Sonntag, 28. Oktober 2018

Beim Schärfen der Waffe


Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer verteidigt das rechtsstaatliche Strafrecht

Von Volkmar Schöneburg
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Gesteigerte Straflust: Im Namen der »Sicherheit« wird der Rechtsstaat ausgehöhlt (Spezialeinsatzkommando der Polizei)
Thomas Fischer: Über das Strafen. Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft. Droemer-Verlag, München 2018, 384 Seiten, 22,90 Euro
Volkmar Schöneburg ist promovierter Jurist, Mitglied des brandenburgischen Landtags (Die Linke) und war von 2009 bis 2013 Justizminister des Landes Brandenburg.
Die letzten 20 Jahre waren durch gravierende gesellschaftliche Veränderungen geprägt. Dafür stehen Stichworte wie Globalisierung, Neoliberalismus, Digitalisierung oder Agenda 2010. Folgen dieser Entwicklung sind weitere Vereinzelung des Einzelnen (Marx), der Verlust sozialer Bindungen und die Verschärfung der sozialen Spaltung der Gesellschaft. Parallel dazu ist eine Steigerung der Straflust gegenüber Außenseitern und Minderheiten sowie des Bedürfnisses nach Strafrecht in der Gesellschaft zu beobachten, obwohl das staatliche Sündenregister, sprich die Kriminalstatistik, in manchen Bereichen sogar rückläufig ist. Dieser Befund veranlasste Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und über Juristenkreise hinaus bekannt geworden durch seine ebenso scharfzüngige wie scharfsinnige Kolumne »Fischer im Recht« in der Zeit (nun als »Recht haben« auf Spiegel online), zu einer Abhandlung »Über das Strafen«. Es ist ein lesens- und nachdenkenswerter Rundgang durch das Strafrecht. Der auch schon mal als »Rocker am Gerichtshof« titulierte Verfasser des einschlägigen Kommentars zum Strafgesetzbuch diskutiert Grundbegriffe und -annahmen des Strafrechts wie Wahrheit, freier Wille, Kausalität, Schuld, Rechtsgüter, Tatbestand oder Vorsatz und Fahrlässigkeit, wobei detaillierte Ausführungen zur Strafzumessung fehlen. Thematisiert wird die strafrechtliche Herrschafts- und Freiheitsfunktion, die sich vor allem im Gesetzlichkeitsprinzip zeigt, das Verhältnis staatlichen Strafens zur Moral oder zur Gerechtigkeit.
Kritisch reflektiert Fischer die öffentlichen Debatten über das Strafrecht. Dabei ist sein Unmut über die oft von wenig Sachkenntnis getrübte mediale Widerspieglung strafrechtlicher Sachverhalte, in deren Zentrum nicht die jeweilige Rechtsfrage, sondern die personalisierte Berichterstattung steht, offenkundig. Die Darstellung der Taten erfolgt nämlich in der Regel so, als seien sie durch härtere Gesetze oder bessere Kontrolle leicht vermeidbar gewesen. Weitgehend unbeachtet bleiben dagegen die gesellschaftlichen Strukturen, aus denen das jeweilige kriminelle Handeln erwächst. Straftaten müssen, so der Autor, für das angebliche »Versagen« der Sicherheitsbehörden herhalten oder stehen für gesellschaftliche »Missstände«.
Die öffentliche Kommunikation über Kriminalität und Strafe, an der jeder sich berufen fühlt teilzunehmen, ist ein Motor der herrschenden Strafrechtspolitik. Fischer zeigt auf, dass wissenschaftliche Expertise immer weniger gefragt ist. Die öffentlich-mediale Erregung führt hingegen zu einer Radikalisierung der politischen Rhetorik. Der Ausbau von Überwachung und Kontrolle erscheint als notwendige und legitime Reaktion des Staates. Fischer aber benennt die Gefährdungen, die von solcher Art Politik für das rechtsstaatliche, den Eingriff des Staates begrenzende Strafrecht ausgehen:
So spielt in der aktuellen rechtspolitischen Debatte die Trennung zwischen Sicherheit und Strafen, zwischen Polizei und Justiz kaum mehr eine Rolle, was dazu führt, dass dem Strafrecht immer mehr präventiv-polizeiliche Aufgaben angetragen werden. Fischer veranlasste das an anderer Stelle, den früheren Justizminister Heiko Maas als Notar des für die Sicherheitspolitik zuständigen Innenministers zu charakterisieren. Nicht sehr schmeichelhaft. Begründet wird diese Tendenz mit dem angeblichen »Grundrecht auf Sicherheit«, das der Staat mittels Polizei und Strafrecht zu schützen habe. Fischer entlarvt dies als demagogisch und falsch, denn mit dem Argument ließe sich jede beliebige staatliche Maßnahme legitimieren. »Sicherheit« sei nämlich eine strukturell unbegrenzte Kategorie, die keine Obergrenzen kennt und deren Vorrang eine tendenziell totalitäre Umsetzung intendiert. Wir erleben dies gerade bei der Novellierung der Polizeigesetze der Länder. Ausdruck jener Verwischung der Grenzen zwischen (polizeilicher) Prävention und (strafrechtlicher) Repression sind die von Fischer aufs Korn genommenen diversen strafrechtlichen »Bekämpfungsgesetze«. Sie signalisieren den Ausschluss von Feinden. Nicht ohne Grund hatten solche Gesetze während der Nazidiktatur Hochkonjunktur. Fischer ist jedoch zuzustimmen: Strafrecht darf nicht um der Menschenrechte willen zum Kriegsmittel gegen Gefahren oder »Gefährder« verkommen. Die »Terrorismusbekämpfung«, Teile des Sexualstrafrechts oder der »Vertrieb von Betäubungsmitteln« sind Beispiele, wo die Grenze zwischen Prävention und Repression aufgehoben ist. Einher geht dies mit der Entgrenzung staatlicher Eingriffsbefugnisse. Zur Erosion des rechtsstaatlichen Strafrechts führen auch die Akte symbolischer Gesetzgebung, wo lediglich mit der Produktion einer Strafrechtsnorm durch die Politik ein Zeichen gesetzt wird, ohne Relevanz für die soziale Wirklichkeit. Aber man hat Handlungsfähigkeit demonstriert.
Fischers Traktat ist dagegen eine starke Verteidigung des rechtsstaatlichen Strafrechts, in dem die von Rechtspolitikern so oft beklagte »Lücke« die zwingende Regel ist. Es sei gerade ein Merkmal rechtsstaatswidriger Herrschaft, über kautschukartige Tatbestände flächendeckend zu kriminalisieren. Zugleich betont er die Bedeutung der Formalien im Strafprozess (rechtliches Gehör, Recht auf Verteidigung usw.). Da das Strafrecht das schärfste Instrument in der Hand des Staates ist, sind hier die Formalien zum Schutz des Bürgers besonders wichtig. Werden sie beschnitten, bedeutet dies eine Ausweitung staatlicher Macht zu Lasten der Bürger.
Wer weiterhin Erhellendes zur Strafrechtspraxis, zur Strafverteidigung, zur Gesetzgebung oder zum Strafrichter lesen möchte, dem sei das Buch anempfohlen. Es ist geschrieben aus der Sicht eines Richters. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Fischer die Zellenhaltung von Menschen, ihren Verlust jeglicher Selbstbestimmung im Strafvollzug in die Nähe der Grausamkeit rückt, aber die totale Institution Knast nicht in Frage stellt. Auch bei den Alternativen zum staatlichen Strafen ist er eher zurückhaltend. Aber gerade vor dem Hintergrund der von ihm aufgezeigten Entwicklungen wäre ein privatrechtliches Konfliktschlichtungsrecht, bei dem sich die Zivilgesellschaft zutraut, ihre Konflikte autonom und ohne Grausamkeiten zu regulieren, nicht das Schlechteste.

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