Sonntag, 28. Oktober 2018

Von Zeit zu Zeit: Schlechte Arbeit tötet (Stephan Krull)


Weltweit sind es über zwei Millionen Menschen, über 6000 pro Tag, die durch Arbeitsunfälle ihr Leben verlieren. Im Jahr 2017 kamen in Deutschland pro Werktag durchschnittlich zwei Menschen durch Arbeitsunfälle ums Leben: Für 451 Personen kam nach einem Unfall am Arbeitsplatz jede Hilfe zu spät; sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Das ergaben Recherchen des ARD-Wirtschaftsmagazins Plusminus. Dagegen gehen die Betriebskontrollen der staatlichen Arbeitsschutzbehörden seit Jahren zurück. Neben dem zunehmenden Stress und den vielen Überstunden in den Betrieben liegen die tödlichen Unfälle vor allem an einer Verschlechterung der Arbeitssicherheit und mangelnden staatlichen Kontrollen der Betriebe zur Einhaltung der gesetzlichen Standards, der Unfallverhütungsvorschriften. In allen Bundesländern wurden bei den Gewerbeaufsichtsämtern und anderen Arbeitsschutzbehörden massiv Stellen abgebaut. Die Folge: Die Zahl der Arbeitskontrollen wurde je nach Bundesland um 35 bis 96 Prozent zurückgefahren; am stärksten, wen wundert es, in den ostdeutschen Bundesländern.

In der Plusminus-Sendung vom 19. September heißt es unter anderem: »Ralf P. wird seinen Sohn nie wiedersehen. Mit 19 Jahren ist Marvin gestorben – bei einem Arbeitsunfall. Er arbeitete nach einem Rockkonzert in der Stuttgarter Schleyerhalle mit beim Abbau der Technik – und dabei kam es zu dem schrecklichen Unfall. Als Marvins Vater dort ankam, bot sich ihm mit dem Anblick der großen Blutlache ein schreckliches Bild. Ein Arbeitskollege stürzte aus zwölf Metern Höhe auf Marvin. Ungesichert. Ein klarer Verstoß gegen Arbeitsschutzvorschriften, stellen Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaft später fest.«

Im ersten Halbjahr 2018 waren es bereits 206 Menschen, die ihr Leben bei der Arbeit einbüßten.

Die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle stieg um zwei Prozent auf 441.295 mit zum Teil schweren Verletzungen. Und 96.603 Versicherte hatten einen Unfall auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause zurück. Aus diesem Unfallgeschehen entstanden schon im ersten Halbjahr 2018 über 8700 Rentenansprüche aufgrund eines arbeitsunfähig machenden Arbeits- oder Wegeunfalls – von den Kosten im Gesundheitswesen einmal ganz abgesehen. Hinzu kommen noch über 40.000 Anzeigen einer Berufskrankheit, zu einem großen Teil wegen Hautkrebs, wie die ÄrzteZeitung berichtet.

Plusminus schildert, dass Marvins Vater entsetzt ist über den Zustand des Arbeitsschutzes. Er fordert ein Umdenken in Politik und Wirtschaft. Denn jeder Arbeitstote sei einer zu viel: »Marvin ist tödlich verunglückt, den werden wir auch nie mehr lebendig machen. Aber in dieser Arbeitswelt wird es weiterhin passieren, wenn jetzt nicht endlich mal was entschieden wird und wenn nicht kontrolliert wird.«

Je länger die tägliche Belastung durch die Arbeit beziehungsweise die Verfügbarkeit ist, desto unfallträchtiger und leider oft tödlich ist die Arbeit. Die »Initiative Gesundheit und Arbeit« hat eine Untersuchung zum Thema »ständige Erreichbarkeit« veranlasst (IGA-Aktuell 2/2016)). Die Wissenschaftlerinnen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg kommen zu dem Ergebnis, dass sich unter den erreichbar Beschäftigten signifikant mehr erholungsunfähige Personen befinden als in der Gruppe der Nichterreichbaren. Außerdem besteht eine schlechtere subjektive Schlafqualität – alles Bedingungen, bei denen die Unfallträchtigkeit wächst. Überstunden, Schichtarbeit und Arbeitsplatzunsicherheit sind besondere Risikofaktoren.

Da grenzt es schon an widerlichen Zynismus, wenn die FDP im Bundestag die Aufhebung des 8-Stunden-Tages durchsetzen möchte mit der Begründung, »die Arbeitszeit ins digitale Zeitalter zu überführen«. Zur Erinnerung: Im Arbeitszeitgesetz, das den 8-Stunden-Tag seit der Novemberrevolution vor 100 Jahren festschreibt, heißt es im Artikel 1: »Zweck des Gesetzes ist es, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten.«

Im März 2018 brachte die FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag (19/1174) mit folgender Formulierung in den Bundestag ein: »… anstelle einer werktäglichen Höchstarbeitszeit [ist] eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden festzulegen«. Dieses Ansinnen wurde im Bundestag von allen anderen Fraktionen abgelehnt.

Abgelehnt wurde aber auch ein Antrag (19/2522) von der Linksfraktion, »… die wöchentliche Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz von 48 auf 40 Stunden zu reduzieren. Die Regelungen im Arbeitszeitgesetz zu werktäglichen Arbeitszeiten und arbeitsfreien Zeiten (§ 3 bis § 8 ArbZG) bleiben dabei unangetastet.« Zugleich forderte die Fraktion Die Linke mehr Rechte für die Beschäftigten, ihre Arbeitszeit selbst zu gestalten. Die Forderung nach einer Reduzierung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden nannten die anderen Fraktionen als Begründung für die Ablehnung des Antrags beziehungsweise ihre Enthaltung (Bündnis90/Die Grünen). Nun stellt sich die Frage, was ehemals hauptamtliche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter als SPD-Bundestagsabgeordnete davon abhält, für eine gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit zu stimmen: Leni Breimayer, Martin Burkert, Yasmin Fahimi und Ulrich Freese – um nur einige zu nennen; es wird ihr Geheimnis bleiben. Sehr bedauerlich ist dieses dennoch, denn lange Arbeitszeiten führen eben nachweislich zu mehr Unfällen und letztlich auch zu tödlichen Unfällen. Weiter ist es bedauerlich, weil unser Land so nicht aus der Exportorientierung und der Erdrückung unserer Nachbarländer wie auch fernerer Länder herauskommt: Der deutsche Exportwahnsinn ist ein wesentlicher Faktor bei der Zerstörung der Weltwirtschaft.

Die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf die 40-Stunden-Woche wäre ein wichtiger Fortschritt, nachdem die 40-Stunden-Woche in den 1960er Jahren nur tariflich etabliert wurde. Es wäre ein Beitrag zur Stabilisierung in Europa, ein Akt der Solidarität mit Ländern mit noch kürzerer gesetzlicher Arbeitszeit wie Belgien und Frankreich.

Aber es bedarf wohl größeren Drucks aus den Gewerkschaften, mehr Drucks aus der Gesellschaft, um das konservative und arbeitgeberfreundliche Tabu »Arbeitszeitverkürzung« zu brechen. Nun denn: Es gibt nix Gutes, außer man tut es – auch, um künftig zu verhindern, dass an jedem Werktag wieder zwei Arbeiterinnen oder Arbeiter allein in Deutschland ihr Leben lassen!

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