BERLIN/TRIPOLIS
german-foreign-policy.com vom 05.04.2016 – Der völkerrechtswidrige Abschiebepakt mit der Türkei soll als Vorbild für eine gleichartige Vereinbarung mit den Ländern Nordafrikas dienen. Dies erklärt Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Demnach sollen in Nordafrika „Aufnahmezentren“ errichtet werden, in die künftig Flüchtlinge aus Italien abtransportiert werden. Um die Flüchtlinge in Italien festzusetzen, stehen inzwischen sechs „Hotspots“ bereit – Einrichtungen, deren griechische Modelle vom UNHCR als „Haftzentren“ eingestuft werden. Berlin treibt die Maßnahmen entschlossen voran, um nach der Fluchtroute über die griechischen Inseln nun auch die „Mittelmeer-Zentralroute“ von Libyen nach Italien für Flüchtlinge zu schließen. Über die gestern gestartete Massenabschiebung aus Griechenland in die Türkei liegen bislang nur bruchstückhafte Informationen vor, da Vertreter sowohl von Medien als auch von Menschenrechtsorganisationen nur eingeschränkten, teils sogar gar keinen Zugang zu den Orten des Geschehens hatten. Der Direktor des deutschen Büros von Human Rights Watch urteilt über die Umsetzung des maßgeblich von der Bundesregierung erstellten Abschiebepakts mit Ankara, die EU trete „Menschenrechte mit Füßen“.Menschenrechte mit Füßen getreten
Begleitet von Protesten hat am gestrigen Montag die völkerrechtswidrige Massenabschiebung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei begonnen. Laut Berichten wurden rund 200 Migranten an die türkische Küste transportiert. Über den genauen Ablauf der Zwangsmaßnahmen sind bislang nur bruchstückhafte Informationen verfügbar, da Vertreter von Menschenrechtsorganisationen systematisch ferngehalten wurden und auch Journalisten nähere Einblicke verwehrt wurden.[1] Die britische Presse berichtet, Frontex-Beamte auf den Abschiebeschiffen seien maskiert gewesen; es sei beobachtet worden, dass Flüchtlinge von Polizisten geschlagen worden seien.[2] Größere Zusammenstöße, wie sie die griechische Regierung befürchtet hatte [3], scheinen ausgeblieben zu sein; allerdings erklärte eine Frontex-Sprecherin, man habe am ersten Tag lediglich „die leichten Fälle“ abgeschoben [4] – also offenkundig diejenigen, von denen kein Widerstand zu erwarten war. Der Direktor des deutschen Büros von Human Rights Watch, Wenzel Michalski, erwähnt Berichte, denen zufolge zahlreiche Flüchtlinge „in Handschellen“ abtransportiert worden seien; dies sei bereits „aus Sicherheitsgründen verboten“.[5] Michalski befürchtet, „wenn Lesbos und die anderen griechischen Inseln nicht mehr im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen“, dann werde es ganz offen „zu Menschenrechtsverletzungen kommen“. Die EU gehe „sehenden Auges illegal vor“, urteilt Michalski über die Umsetzung des Abschiebepakts mit der Türkei, den maßgeblich die deutsche Regierung ausgehandelt hat: „Beide Seiten – EU und Türkei – treten Menschenrechte mit Füßen.“
Die Mittelmeer-Zentralroute
Während die völkerrechtswidrige Massenabschiebung in die Türkei morgen fortgesetzt wird, stellt Bundesinnenminister Thomas de Maizière bereits einen weiteren Abschiebepakt nach dem Modell des Deals mit der Türkei in Aussicht – mit den Staaten Nordafrikas. Hintergrund ist, dass die Flucht nach Europa über die „Mittelmeer-Zentralroute“ – von der libyschen Küste nach Italien – im vergangenen Jahr kaum abgenommen hat. Zwar ist die Zahl der Flüchtlinge, die über Griechenland in die EU strebten, der EU-Grenzbehörde Frontex zufolge von 50.830 (2014) auf 885.386 (2015) Personen in die Höhe geschnellt und hat in den ersten beiden Monaten dieses Jahres immer noch hohe Werte erreicht (122.877). Die Anzahl derjenigen, die sich auf die deutlich gefährlichere „Zentralroute“ machten, ging jedoch nur von 170.760 (2014) auf 153.946 (2015) Personen zurück. Trotz des schlechten Wetters überquerten in den ersten beiden Monaten 2016 laut Frontex bereits 8.683 Flüchtlinge das Mittelmeer von der nordafrikanischen Küste aus mit Ziel Italien. Wieviele Menschen in Nordafrika, vor allem in Libyen, auf die Überfahrt in die EU warten, ist nicht zuverlässig bekannt; Schätzungen gehen von einer gut sechsstelligen Zahl an Personen aus, deren Notlage sie vor der hochgefährlichen Mittelmeer-Überfahrt nicht zurückschrecken lässt.
