In der allergrößten Mehrzahl deutscher Medien wird der Krieg in Syrien bis heute als »blutige und brutale Reaktion« der syrischen Regierung auf die Proteste von friedlich für Bürgerrechte Demonstrierenden dargestellt. Die Bundesregierung spricht bis heute von einem »Bürgerkrieg«. Immer noch verschweigt man, dass bereits in den ersten Tagen bewaffnete Kämpfer die Proteste infiltrierten, obwohl Quellen wie etwa ein Dokument der Defense Intelligence Agency (DIA) aus dem August 2012 beweisen, dass die US-Geheimdienste über das massive Erstarken terroristischer Gruppen umfassend informiert waren und diese unterstützten.
Gekaperter Protest
Zu Beginn der Proteste im Frühjahr 2011 wurden unbestreitbar legitime Forderungen gestellt. Obwohl Baschar al-Assad eine – wenn auch zögerliche – politische Öffnung des Landes eingeleitet hatte, gab es immer noch über 15 Geheimdienste, die vielfach willkürlich agierten, folterten und verhafteten. Die Proteste waren zudem wirtschaftlich motiviert – die von den westlichen Industrienationen willkommen geheißene wirtschaftliche Öffnung des Landes nach der Machtübernahme Baschar al-Assads im Jahr 2000 hatte viele mittelständische Unternehmen und die Landbevölkerung ihrer Existenzgrundlage beraubt. Das Land-Stadt-Gefälle nahm zu, eine über Jahre anhaltende Dürreperiode tat ihr Übriges. Zugleich befürwortete eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur das gut ausgestattete und subventionierte Gesundheits- und Bildungssystem, sondern auch das säkulare politische System Syriens sowie die seit Jahrhunderten praktizierte friedliche Koexistenz zwischen den Konfessionen. Sie wollten keinen »Sturz des Systems« im Sinne des Wortes, und die Gefahr eines konfessionell gefärbten Bürgerkriegs bereitete ihnen Furcht. Die massiven Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und syrischer Muslimbruderschaft in den 1970er und 80er Jahren, in deren Rahmen die Muslimbrüder zahlreiche konfessionalistisch begründete Morde und Anschläge begangen hatten, waren noch allzu präsent. Diejenigen Syrer*innen, die in den ersten Tagen der Proteste mit friedlicher Absicht auf die Straße gingen, zogen sich schnell zurück, als Bewaffnete das Zepter übernahmen.
Die Stadt Darʿā im Süden Syriens, in der die ersten Proteste stattfanden, liegt weniger als fünf Kilometer von der Grenze zu Jordanien entfernt, wohin sich die meisten derjenigen Mitglieder der syrischen Muslimbruderschaft, die sich nicht in Deutschland und Großbritannien niederlassen konnten, zurückgezogen hatten. Sie schleusten Bewaffnete, die syrische Sicherheitskräfte angriffen, und Heckenschützen, die auf Protestierende schossen, ins Land. Die syrischen Geheimdienste reagierten entgegen der Anordnung des Präsidenten mit Gewalt. Die Türkei, die Golfstaaten, aber auch westliche Industrienationen rüsteten die kampfbereite Opposition massiv auf. Um ein »freies und demokratisches« Syrien ging es dabei kaum. Vielmehr hatte sich in den Wirren des »arabischen Frühlings« eine Gelegenheit eröffnet, handfeste geopolitische und geostrategische Interessen umzusetzen, wofür ein Sturz der Regierung Assad unumgänglich erschien.
Aus von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten geht hervor, dass konkrete Planungen zum Sturz Baschar al-Assads seit langem im Gange waren. Vorgeschlagen wird darin unter anderem, einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu schüren. Der ehemalige US- und NATO-General Wesley Clark berichtete 2007 in einem Vortrag, ein hochrangiger Offizier des Vereinigten Generalstabs habe ihm bereits kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gesagt, die USA würden innerhalb von fünf Jahren sieben Staaten zerstören: Irak, Libanon, Libyen, Iran, Somalia, Sudan und Syrien. Es folgten unter anderem die US-Invasion im Irak, der Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen und die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri, welche als Druckmittel für den Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon eingesetzt wurde. Der israelische Krieg 2006 gegen den Libanon zielte auf die Entwaffnung oder gar Zerschlagung der Hisbollah ab, endete aber für Israel als Niederlage. Die Hisbollah gilt genau wie Damaskus und Teheran als eines der größten Hindernisse für eine US-amerikanische Dominanz in der Region.
Schachbrett Syrien
Allein aufgrund seiner geographischen Lage gilt Syrien zwar in der Definition von Zbigniew Brzeziński nicht als geostrategischer Akteur, wohl aber als geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. Wer die Kontrolle über Syrien innehat, kontrolliert Grenzen mit dem Libanon, dem Irak, mit Jordanien, der Türkei und Israel. Würde das Land von einer israelfreundlichen Regierung regiert, wäre eine der Grenzen des bis heute wichtigsten US-Verbündeten in der Region gesichert. Vor allem aber wäre die Verbindung zwischen Hisbollah und Iran und damit der Weg für Waffenlieferungen unterbrochen. Neben dem Iran würden auch Russland und China daran gehindert, einen nennenswerten Einfluss in der Region auszuüben.
Die oft vorgebrachte Behauptung, Israel präferiere einen Machterhalt Assads, weil es an der israelisch-syrischen Waffenstillstandslinie von 1974 bis zum Beginn des Konflikts in Syrien keine nennenswerten Auseinandersetzungen gab, hat spätestens die Aufdeckung der israelischen Syrienpolitik seit 2011 widerlegt. Zwar hat die israelische Armee in den ersten Jahren wenig direkte militärische Angriffe durchgeführt und grundsätzlich nicht die Verantwortung für diese übernommen. Das militärische Eingreifen Israels in den Krieg hat aber sowohl qualitativ als auch quantitativ beständig zugenommen. Die israelische Armee gab unlängst zu, in den letzten 18 Monaten über 200 Luftangriffe auf Syrien geflogen zu haben. Im Rahmen des Projekts »gute Nachbarschaft« unterstützten zudem israelische Regierung und Armee die radikale syrische Opposition auf dem Golan von Beginn des Konflikts an sowohl mit humanitären Hilfslieferungen als auch mit Waffen und der medizinischen Versorgung verletzter Kämpfer in israelischen Krankenhäusern. Israels Armee bemühte sich darüber hinaus aktiv um die Einrichtung einer 40 Kilometer weit auf syrisches Territorium reichenden »Pufferzone«, mit der freilich das Gebiet jenseits des völkerrechtlich klar zu Syrien gehörenden besetzten Golan gemeint ist.
Es gibt drei Hauptgründe, warum Israel an einem Regime Change in Syrien interessiert ist: Erstens haben weder Hafiz noch Baschar al-Assad den syrischen Anspruch auf die gesamten Golanhöhen, die Israel 1981 annektiert und in der Folge völkerrechtswidrig besiedelt hat, jemals aufgegeben. Israel hat 2013 Ölbohrungen in dem Gebiet »genehmigt«. Zweitens unterstützt die syrische Regierung palästinensische Parteien und Widerstandsgruppen, und in Syrien lebt etwa eine halbe Million palästinensischer Flüchtlinge. Sie genießen nahezu sämtliche Bürgerrechte mit Ausnahme des Wahlrechts und der Staatsbürgerschaft, denn die syrische Regierung hält bis heute an ihrem Rückkehrrecht in ihre Heimat fest. Drittens empfindet Israel das seit 1979 bestehende strategische Bündnis zwischen Syrien und Iran, zu dem seit Beginn der 80er Jahre auch die libanesische Hisbollah gehört, als akute Gefahr. Die syrische Einbindung in die »Achse des Widerstands« mit Iran und Hisbollah macht die Regierung Assad zum Feind nicht nur Israels, sondern auch seiner westlichen und regionalen Verbündeten.
Der Weg nach Iran führt sowohl für die US-Armee und die NATO, als auch für Israel über Syrien. Zum Verhängnis wurden Damaskus zudem die engen Bündnisse mit Russland und China, die in der Region besondere geopolitische, geostrategische und wirtschaftliche Interessen haben. Die Regierung Assad war damit ein gewichtiger Störfaktor für die Eurasien-Strategie der USA und ihrer Verbündeten. Die Absage Syriens an eine Pipeline, die Erdgas von Katar nach Europa transportieren und damit den Marktanteil Russlands in Europa deutlich verringern sollte, aus dem Jahr 2009 und die Verkündung der Absicht, stattdessen gemeinsam mit Teheran über eine Pipeline nach Europa zu exportieren, macht allein noch keinen Krieg. Das Interesse, die in der Region vorhandenen Ressourcen zu kontrollieren und China und Russland von diesen fernzuhalten, aber ist eine wichtige Motivation für die Aggression gegen Syrien. Eine selbstbewusste und unabhängige syrische Regierung ist unerwünscht und gemeinsam mit ihren Verbündeten eine ernstzunehmende Bedrohung für die Dominanz insbesondere der USA. Laut einer Studie des US-amerikanischen Instituts für strategische Studien des Army-College sind die seit dem Jahr 2000 im levantinischen Becken, welches die Offshore-Territorien Israels, der palästinensischen Gebiete, Zyperns, der Türkei, Ägyptens, Syriens und des Libanon umfasst, entdeckten beachtlichen Erdgas- und Ölvorkommen von »enorme[r] ökonomische[r] und geostrategische[r] Bedeutung«.
Unterschiedliche Ebenen der Intervention
»Assad muss weg« war die Devise, auf die sich die Regierungen der westlichen Industriestaaten 2011 unisono festlegten. Eine politische Lösung wollten sie nicht. Stattdessen brachen sie diplomatische Kontakte ab und befeuerten den Konflikt massiv und auf unterschiedlichsten Ebenen. Die Syrer*innen, die auch als der Krieg bereits in vollem Gange war, laut Umfragen zu mindestens 70 Prozent hinter dem Präsidenten standen, wurden in Geiselhaft genommen. Die USA verschärften ihre bereits bestehenden Sanktionen gegen Syrien, die EU zog 2012 nach. Der UN-Sonderberichterstatter für negative Auswirkungen von einseitigen Zwangsmaßnahmen, Idriss Jazaïry, erklärte im Mai 2018 nach einem Besuch in Syrien, die Sanktionen gegen das Land hätten die humanitäre Krise massiv verschärft.
Die Regierungen der Türkei, der Golfstaaten und der westlichen Industrienationen unterstützten die Opposition politisch, finanziell, logistisch und mit Waffenlieferungen und setzten zugleich eine massive propagandistische Kampagne gegen die syrische Regierung in Gang. Während des Kriegs begangene Massaker, die wie das in al-Hula 2012 der bewaffneten Opposition nachgewiesen werden konnten, lasteten sie weiter der syrischen Regierung an. Angriffe mit Chemiewaffen, die erstaunlicherweise immer dann erfolgten, wenn die syrische Armee kurz vor der Einnahme der angegriffenen Orte stand, ordneten sie Assad zu, selbst wenn alle Indizien gegen seine Urheberschaft sprachen und radikale Gruppen wie die Nusra-Front nachweislich spätestens im Jahr 2013 über chemische Kampfstoffe verfügten. Dies wurde auch fortgesetzt, nachdem die OPCW der syrischen Regierung die Vernichtung ihrer gesamten Bestände an Chemiewaffen bescheinigt hatte, die diese im Rahmen eines zwischen Moskau und Washington ausgehandelten Deals freiwillig übergeben und unter internationaler Aufsicht hatte vernichten lassen. Ähnlich selektiv war der Blick auf die Rückeroberung Ost-Aleppos in der zweiten Hälfte des Jahres 2016. Politik und Medien verschwiegen alle Gesprächs- und Amnestieangebote, die die syrische und russische Seite gemacht hatten, genau wie die humanitären Korridore, die sie eingerichtet hatten und die Feuerpausen, die sowohl die syrische als auch die russische Armee und ihre Verbündeten ganz im Gegensatz zur bewaffneten Opposition einhielten. Dies erinnerte daran, wie bereits die umfassenden Reformen, die die Regierung kurz nach Beginn der Proteste 2011 eingeleitet hatte, von hiesigen Medien und Politik komplett ignoriert worden waren. Während sie Moskau und Damaskus bezichtigten, Zivilist*innen im von der Nusra-Front beherrschten Ost-Aleppo mutwillig »abzuschlachten«, galt die mit unzähligen zivilen Opfern verbundene Befreiung im irakischen Mossul unter Beteiligung der US-Armee als Anti-Terror-Operation. Eine besondere Rolle spielen bei der Dämonisierung der syrischen und russischen Regierung die vom Westen massiv unterstützten »Weißhelme«, die sich selbst »syrischer Zivilschutz« nennen und denen mehrfach sowohl die Fälschung und Zweckentfremdung von Bild- und Videomaterial als auch die Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen und gar die Beteiligung an brutalsten Ermordungen von Zivilisten nachgewiesen wurden.
Fast seit Beginn des Krieges setzen die westlichen Industrienationen Hilfsgüter, auf die die Bevölkerung dringend angewiesen ist, als Instrument der politischen Kriegführung ein. Die westliche Politik, Hilfsleistungen ausschließlich denjenigen zukommen zu lassen, die zufällig unter Kontrolle der Opposition und nicht der Regierung leben, verstößt gegen das Neutralitätsprinzip der humanitären Hilfe und muss als humanitäre Intervention bezeichnet werden. Auch der Wiederaufbau des Landes darf nach dem Willen westlicher Regierungen nicht in Gebieten unterstützt werden, die von der Regierung Assad kontrolliert werden, beziehungsweise erst, nachdem »Assad geht«.
Gescheiterter Regime Change und doch kein Frieden
Der Syrien-Krieg ist nie ein Bürgerkrieg gewesen, und er entwickelte sich nicht erst mit der völkerrechtswidrigen Intervention der USA seit 2014 und dem militärischen Eingreifen Russlands, das am 30. September 2015 auf Bitten der syrischen Regierung und damit völkerrechtskonform erstmals Luftangriffe in dem Land flog, zu einem Weltordnungskrieg. Der Syrienkrieg hat die Karten gründlich neu gemischt – zu Ungunsten der USA und ihrer Verbündeten in der Region. Russland, China, Iran und die Hisbollah hingegen konnten ihren Einfluss steigern. Mit der Rückeroberung Aleppos Ende 2016 galt der Krieg als zu ihren Gunsten entschieden. Russland verfügt neben dem Marinestützpunkt in Tartus inzwischen auch über einen Luftwaffenstützpunkt in Latakia. Moskau hat seine Beziehungen zu vielen Staaten in der Region, so unter anderem auch zu Saudi-Arabien und Israel, deutlich ausgebaut und sich dadurch auch wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Zudem ist das Bündnis zwischen Syrien, Iran und der Hisbollah in den Jahren des Krieges eben nicht geschwächt, sondern gestärkt worden. Erst im August haben Damaskus und Teheran ein umfassendes Verteidigungsabkommen geschlossen.
Zugleich aber hat die US-Armee inzwischen vor allem im kurdisch kontrollierten Norden 25 Militärbasen errichtet und kontrolliert 70 Prozent der syrischen Energiequellen. Der jüngst erfolgte versehentliche Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die syrische Armee, bei dem 15 russische Soldaten ums Leben kamen und für den die russischen Generäle Israel verantwortlich machen, ist nur ein Beispiel für die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und Russland und seinen Verbündeten andererseits. Die israelische Armee hatte einen Luftangriff auf Latakia geflogen und sich ohne vorherige Absprache im Schutz des russischen Flugzeugs bewegt, weshalb es ungewollt zu dessen Abschuss durch die syrische Armee kam. Anfang 2018 waren bei einem US-Angriff bei Deir es-Sor bereits fünf russische Staatsbürger getötet worden.
Der Regime Change ist gescheitert, aber zur Ruhe kommen wird Syrien noch lange nicht. Gefragt nach einer Lösung der Krise sagen viele Syrer*innen, man solle sie einfach in Frieden und Respekt miteinander leben lassen, so wie sie es seit jeher getan hätten. Ohne die massive äußere Einmischung wäre der Krieg nie entstanden oder hätte zumindest nicht dieses Ausmaß erreicht. Dass sich an der Einmischung in naher Zukunft etwas ändert, ist leider äußerst unwahrscheinlich.
Leicht bearbeitete Fassung der Rede »Syrien als geopolitischer Spielball der Nationen und ihr Einfluss vor Ort« von Wiebke Diehl anlässlich der Ossietzky-Matinee »Was tun gegen den drohenden Krieg!?« am 3. Oktober. Wiebke Diehl studierte Islamwissenschaft und Politikwissenschaft in Berlin und Damaskus und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag. Sie publiziert regelmäßig zum Nahen und Mittleren Osten.
Gekaperter Protest
Zu Beginn der Proteste im Frühjahr 2011 wurden unbestreitbar legitime Forderungen gestellt. Obwohl Baschar al-Assad eine – wenn auch zögerliche – politische Öffnung des Landes eingeleitet hatte, gab es immer noch über 15 Geheimdienste, die vielfach willkürlich agierten, folterten und verhafteten. Die Proteste waren zudem wirtschaftlich motiviert – die von den westlichen Industrienationen willkommen geheißene wirtschaftliche Öffnung des Landes nach der Machtübernahme Baschar al-Assads im Jahr 2000 hatte viele mittelständische Unternehmen und die Landbevölkerung ihrer Existenzgrundlage beraubt. Das Land-Stadt-Gefälle nahm zu, eine über Jahre anhaltende Dürreperiode tat ihr Übriges. Zugleich befürwortete eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur das gut ausgestattete und subventionierte Gesundheits- und Bildungssystem, sondern auch das säkulare politische System Syriens sowie die seit Jahrhunderten praktizierte friedliche Koexistenz zwischen den Konfessionen. Sie wollten keinen »Sturz des Systems« im Sinne des Wortes, und die Gefahr eines konfessionell gefärbten Bürgerkriegs bereitete ihnen Furcht. Die massiven Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und syrischer Muslimbruderschaft in den 1970er und 80er Jahren, in deren Rahmen die Muslimbrüder zahlreiche konfessionalistisch begründete Morde und Anschläge begangen hatten, waren noch allzu präsent. Diejenigen Syrer*innen, die in den ersten Tagen der Proteste mit friedlicher Absicht auf die Straße gingen, zogen sich schnell zurück, als Bewaffnete das Zepter übernahmen.
Die Stadt Darʿā im Süden Syriens, in der die ersten Proteste stattfanden, liegt weniger als fünf Kilometer von der Grenze zu Jordanien entfernt, wohin sich die meisten derjenigen Mitglieder der syrischen Muslimbruderschaft, die sich nicht in Deutschland und Großbritannien niederlassen konnten, zurückgezogen hatten. Sie schleusten Bewaffnete, die syrische Sicherheitskräfte angriffen, und Heckenschützen, die auf Protestierende schossen, ins Land. Die syrischen Geheimdienste reagierten entgegen der Anordnung des Präsidenten mit Gewalt. Die Türkei, die Golfstaaten, aber auch westliche Industrienationen rüsteten die kampfbereite Opposition massiv auf. Um ein »freies und demokratisches« Syrien ging es dabei kaum. Vielmehr hatte sich in den Wirren des »arabischen Frühlings« eine Gelegenheit eröffnet, handfeste geopolitische und geostrategische Interessen umzusetzen, wofür ein Sturz der Regierung Assad unumgänglich erschien.
Aus von Wikileaks veröffentlichten Dokumenten geht hervor, dass konkrete Planungen zum Sturz Baschar al-Assads seit langem im Gange waren. Vorgeschlagen wird darin unter anderem, einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu schüren. Der ehemalige US- und NATO-General Wesley Clark berichtete 2007 in einem Vortrag, ein hochrangiger Offizier des Vereinigten Generalstabs habe ihm bereits kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gesagt, die USA würden innerhalb von fünf Jahren sieben Staaten zerstören: Irak, Libanon, Libyen, Iran, Somalia, Sudan und Syrien. Es folgten unter anderem die US-Invasion im Irak, der Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen und die Ermordung des libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri, welche als Druckmittel für den Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon eingesetzt wurde. Der israelische Krieg 2006 gegen den Libanon zielte auf die Entwaffnung oder gar Zerschlagung der Hisbollah ab, endete aber für Israel als Niederlage. Die Hisbollah gilt genau wie Damaskus und Teheran als eines der größten Hindernisse für eine US-amerikanische Dominanz in der Region.
Schachbrett Syrien
Allein aufgrund seiner geographischen Lage gilt Syrien zwar in der Definition von Zbigniew Brzeziński nicht als geostrategischer Akteur, wohl aber als geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. Wer die Kontrolle über Syrien innehat, kontrolliert Grenzen mit dem Libanon, dem Irak, mit Jordanien, der Türkei und Israel. Würde das Land von einer israelfreundlichen Regierung regiert, wäre eine der Grenzen des bis heute wichtigsten US-Verbündeten in der Region gesichert. Vor allem aber wäre die Verbindung zwischen Hisbollah und Iran und damit der Weg für Waffenlieferungen unterbrochen. Neben dem Iran würden auch Russland und China daran gehindert, einen nennenswerten Einfluss in der Region auszuüben.
Die oft vorgebrachte Behauptung, Israel präferiere einen Machterhalt Assads, weil es an der israelisch-syrischen Waffenstillstandslinie von 1974 bis zum Beginn des Konflikts in Syrien keine nennenswerten Auseinandersetzungen gab, hat spätestens die Aufdeckung der israelischen Syrienpolitik seit 2011 widerlegt. Zwar hat die israelische Armee in den ersten Jahren wenig direkte militärische Angriffe durchgeführt und grundsätzlich nicht die Verantwortung für diese übernommen. Das militärische Eingreifen Israels in den Krieg hat aber sowohl qualitativ als auch quantitativ beständig zugenommen. Die israelische Armee gab unlängst zu, in den letzten 18 Monaten über 200 Luftangriffe auf Syrien geflogen zu haben. Im Rahmen des Projekts »gute Nachbarschaft« unterstützten zudem israelische Regierung und Armee die radikale syrische Opposition auf dem Golan von Beginn des Konflikts an sowohl mit humanitären Hilfslieferungen als auch mit Waffen und der medizinischen Versorgung verletzter Kämpfer in israelischen Krankenhäusern. Israels Armee bemühte sich darüber hinaus aktiv um die Einrichtung einer 40 Kilometer weit auf syrisches Territorium reichenden »Pufferzone«, mit der freilich das Gebiet jenseits des völkerrechtlich klar zu Syrien gehörenden besetzten Golan gemeint ist.
Es gibt drei Hauptgründe, warum Israel an einem Regime Change in Syrien interessiert ist: Erstens haben weder Hafiz noch Baschar al-Assad den syrischen Anspruch auf die gesamten Golanhöhen, die Israel 1981 annektiert und in der Folge völkerrechtswidrig besiedelt hat, jemals aufgegeben. Israel hat 2013 Ölbohrungen in dem Gebiet »genehmigt«. Zweitens unterstützt die syrische Regierung palästinensische Parteien und Widerstandsgruppen, und in Syrien lebt etwa eine halbe Million palästinensischer Flüchtlinge. Sie genießen nahezu sämtliche Bürgerrechte mit Ausnahme des Wahlrechts und der Staatsbürgerschaft, denn die syrische Regierung hält bis heute an ihrem Rückkehrrecht in ihre Heimat fest. Drittens empfindet Israel das seit 1979 bestehende strategische Bündnis zwischen Syrien und Iran, zu dem seit Beginn der 80er Jahre auch die libanesische Hisbollah gehört, als akute Gefahr. Die syrische Einbindung in die »Achse des Widerstands« mit Iran und Hisbollah macht die Regierung Assad zum Feind nicht nur Israels, sondern auch seiner westlichen und regionalen Verbündeten.
Der Weg nach Iran führt sowohl für die US-Armee und die NATO, als auch für Israel über Syrien. Zum Verhängnis wurden Damaskus zudem die engen Bündnisse mit Russland und China, die in der Region besondere geopolitische, geostrategische und wirtschaftliche Interessen haben. Die Regierung Assad war damit ein gewichtiger Störfaktor für die Eurasien-Strategie der USA und ihrer Verbündeten. Die Absage Syriens an eine Pipeline, die Erdgas von Katar nach Europa transportieren und damit den Marktanteil Russlands in Europa deutlich verringern sollte, aus dem Jahr 2009 und die Verkündung der Absicht, stattdessen gemeinsam mit Teheran über eine Pipeline nach Europa zu exportieren, macht allein noch keinen Krieg. Das Interesse, die in der Region vorhandenen Ressourcen zu kontrollieren und China und Russland von diesen fernzuhalten, aber ist eine wichtige Motivation für die Aggression gegen Syrien. Eine selbstbewusste und unabhängige syrische Regierung ist unerwünscht und gemeinsam mit ihren Verbündeten eine ernstzunehmende Bedrohung für die Dominanz insbesondere der USA. Laut einer Studie des US-amerikanischen Instituts für strategische Studien des Army-College sind die seit dem Jahr 2000 im levantinischen Becken, welches die Offshore-Territorien Israels, der palästinensischen Gebiete, Zyperns, der Türkei, Ägyptens, Syriens und des Libanon umfasst, entdeckten beachtlichen Erdgas- und Ölvorkommen von »enorme[r] ökonomische[r] und geostrategische[r] Bedeutung«.
Unterschiedliche Ebenen der Intervention
»Assad muss weg« war die Devise, auf die sich die Regierungen der westlichen Industriestaaten 2011 unisono festlegten. Eine politische Lösung wollten sie nicht. Stattdessen brachen sie diplomatische Kontakte ab und befeuerten den Konflikt massiv und auf unterschiedlichsten Ebenen. Die Syrer*innen, die auch als der Krieg bereits in vollem Gange war, laut Umfragen zu mindestens 70 Prozent hinter dem Präsidenten standen, wurden in Geiselhaft genommen. Die USA verschärften ihre bereits bestehenden Sanktionen gegen Syrien, die EU zog 2012 nach. Der UN-Sonderberichterstatter für negative Auswirkungen von einseitigen Zwangsmaßnahmen, Idriss Jazaïry, erklärte im Mai 2018 nach einem Besuch in Syrien, die Sanktionen gegen das Land hätten die humanitäre Krise massiv verschärft.
Die Regierungen der Türkei, der Golfstaaten und der westlichen Industrienationen unterstützten die Opposition politisch, finanziell, logistisch und mit Waffenlieferungen und setzten zugleich eine massive propagandistische Kampagne gegen die syrische Regierung in Gang. Während des Kriegs begangene Massaker, die wie das in al-Hula 2012 der bewaffneten Opposition nachgewiesen werden konnten, lasteten sie weiter der syrischen Regierung an. Angriffe mit Chemiewaffen, die erstaunlicherweise immer dann erfolgten, wenn die syrische Armee kurz vor der Einnahme der angegriffenen Orte stand, ordneten sie Assad zu, selbst wenn alle Indizien gegen seine Urheberschaft sprachen und radikale Gruppen wie die Nusra-Front nachweislich spätestens im Jahr 2013 über chemische Kampfstoffe verfügten. Dies wurde auch fortgesetzt, nachdem die OPCW der syrischen Regierung die Vernichtung ihrer gesamten Bestände an Chemiewaffen bescheinigt hatte, die diese im Rahmen eines zwischen Moskau und Washington ausgehandelten Deals freiwillig übergeben und unter internationaler Aufsicht hatte vernichten lassen. Ähnlich selektiv war der Blick auf die Rückeroberung Ost-Aleppos in der zweiten Hälfte des Jahres 2016. Politik und Medien verschwiegen alle Gesprächs- und Amnestieangebote, die die syrische und russische Seite gemacht hatten, genau wie die humanitären Korridore, die sie eingerichtet hatten und die Feuerpausen, die sowohl die syrische als auch die russische Armee und ihre Verbündeten ganz im Gegensatz zur bewaffneten Opposition einhielten. Dies erinnerte daran, wie bereits die umfassenden Reformen, die die Regierung kurz nach Beginn der Proteste 2011 eingeleitet hatte, von hiesigen Medien und Politik komplett ignoriert worden waren. Während sie Moskau und Damaskus bezichtigten, Zivilist*innen im von der Nusra-Front beherrschten Ost-Aleppo mutwillig »abzuschlachten«, galt die mit unzähligen zivilen Opfern verbundene Befreiung im irakischen Mossul unter Beteiligung der US-Armee als Anti-Terror-Operation. Eine besondere Rolle spielen bei der Dämonisierung der syrischen und russischen Regierung die vom Westen massiv unterstützten »Weißhelme«, die sich selbst »syrischer Zivilschutz« nennen und denen mehrfach sowohl die Fälschung und Zweckentfremdung von Bild- und Videomaterial als auch die Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen und gar die Beteiligung an brutalsten Ermordungen von Zivilisten nachgewiesen wurden.
Fast seit Beginn des Krieges setzen die westlichen Industrienationen Hilfsgüter, auf die die Bevölkerung dringend angewiesen ist, als Instrument der politischen Kriegführung ein. Die westliche Politik, Hilfsleistungen ausschließlich denjenigen zukommen zu lassen, die zufällig unter Kontrolle der Opposition und nicht der Regierung leben, verstößt gegen das Neutralitätsprinzip der humanitären Hilfe und muss als humanitäre Intervention bezeichnet werden. Auch der Wiederaufbau des Landes darf nach dem Willen westlicher Regierungen nicht in Gebieten unterstützt werden, die von der Regierung Assad kontrolliert werden, beziehungsweise erst, nachdem »Assad geht«.
Gescheiterter Regime Change und doch kein Frieden
Der Syrien-Krieg ist nie ein Bürgerkrieg gewesen, und er entwickelte sich nicht erst mit der völkerrechtswidrigen Intervention der USA seit 2014 und dem militärischen Eingreifen Russlands, das am 30. September 2015 auf Bitten der syrischen Regierung und damit völkerrechtskonform erstmals Luftangriffe in dem Land flog, zu einem Weltordnungskrieg. Der Syrienkrieg hat die Karten gründlich neu gemischt – zu Ungunsten der USA und ihrer Verbündeten in der Region. Russland, China, Iran und die Hisbollah hingegen konnten ihren Einfluss steigern. Mit der Rückeroberung Aleppos Ende 2016 galt der Krieg als zu ihren Gunsten entschieden. Russland verfügt neben dem Marinestützpunkt in Tartus inzwischen auch über einen Luftwaffenstützpunkt in Latakia. Moskau hat seine Beziehungen zu vielen Staaten in der Region, so unter anderem auch zu Saudi-Arabien und Israel, deutlich ausgebaut und sich dadurch auch wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Zudem ist das Bündnis zwischen Syrien, Iran und der Hisbollah in den Jahren des Krieges eben nicht geschwächt, sondern gestärkt worden. Erst im August haben Damaskus und Teheran ein umfassendes Verteidigungsabkommen geschlossen.
Zugleich aber hat die US-Armee inzwischen vor allem im kurdisch kontrollierten Norden 25 Militärbasen errichtet und kontrolliert 70 Prozent der syrischen Energiequellen. Der jüngst erfolgte versehentliche Abschuss eines russischen Flugzeugs durch die syrische Armee, bei dem 15 russische Soldaten ums Leben kamen und für den die russischen Generäle Israel verantwortlich machen, ist nur ein Beispiel für die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen den USA und ihren Verbündeten einerseits und Russland und seinen Verbündeten andererseits. Die israelische Armee hatte einen Luftangriff auf Latakia geflogen und sich ohne vorherige Absprache im Schutz des russischen Flugzeugs bewegt, weshalb es ungewollt zu dessen Abschuss durch die syrische Armee kam. Anfang 2018 waren bei einem US-Angriff bei Deir es-Sor bereits fünf russische Staatsbürger getötet worden.
Der Regime Change ist gescheitert, aber zur Ruhe kommen wird Syrien noch lange nicht. Gefragt nach einer Lösung der Krise sagen viele Syrer*innen, man solle sie einfach in Frieden und Respekt miteinander leben lassen, so wie sie es seit jeher getan hätten. Ohne die massive äußere Einmischung wäre der Krieg nie entstanden oder hätte zumindest nicht dieses Ausmaß erreicht. Dass sich an der Einmischung in naher Zukunft etwas ändert, ist leider äußerst unwahrscheinlich.
Leicht bearbeitete Fassung der Rede »Syrien als geopolitischer Spielball der Nationen und ihr Einfluss vor Ort« von Wiebke Diehl anlässlich der Ossietzky-Matinee »Was tun gegen den drohenden Krieg!?« am 3. Oktober. Wiebke Diehl studierte Islamwissenschaft und Politikwissenschaft in Berlin und Damaskus und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag. Sie publiziert regelmäßig zum Nahen und Mittleren Osten.
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