die B 198 vom Park abgetrennt ist und nunmehr auf einer Verkehrsinsel siebzehn Meter aufragt. Der Obelisk ist das einzige Denkmal in Deutschland, das an die Stein-Hardenberg’schen Reformen erinnert. Patriotisch, devot und demütig die Inschrift: »Sr. Majestaet dem Koenige Friedrich Wilhelm III. in tiefster Unterthaenigkeit gewidmet von Herrmann Graf Schwerin.« Und rückwärtig, ebenfalls in güldene Lettern gefasst, ist zu lesen: »Herrscher! Du fuehrtest dein Volk in Siegen aus verhaengnisvoller Nacht zum Lichte, und mit deiner Thaten Ruhm wird die Geschichte aller Welt und Zeiten Raum durchfliegen. Dieser Stein lass’ aber spaetste Enkel lesen, dass du deines Volkes Vater auch gewesen.«

Ach, bei so viel Schwulst lob ich mir den schlichten Findling im Park, zu dessen Füßen das Wort »Frieden« auf mehreren Platten in verschiedenen Sprachen zu lesen ist sowie der Spruch von Johann Gottfried Herder: »Nicht Krieg, sondern Friede ist der Naturzustand des unbedrängten menschlichen Geschlechts.« An dieser DDR-Hinterlassenschaft hat man bislang noch nicht Anstoß genommen, wohl aber an dem Denkmal in der Dorfmitte, das 1985 errichtet wurde. Vierzig Jahre zuvor galt auch in Wolfshagen »Junkerland in Bauernhand«, 21 Neubauernhöfe wurden damals eingerichtet. Und wenn man Geschichte in Zusammenhängen denkt, korrespondierte diese demokratische Bodenreform durchaus mit der Bauernbefreiung von 1807 der Reformer Stein und Hardenberg, sie war deren konsequente Vollendung. Beide Denkmale wie Vorgänge gehören folglich zusammen. Seit der Übernahme der DDR laufen jedoch Vereine wie die Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum/Bund der Neusiedler-Erben e. V. (ARE) Sturm. Das Relikt »postkommunistischer Glorifizierung und Geschichtsverfälschung« in Wolfshagen müsse weg, die Bodenreform sei Unrecht gewesen. Sie wollen »ihr« Land und »ihre« Wälder zurück. Bundesvorsitzender der ARE und Wortführer der »Enteigneten und Geschädigten« ist übrigens Manfred Graf von Schwerin, der sich der Sympathie von Andreas Kalbitz sicher sein kann. Der gebürtige Münchner Kalbitz ist Landesvorsitzender der AfD in Brandenburg und gilt als »stramm rechtsaußen«. Auf der Website der AfD-Landtagsfraktion posiert er bei einer Protestaktion in Potsdam gegen die Bodenreform an der Seite Schwerins. »Kalbitz sicherte der ARE e.V. die volle Unterstützung der Brandenburgischen AfD-Fraktion bei der Geltendmachung ihrer Rechte zu«, heißt es dazu.

So wächst denn zusammen, was zusammengehört.

Die Geschichte ist offen – wie Brandenburgs Gärten und Parks. Noch.

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