Der Libyen-Plan
Priorität beim Bestreben, die „Mittelmeer-Zentralroute“ zu sperren, hatte in Berlin und Brüssel bislang der Plan, in Libyen eine Einheitsregierung ins Amt zu bringen und sich von ihr zur Flüchtlingsabwehr an die libysche Küste einladen zu lassen (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Der Plan wird weiterhin verfolgt. Welche Erfolgsaussichten er hat, lässt sich mit Blick auf ein Ereignis vom 30. März erahnen. An jenem Tag zog der vom Westen zum künftigen libyschen Regierungschef auserkorene Politiker Fajez al Sarraj in der Hauptstadt Tripolis ein, um dort die Amtsgeschäfte zu übernehmen. Weil bedeutende Hauptstadt-Milizen ihn nicht anerkennen und den Luftraum für ihn sperrten, musste Sarraj per Schiff anreisen und sich im Hafen, den ihm gewogene Kräfte kontrollieren, von derzeit kooperationswilligen Milizen in Obhut nehmen lassen.[7] Das ins ostlibysche Tobruk geflohene libysche Parlament, das internationale Anerkennung genießt, verweigert Sarraj die Unterstützung. Abgesehen vom Fehlen einer anerkannten Regierung werden Teile der libyschen Küste vom „Islamischen Staat“ (IS/Daesh) kontrolliert. Selbst wenn es gelänge, Flüchtlinge unmittelbar beim Einschiffen ins Mittelmeer festzusetzen, bliebe unklar, wie mit ihnen zu verfahren wäre; in Ermangelung einer handlungsfähigen Regierung könnte man sie nur der jeweils regional herrschenden Miliz überstellen. Dies aber hat bislang noch kein Politiker in Berlin respektive der EU offiziell vorgeschlagen.
Vom Haftzentrum ins Lager
Da bislang in Sachen Libyen keine Lösung in Sicht ist, kündigt de Maizière nun an, „ähnliche Lösungen wie mit der Türkei“ in Angriff zu nehmen.[8] Der Innenminister hatte erst vor wenigen Wochen Marokko, Algerien und Tunesien bereist und dort jeweils Übereinkünfte über eine beschleunigte Rücknahme von Migranten getroffen. Alle drei Maghreb-Länder werden von der Bundesregierung seit kurzem als „sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft, was eine Abschiebung von Flüchtlingen weiter vereinfacht.[9] De Maizières „Lösung wie mit der Türkei“ würde bedeuten, dass in Italien ankommende Flüchtlinge zunächst – nach griechischem Modell – in den dortigen Haft-“Hotspots“ festgesetzt werden, bevor sie, sofern sie Asyl begehren, einem Pro-forma-Schnellverfahren unterzogen, dann formell abgewiesen und umgehend nach Nordafrika überstellt werden. Die EU listet mittlerweile sechs „Hotspots“ in Italien auf (Lampedusa, Pozzallo, Porte Empedocle, Augusta, Taranto, Trapani), die bis zu 2.100 Flüchtlinge aufnehmen könnten. Auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Nordafrika, sei die Errichtung von „Aufnahmezentren“ denkbar, in die man Flüchtlinge aus Italien abschieben könne, erklärt de Maizière.[10]
Die Bilanz der Flüchtlingsabwehr
Neben dem schwerwiegenden Völkerrechtsbruch, der darin besteht, dass Flüchtlinge in Länder abgeschoben werden, in denen ihr Schutz nicht gewährleistet ist, bringt die Abschiebepolitik der Bundesregierung die zunehmende Etablierung von Lagern („Hotspots“, „Aufnahmezentren“) mit sich – Einrichtungen, die, wie der Philosoph Giorgio Agamben es formuliert, dem Zweck dienen, unter dem Vorwand des Ausnahmezustands das Recht auszusetzen und damit einen Zustand der Rechtlosigkeit zu perpetuieren. (Auszüge aus Agambens Erörterungen dazu finden Sie hier.) Nicht umsonst verweigert das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR seine Mitarbeit in den Haft-“Hotspots“ der EU.[11] Zudem verstetigt die unter deutschem Druck geformte EU-Flüchtlingsabwehr das Massensterben von Menschen auf den gefährlichen Fluchtrouten – nicht nur im Mittelmeer, sondern auch in der Sahara; dort verdursten immer wieder Flüchtlinge, die von überfüllten Lastwagen fallen oder deren Transportmittel mit Defekten oder ohne Treibstoff liegenbleiben. Laut Angaben des UNHCR sind im vergangenen Jahr über 3.700 Menschen allein bei Flucht über das Mittelmeer ertrunken, im Jahr 2014 mindestens 3.500. Für die Jahre von 2000 bis 2013 rechnen Flüchtlingsorganisationen mit einer Opferzahl von mindestens 23.000, wobei dies auch dokumentierte Todesopfer in der Sahara umfasst. Daraus ergeben sich mehr als 30.000 Todesopfer seit dem Jahr 2000, wobei Experten darin übereinstimmen, dass von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Die Bilanz der deutsch geprägten EU-Flüchtlingsabwehr wiegt schwer.
Mehr zum Thema: Die europäische Lösung (II).
[1], [2] Patrick Kingsley, Helena Smith: First boats returning migrants and refugees from Greece arrive in Turkey. www.theguardian.com 04.04.2016. [3] S. dazu Die europäische Lösung (II).ropäische Lösung (
[4] Patrick Kingsley, Helena Smith: First boats returning migrants and refugees from Greece arrive in Turkey. www.theguardian.com 04.04.2016.
[5] „Eine Reise ins Ungewisse“. www.tagesschau.de 04.04.2016.
[6] S. dazu Gegen Terror und Migration (II).
[7] Christoph Ehrhardt: Versöhner. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.04.2016.
[8] „Gleiche Rechte und Pflichten für alle Ausländer“. www.tagesspiegel.de 03.04.2016.
[9] S. dazu Ein sicherer Herkunftsstaat.
[10] „Gleiche Rechte und Pflichten für alle Ausländer“. www.tagesspiegel.de 03.04.2016.
[11] S. dazu Die europäische Lösung (II).
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen