Mittwoch, 13. April 2016

Militäreinsatz in Libyen mit deutscher Beteiligung?



IMI-Analyse 2016/12 - in: AUSDRUCK (April 2016)

Auf welchen Krieg sich Deutschland dabei einlassen würde

von: Marius Hager | Veröffentlicht am: 11. April 2016

Unter dem Eindruck der jüngsten Terroranschläge von Paris und Brüssel rückt die Ausbreitung des selbsternannten Islamischen Staates (IS) auch in Libyen immer stärker in den Fokus der europäischen und nordamerikanischen Politik. Schon vor einiger Zeit warnte US-Außenminister John Kerry, man werde nicht tatenlos zusehen, wie der IS, der bereits 180 Kilometer der libyschen Mittelmeerküste kontrolliert, auch noch Zugriff auf die libyschen Ölfelder bekomme.[1] Verteidigungsministerin Ursula Von der Leyen meinte der Bild-Zeitung gegenüber, „Deutschland wird sich nicht der Verantwortung entziehen können, dabei [bei der Stabilisierung Libyens] einen Beitrag zu leisten.
Der Spiegel spekulierte bereits Anfang Januar 2016 über eine mögliche Ausbildungsmission deutscher und italienischer Soldaten in Libyen nach dem Vorbild der Ausbildung kurdischer Militärs im Norden des Irak.[3] Wie fortgeschritten derartige Spekulationen bereits sein könnten, zeigen Aussagen des Leiters der Abteilung Politik im Verteidigungsministerium, Géza Andreas von Geyr, bei der „Strategischen Lage 2016“ der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Hierbei nannte der Abteilungsleiter einen 4-Punkte-Plan zur Stabilisierung Libyens:
  1. Errichtung einer sicheren „Grünen Zone“ in der Hauptstadt der libyschen Einheitsregierung
  2. Etablierung einer einheitlichen Sicherheitsstruktur
  3. Direkte Bekämpfung des IS in Libyen
  4. Konsequente Bekämpfung von „Schleuserstrukturen“.[4]
Die grundlegende Voraussetzung eines möglichen Einsatzes in diesem Rahmen wurde inzwischen erfüllt. Unter Vermittlung des UN-Beauftragten Martin Kobler wurde nach zähem Ringen eine Einheitsregierung gebildet. Die Einheitsregierung von Premier Fayed al-Sarraj steht jedoch auf wackligen Beinen. Das international anerkannte Parlament der Nationalisten in Tobruk sträubte sich gegen eine mehrheitlich gültige Bestätigung der Einheitsregierung. Um nicht länger warten zu müssen, verkündete Kobler daher Mitte März 2016, Lastwagen führen ja „auch ohne Nummernschild“. Kurzerhand wurde beschlossen, dass auch eine vorhandene Liste mit den Unterschriften von knapp 100 Abgeordneten aus Tobruk ausreichen würde, um die Einheitsregierung zu legitimieren.[5] Die Zeit drängt. Der IS profitiert von dem Machtvakuum in Libyen und könnte gemeinsam mit der verbündeten Boko Haram aus dem Nordosten Nigerias den Terror in weitere Länder der Region tragen. Außerdem befürchten Italien und Deutschland mit dem beginnenden Frühling einen erneuten Anstieg der Zahl afrikanischer Flüchtlinge, die Libyen auf dem Weg nach Europa passieren. Geheimoperationen gegen den IS und zur Ausbildung lokaler Milizen werden bereits durch Militärberater und Sondereinheiten Frankreichs und der USA durchgeführt.[6]
Man könnte meinen, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis die neue Einheitsregierung um ausländische Unterstützung bittet und ein offizieller internationaler Militäreinsatz in Libyen unter indirekter Beteiligung der Bundeswehr beginnt. Die Lage ist jedoch nicht einmal ansatzweise so einfach, als dass ein Militäreinsatz das Land befrieden könnte. Dem stehen viele bedenkenswerte Kritikpunkte gegenüber. Zunächst einmal gilt die Chance, dass sich die „halblegitimierte“ Einheitsregierung in Libyen gegen Widersacher aus den verfeindeten Parlamenten in Tobruk und Tripolis durchsetzen kann, als nicht besonders hoch. Weiterhin ist vollkommen unklar, wen ein internationaler Militäreinsatz eigentlich unterstützen soll. Zu guter Letzt wird kaum darauf eingegangen, in was für eine Art von Konfliktstruktur mit dem Militäreinsatz eingegriffen würde. Schon bei der ersten internationalen Militärintervention in Libyen 2011, die zum Sturz von Langzeitdiktator Gaddafi führte, wurden die beiden letztgenannten Kritikpunkt kaum bedacht. Infolge des durch die Unterstützung der Rebellen befeuerten Bürgerkrieges brachen fast alle staatlichen Strukturen Libyens zusammen und es etablierte sich ein fast permanenter Bürgerkrieg zwischen wechselnden Gruppierungen.[7]
US-Präsident Obama äußerte sich diesbezüglich Mitte März 2016 sehr kritisch der englischen und französischen Regierung gegenüber und machte sie dafür verantwortlich, dass Libyen ins Chaos abgerutscht ist.[8] Mit Veröffentlichung der Clinton-Mails wird jedoch auch klar, dass sich nicht nur die Präsidenten von Großbritannien und Frankreich für einen Feldzug gegen Gaddafi besonders stark gemacht haben, sondern auch die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton.[9] Ob die Administrationen der westlichen Führungsmächte aus ihren Fehlern gelernt haben, bleibt abzuwarten. Währenddessen sollte die Öffentlichkeit die Zeit dafür nutzen, in der noch keine schrillen Forderungen nach internationalem Militäreinsatz wie Anfang 2011 durch die Medien peitschen, sich sachlich über Hintergründe und Akteure des libyschen Bürgerkrieges zu informieren.
Wer kämpft eigentlich in Libyen gegeneinander?
Allgemeinhin bekannt ist bisher, dass im Osten Libyens das den Nationalisten zugeneigte Parlament von Tobruk regiert und im Westen das zu den Islamisten tendierende Parlament von Tripolis. Die Begriffe Nationalisten und Islamisten lassen sich jedoch nicht auf alle Beteiligten der Allianzen übertragen. Der Einfachheit halber wird in diesem Artikel dabei etwas pauschalisiert. Die Islamisten haben die „Allianz der Morgenröte“ ausgerufen, während die Nationalisten unter Führung des Oberbefehlshabers Chalifa Haftar die „Operation Würde“ ausgerufen haben. Als dritte Kriegspartei ist inzwischen der IS hinzugekommen, der sich in der Region um Sirte ausgebreitet hat und Terroranschläge in unterschiedlichen Städten Libyens gegen beide Allianzen und Zivilisten verübt.
Beide Parlamente haben komplexe Allianzen gebildet, die ihre Macht auf unterschiedlichen Stämmen und Milizen aufbauen. Wichtige Akteure des Krieges sind Kommandeure der verschiedenen Milizen, die teilweise als Warlords zur Machterhaltung oder Selbstbereicherung die Konflikte forcieren. Sowohl bei der „Allianz der Morgenröte“ als auch bei der „Operation Würde“ gibt es Hardliner, die den Krieg immer weiter befeuern. Dazu gehört auch Chalifa Haftar, dessen Truppen der „Operation Würde“ vor allem im Kampf um Bengazi 2015 mögliche Kriegsverbrechen begangen haben sollen. Daneben gibt es Al Qaida nahe stehende Milizen, die teilweise mit der islamistischen Allianz der Morgenröte verbündet sind. Die verschiedenen Konfliktparteien erhalten Unterstützung aus dem Ausland von Regionalmächten. Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate stehen auf der Seite der Operation Würde. Die Allianz der Morgenröte erhält dagegen vor allem Unterstützung aus Katar.
Der aktuelle Konflikt verläuft entlang verschiedener Bruchlinien, die der ehemalige Diplomat Patrick Haimzadeh in einem brillanten Artikel darlegt und treffend als „die große Teilung“ bezeichnet.[10] Nach Ende des ersten Bürgerkrieges 2011 traten alte Feindschaften zwischen den beteiligten Stämmen und Milizen hervor. Dazu muss man wissen, dass Libyen eine Gesellschaft ist, in der Tribalismus eine weitaus bedeutendere Rolle spielt als in den meisten anderen arabischen Ländern. Insgesamt gibt es etwa 140 Stämme, von denen 30 bis 40 politischen Einfluss haben. Die Stämme untergliedern sich wiederum in Unterstämme, denen wiederum die Familien untergeordnet sind. Untereinander haben die Stämme sich wandelnde Allianzen. Doch einfach entlang dieser Stammeslinien lassen sich die Konflikte nicht erklären. Im Bürgerkrieg haben sich auch Revolutionsmilizen gebildet, die unabhängig von der Stammeszugehörigkeit agieren. In den ersten Konflikten untereinander ging es vor allem um lokale Macht und die Kontrolle von Territorium. Besonders begehrt sind dabei die Ölfelder und Handelsrouten. Hinzu kamen Konflikte zwischen Islamisten und Säkularen, sowie zwischen Peripherie und Zentrum. Teilweise verlaufen die Spannungen sogar mitten durch die Stadtviertel und es kommt zu Ausschreitungen und Kämpfen unter den Nachbarn.
Die vollständige Eskalation des Zweiten Libyenkrieges begann im Mai 2014, als Chalifa Haftar die Militäroperation „Würde“ ausrief, um die Islamisten in Bengasi auszulöschen. Daraufhin riefen islamistische Milizen die „Allianz Morgendämmerung“ gegen den gemeinsamen Feind aus. Inzwischen wird die „Allianz Morgendämmerung“ vom Parlament in Tripolis, von den arabischen Milizen der Misrata, der Zawijah und islamistischer Revolutionsmilizen unterstützt. Die „Operation Würde“ wird vom nationalistischen Parlament in Tobruk und von den arabischen Milizen der Zintan, Warfallah, Qaddafah, Warshefana und Maghariba unterstützt. Nicht-arabische Stämme und Milizen, wie die der Tuareg, Amazigh (Berber) und Toubou streben vor allem nach Autonomierechten und haben sich dazu unterschiedlichen Allianzen angeschlossen. Einige Amazigh und Tuareg kämpfen auf Seiten der „Allianz Morgenröte“, während die Toubou die „Operation Würde“ unterstützen.[11]
„Die Menschen kennen keine Menschlichkeit mehr“
Besonders hervorzuhebende Stammesmilizen sind diejenigen aus Misrata und Zintan. Die Misrata und Zintan leben beide im Westen des Landes und sind schon lange Zeit verfeindet. Während die Misrata-Brigaden die größten militärischen Einheiten der islamistischen „Allianz der Morgenröte“ darstellen, kämpfen die Zintan-Milizen auf Seiten der Operation Würde des nationalistischen Parlamentes von Tobruk. Beiden werden wie vielen weiteren Milizen schwere Menschenrechtsverletzungen und mögliche Kriegsverbrechen von Amnesty International vorgeworfen. Die Liste der Verbrechen ist lang. Darunter befinden sich Entführungen, Brandschatzung, Folter, Massenerschießungen und Angriffe auf dichtbesiedeltes Gebiet sowie Krankenhäuser. Ein libyscher Journalist, der selbst Opfer von Verfolgung wurde, sagt dazu: „Es geht nur noch um Rache. Die Menschen kennen keine Menschlichkeit mehr.“[12]
Menschenrechtsorganisationen werfen fast sämtlichen Kriegsbeteiligten schwere Menschenrechtsverletzungen und mögliche Kriegsverbrechen vor. Seit Jahren fordern sie den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und die internationale Gemeinschaft dazu auf, aktiv zu werden, indem gegen Kriegsverbrecher Reisesperren, Kontensperren oder Gerichtsverfahren eingeleitet werden. Doch nichts ist bisher passiert. Lediglich gegen einen Sohn Gaddafis und einen seiner Unterstützer liegen Haftbefehle vom IStGH vor, die sich allerdings noch auf den Bürgerkrieg von 2011 beziehen. Die Personen sind jedoch nie nach Den Haag ausgeliefert worden. Staatdessen wurden sie in Libyen in einem intransparenten Verfahren zum Tode verurteilt.[13] Die möglichen Kriegsverbrecher des aktuellen Libyenkrieges bleiben dagegen bisher unbehelligt.
„Wenn niemand zur Rechenschaft gezogen wird, dreht sich die Spirale der Gewalt in Libyen immer weiter“, prophezeite die Amnesty-Expertin Hadj-Sahraoui im Oktober 2014.[14] Genau das ist leider eingetreten. Leidtragende sind vor allem die Zivilisten: 40% der Gesundheitsstrukturen sind nicht mehr funktionsfähig und 2,4 Mio. Menschen sind auf irgendeine Form von humanitärer Unterstützung angewiesen.[15]
Besonders hart trifft es dabei auch schwarzafrikanische Flüchtlinge, die sich in Libyen aufhalten, um Geld zu verdienen oder um nach Europa weiterzureisen. Sie sind nicht nur Krieg, sondern auch rassistischer Verfolgung ausgesetzt. Schon während des Bürgerkrieges 2011 wurden viele Flüchtlinge oder Gastarbeiter als vermeintliche Söldner von Milizionären hingerichtet oder gelyncht. Heute sind mehrere tausend Flüchtlinge in Gefängnislagern der Milizen in Libyen eingesperrt und dort Misshandlungen ausgesetzt, wie Tom Westcott in einem erschütternden Bericht aus Misrata aufzeigt.[16]
Militärintervention als Affront gegenüber Menschenrechten
Vor dem Hintergrund dieser Anhäufung von Menschenrechtsverletzungen und möglichen Kriegsverbrechen aller Beteiligten des Bürgerkrieges erscheint eine mögliche militärische Zusammenarbeit mit den Bürgerkriegsakteuren als ein Affront gegenüber den Menschenrechten.
Auf der anderen Seite ist es natürlich essentiell, dass sich die internationale Gemeinschaft dafür einsetzt, dass in Libyen wieder Frieden einkehrt und die Konflikte nicht mehr gewaltsam, sondern auf politischer Ebene ausgetragen werden. Die Kriegserfahrungen der vergangenen Jahre zeigen jedoch, dass Militärinterventionen dazu kontraproduktiv sind. Die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft beim Dialog zwischen den rivalisierenden Kriegsparteien ist dagegen notwendig und die Festigung einer Einheitsregierung könnte den Konflikt abdämpfen. Dabei darf aber auf keinen Fall vergessen werden, dass es sich bei einigen der Akteure um Menschenrechtsverbrecher und möglicherweise Kriegsverbrecher handelt. Den Haag sollte Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen aller Akteure nachgehen und nicht den Eindruck erwecken, als wären Kriegsverbrechen nicht strafbar.
Entscheidend wird für den Friedensprozess sein, ob sich die Hardliner oder die Dialogbereiten innerhalb der Konfliktparteien durchsetzen und ob sich nach Etablierung neuer Staatsstrukturen die Milizionäre entwaffnen und in ein ziviles Leben zurückführen lassen. Ein militärisches Eingreifen der ausländischen Interventionsmächte von 2011 würde den Krieg lediglich erneut verschärfen. Den IS in Libyen zurückzudrängen ist zwar essentiell für die Sicherheitslage der ganzen Region. Bei aller Dringlichkeit dessen darf die Komplexität des Libyen-Konfliktes aber nicht unterschätzt werden. Hass, Trauer und Perspektivlosigkeit sind in der Bevölkerung allgegenwärtig und sollten nicht vergessen werden. Nationale Aussöhnung zwischen den Stämmen und Aufklärung der Kriegsverbrechen haben eine hohe Priorität.
Wenn es keinen dauerhaften Frieden, keine strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrechen und keine Ansätze der Aussöhnung gibt, wird sich der IS die vorhandenen Konflikte zu Nutze machen und wieder erstarken, selbst wenn er aus den Großstädten vertrieben worden sein sollte. Damit ein solches Szenario, das stark an die Taliban in Afghanistan erinnert, nicht eintritt, gilt es von Seiten der Öffentlichkeit darauf zu drängen, aus den Fehlern der Außenpolitik zu lernen und die eigenen Grundsätze der Menschenrechte und Humanität ernst zu nehmen.

Anmerkungen
[1] Mirco Kelberth, Ein Militäreinsatz mit Tücken, taz.de, 01.03.2016.
[2] Von der Leyen hält Libyen-Einsatz für möglich, Zeit Online, 18.01.2016.
[3] Anti-IS-Allianz: Bundeswehr soll libysche Soldaten ausbilden, Spiegel Online, 09.01.2016.
[4] Björn Müller, „Wir wollen fest zugreifen“ – Leiter Politik-Abteilung BMVg zu Libyen, 26.01.2016.
[5] Ulrich Schmid, Das scheiternde Land, Neue Züricher Zeitung, 19.03.2016.
[6] Nikos Tzermias, Geheime Militäreinsätze in Libyen, Neue Züricher Zeitung, 26.02.2016.
[7] Marius Hager, Milizenkrieg in Libyen, Informationsstelle Militarisierung e.V., 19.09.2014.
[8] Rowena Mason, David Cameron was distracted during Libya crisis, says Barack Obama, The Guardian, 11.03.2016.
[9] Jürgen Wagner, Die Clinton-Mails und der Libyen-Krieg, Informationsstelle Militarisierung e.V., 18.03.2016.
[10] Patrick Haimzadeh, Libyen – Der Zweite Bürgerkrieg, Le Monde diplomatique, 09.04.2015.
[11] Jon Mitchell, War in Libya and its futures – Tribal dynamics and civil war, The Red (Team) Analysis Society, 11.05.2015.
[12] Rivalisierende Milizen begehen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, Amnesty International, 30.10.2014.
[13] Monika Bolliger, Todesurteil für Saif al-Islam Ghadhafi, Neue Züricher Zeitung, 28.07.2015.
[14] Kriegsverbrechen in Libyen müssen enden, Amnesty International, 28.01.2015.
[15] UN News Centre, Libya: UN urges humanitarian ceasefires, safe exit of civilians trapped in Benghazi, 11.03.2016.
[16] Tom Westcott, IRIN News, Life inside Libya’s detention centres, 27.05.2015.

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