Sonntag, 28. Oktober 2018

Sammlungsbewegung und Kevin Kühnert (Mohssen Massarrat)


Es war Freitag, der 7. September. Drei Tage nach dem offiziellen Start der Sammlungsbewegung »Aufstehen« fand im Berliner Babylon eine Podiumsdiskussion mit Sahra Wagenknecht statt, an der unter anderem auch der Jungsozialisten-Chef Kevin Kühnert teilnahm. Mit großem Interesse verfolgte ich Kühnerts Ausführungen und seine Antworten auf die Kritik vieler Anwesender, warum er der Bewegung distanziert bis ablehnend gegenüberstehe. Immerhin verfolgt die SPD-Linke, nach Kühnert selbst, beinahe dieselben politischen Ziele, wie sie im »Aufstehen«-Aufruf systematisch aufgelistet sind. Inhaltlich »können wir alle«, so Kühnert, »den Aufruf unterschreiben«. Um es vorwegzunehmen: Kühnert hat – bei allem Respekt vor seiner Intervention gegen die Bildung der GroKo – mich an diesem Abend enttäuscht. Bei seinen zahlreichen und längeren Äußerungen zu seiner Ablehnung der Sammlungsbewegung redete er um den heißen Brei herum. Er war alles andere als authentisch, das merkte man schon an seinem Gesichtsausdruck.

Doch konnte man aus einer von Kühnerts Antworten, die er höchst verklausuliert und nur beiläufig vortrug, den eigentlichen Grund für seine ansonsten schwer nachvollziehbare Argumentation herauslesen. Sinngemäß sagte er, Politik werde von Menschen gemacht, und an der Spitze der Sammlungsbewegung stehe neben Sahra Wagenknecht nun auch jemand wie Oskar Lafontaine, dem gegenüber man in der SPD Vorbehalte habe. Lafontaines SPD-Austritt habe viel Porzellan zerschlagen und bei seinen Anhängern in der Partei Wut und Groll hinterlassen. Die Linken in der SPD könnten sich nicht so ohne weiteres einer Bewegung anschließen, die ausgerechnet von Lafontaine mit angeführt wird.

In der Tat spielt der Sachverhalt eine gewichtige Rolle. Deshalb ist es angebracht, sich mit dem politischen wie psychologischen Dilemma auseinanderzusetzen. Denn der Erfolg der Sammlungsbewegung, in Deutschland am Ende eine linke Mehrheit und einen kulturellen Wandel für die parlamentarische Durchsetzung substanzieller sozialökologischer und friedenspolitischer Reformen zu bewirken, die diesen Namen verdienen, hängt vor allem davon ab, ob es irgendwann zu einem Schulterschluss zwischen den Linken in der SPD und der Sammlungsbewegung kommt. Genauso hängt es auch von der massiven Unterstützung der außerparlamentarischen Bewegungen ab, ob das linke Reformlager in der SPD die bestehenden festgefahrenen Agenda-Strukturen, und damit die Dominanz des Agenda-Lagers, je wird aufbrechen können. Die in der GroKo gegenwärtig verfolgte SPD-Politik, die sich über weite Strecken von der Politik der alten GroKo kaum unterscheidet, und die Tatsache, dass die Linken in der SPD nicht im Geringsten die Chance haben, etwas entgegenzusetzen, belegt ihr Dilemma, das weiterhin besteht.

Doch zurück zu Lafontaines SPD-Austritt und dessen Folgen, die offensichtlich bei den SPD-Linken noch immer eine Allianz mit ihm und der Sammlungsbewegung blockieren: Lafontaine hatte für seine Entscheidung im März 1999, alle Ämter in der SPD niederzulegen und anschließend auch die Partei zu verlassen, gewichtige Gründe. Er war in der SPD Führung isoliert, so dass er keine Chance für die Durchsetzung wichtiger Reformprojekte und die Verhinderung der neoliberalen Politik der Deregulierung der Finanzmärkte sowie des Kosovo-Krieges sah. Lafontaine hat diese und weitere Gründe für seinen Schritt umfassend in Büchern, Zeitungsbeiträgen und Interviews dargelegt. Ob es zu Lafontaines Entscheidung, alles liegenzulassen und viele in der SPD zu enttäuschen, wirklich keine Alternative gegeben hat, mögen Historiker beurteilen. Nichtsdestotrotz bleibt es unbestritten, dass sich durch die Entscheidung viele seiner Anhänger in der SPD alleingelassen fühlten. Sie wurden plötzlich mit der Realität konfrontiert, ihre sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Projekte, für die gerade auch die Linken in der SPD mit ihrem Einsatz den Sieg der rot-grünen Koalition errungen hatten, begraben zu müssen. Die Resignation war verständlich. Sie verwandelte sich alsbald in Wut und Zorn gegen Lafontaine – beides wirkt bis heute nach. Die Linken in der SPD sind bis heute geschwächt.

Mehr noch: Das Agenda-Lager in der Partei hat in den letzten Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, Lafontaine zu dämonisieren und von den antisozialen Folgen der Agenda-Politik abzulenken. Besonders schäbig ist diese Strategie der Parteielite, weil sie sich gerade jetzt damit eines wirkungsvollen psycho-kulturellen Mechanismus von divide et impera bedient, um einen Schulterschluss der linken SPD-Mitglieder mit der linken Sammlungsbewegung im Keim zu ersticken. Folgerichtig sollten beide Seiten, die Linken in der SPD und die Sammlungsbewegung in der Linken, alles daransetzen, nicht in diese Falle hineinzutappen, und versuchen, die künstlich hervorgerufene Kluft zu überwinden. Ihre Annäherung ist der Schlüssel zur Entstehung eines gesellschaftlichen Klimawandels und Voraussetzung für eine linke Mehrheit für echte Reformen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen