Das Landesamt für Verfassungsschutz (VS) Bremen hat sich im vergangenen Herbst mit einem ungewöhnlichen Appell an die Bevölkerung gewandt und um konkrete Hilfe im Kampf gegen den grassierenden »Rechtsextremismus« geworben. »Bürgerinnen und Bürger sollten ihr Unbehagen im Kontakt mit einem mutmaßlichen Extremisten nicht für sich behalten oder gar dulden«, so wird der Bremer VS-Behördenleiter Dierk Schittkowski in den Medien zitiert (Weser-Kurier 17.10.19). BürgerInnen sollen auffällige Signale, Äußerungen oder Verhaltensweisen anonym und rund um die Uhr über ein vertrauliches Hinweistelefon oder per Mail bei der Behörde melden (taz 17.10.19; Webauftritt des Bremer VS: https://www.verfassungsschutz.bremen.de/). »Um einer weiteren Radikalisierung frühzeitig entgegenzutreten, brauchen wir die Zivilgesellschaft an unserer Seite. Ohne geht es nicht … Ich wünsche mir, dass wir in einen Dialog eintreten« (Süddeutsche Zeitung 17.10.19). Denn, so der Bremer VS-Chef: »Antifaschisten sind wir doch alle.«
Die Bevölkerung soll also Hinweise auf »Rechtsextremismus« liefern, fordert der Bremer »Verfassungsschutz« in seinem bundesweit einmaligen Appell. Dabei gehe es aber nicht um Bespitzeln oder Denunzieren – doch allein könnten die Sicherheitsbehörden den Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht gewinnen. Zwar räumt der Bremer VS-Chef ein, dass nach der Affäre um den geschassten Ex-Präsidenten des Bundesamts für VS, Hans-Georg Maaßen (CDU), und seine AfD-Affinität sowie nach dem Ermittlungsdesaster im Zusammenhang mit der NSU-Mordserie das Vertrauen der Bevölkerung in den VS langfristig beschädigt sei. Dennoch – oder gerade deshalb? – wolle er den Bremer VS soweit es geht öffnen: »Wir sind kein abgeschotteter Verein, der nur im Geheimen operiert«, geben er und sein Amt sich offen. »Wir sind kein Verfassungsschutz, über den man am besten nicht redet, sondern einer, mit dem man redet« (Weser-Kurier 17.10.19).
Diese Aktion klingt irgendwie nach purer Verzweiflung – ein »Hilferuf« an die Bevölkerung, die den Bremer VS doch bitteschön mit diesem Problem nicht allein lassen soll. So viel ist klar: Es handelt sich um eine Reaktion auf jüngere Attentate und Terrorakte von Rechtsradikalen und Neonazis, wie etwa auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den antisemitisch-fremdenfeindlichen Mordanschlag in Halle. Es ist eine späte Reaktion auf eine verhängnisvolle Rechtsentwicklung mit starken rechtsterroristischen Tendenzen, die mitnichten erst mit der Aufdeckung der NSU-Mordserie sichtbar geworden ist, die der VS in Bund und Ländern aber so lange verharmlost und geleugnet hat. Und es ist wohl auch eine Reaktion darauf, dass es »Rechtsextremisten« zunehmend gelingt, gezielt Einfluss auf Teile der Gesellschaft und auf öffentliche Institutionen zu nehmen – ob bei der Freiwilligen Feuerwehr, in Gewerkschaften, Betriebsräten, sozialen Einrichtungen oder bei Sicherheitsorganen wie Bundeswehr, Polizei, VS-Behörden und Justiz. Längst gibt es das Problem einer Infiltrierung durch rechtsradikale Netzwerke, die in manchen Sicherheitsbehörden bereits ihr braunes Unwesen treiben – eine wirklich ernstzunehmende Gefahr. Auch beim Bremer VS sollen sich schon Menschen mit »extremistischem Hintergrund« auf Stellen beworben haben.
Und angesichts solcher Entwicklungen und Erfahrungen wirbt der Bremer Behördenleiter Dierk Schittkowski nun in der Bevölkerung dafür, ausgerechnet den »Verfassungsschutz« als Teil der Gesellschaft und als Teil der Lösung zu sehen, der Vertrauen und Unterstützung verdiene. Er wünsche sich, dass die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme sinke, damit es einen regelrechten Austausch zwischen Bürgern und Landesamt gebe. Dabei sieht er den VS immer noch als »Frühwarnsystem für die Demokratie«, obwohl er doch in der Vergangenheit als solches ideologie- und systembedingt grandios versagt hat – gerade was organisierten Rechtsextremismus/Neonazismus betrifft. Die langjährige einseitige Prioritätensetzung des VS auf »Linksextremismus«, »Islamismus« und »Ausländerextremismus« hat mit dazu beigetragen, dass die Gefahren des Neonazismus lange Zeit weitgehend ausgeblendet und negiert worden sind.
Wie soll man nun eine solche Vertrauensoffensive und Offenheitsbekundung eines Inlandsgeheimdienstes einschätzen und darauf reagieren? Man könnte angesichts dieses Vorstoßes ja einfach mal aufatmen und »Endlich!« ausrufen: Endlich hat ein Teil des VS – das kleine Bremer Landesamt – das Problem erkannt, nimmt es ernst und holt sich bürgerschaftliche Hilfe. Richtig an dem Vorstoß ist der Aspekt, dass der Kampf gegen Rechtsradikalismus/Neonazismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden muss: Da ist jede und jeder an ihrem, an seinem Platz gefordert, mit erhöhter Wachsamkeit und Sensibilität, zivilgesellschaftlichem Engagement und couragierter Gegenwehr. Dieser Abwehrkampf kann also nicht allein den Sicherheitsbehörden überlassen bleiben, auch wenn sie keineswegs aus ihrer Verantwortung entlassen werden dürfen – im Gegenteil. Doch in der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass es gerade Antifaschisten, antifaschistische Gruppen wie die VVN-BdA (deren Gemeinnützigkeit zynischerweise vor Kurzem aberkannt worden ist) oder Netzwerke gegen Rechts sowie JournalistInnen und WissenschaftlerInnen waren und sind, die die Öffentlichkeit zumeist weit kompetenter über neonazistische Entwicklungen und Gefahren aufgeklärt haben als es der VS mit seinen aufgerüsteten Behördenapparaten, Geheimstrukturen und -befugnissen und mit seinem problematischen V-Leute-System vermochte.
Tatsächlich ist es überaus wichtig, in Zeiten erhöhter Gewalt- und Terrorgefahr von Rechts besonders aufmerksam zu sein und die Bevölkerung entsprechend zu sensibilisieren. Ob aber die missbrauchsanfällige und niedrigschwellige Aufforderung eines Geheimdienstes zur vereinfachten und anonymen Meldung »verdächtiger Wahrnehmungen«, also zum Anschwärzen im reinen Gesinnungs- und Meinungsbereich und im weiten Vorfeld des Verdachts der richtige Weg ist, das kann und muss mit Fug und Recht bezweifelt werden. Darauf sollte eine selbstbewusste und kritische Zivilgesellschaft jedenfalls nicht hereinfallen.
In diesem Zusammenhang sind übrigens die Reaktionen auf den VS-Vorstoß aus Politik und Gesellschaft recht interessant. In den »sozialen Medien« ist zuweilen von »Anstiftung zur Denunziation«, von »Spitzelmentalität« und »tiefem Misstrauen« die Rede, das damit geschürt werde. Grüne und Linke kritisieren das Ansinnen mehr oder weniger offensiv und verweisen auf die »Stärkung demokratischer Werte« und auf »zivilgesellschaftliches Engagement«, das der VS weder ersetzen könne noch solle. Nach Auffassung der Bremer FDP klinge der Vorschlag nach Hilflosigkeit oder »Ohnmacht«; sie setzt demgegenüber auf bessere Aussteigerprogramme und eine besser ausgestattete Justiz. Wohingegen die Bremer SPD den Appell begrüßt, schließlich sei der VS als Frühwarnsystem »unverzichtbar«. Und der CDU-Fraktionssprecher sekundiert: Es sei schließlich Bürgerpflicht, Verdächtiges zu melden. Das stimmt allerdings nur bedingt, nämlich dann, wenn es sich um bestimmte Straftaten beziehungsweise Verbrechen handelt; nur dann besteht eine gesetzliche Pflicht zur Anzeige, allerdings bei Polizei oder Staatsanwaltschaft – und eben nicht beim VS, dessen Aufgabe als geheimdienstliche Vorfeld-Institution es ist, den Gesinnungs- und Meinungsbereich auszukundschaften.
Die Zivilgesellschaft für präventive Zwecke eines Geheimdienstes einzuspannen, womöglich Inoffizielle Mitarbeiter heranzuziehen, die Zivilgesellschaft in die Pflicht zu nehmen und so mitverantwortlich zu machen – das geht tatsächlich zu weit. Denn trotz aller Bemühungen um Offenheit, für die der Bremer VS-Amtsleiter stehen mag, muss man sich doch immer wieder klarmachen: Auch der Bremer »Verfassungsschutz« ist ein Problemfall der Demokratie. Es handelt sich trotz seines euphemistisch klingenden Tarnnamens um einen Geheimdienst mit klandestinen Strukturen, Mitteln und Methoden, der demokratischen Prinzipien widerspricht und skandalgeneigt arbeitet. Ein demokratisch nur schwer kontrollierbarer Inlandsgeheimdienst mit der Lizenz zur Desinformation, Infiltration und Ausforschung im weiten Vorfeld des Verdachts. Er ist und bleibt, so wie die anderen VS-Behörden auch, Fremdkörper in der Demokratie und eine potentielle Gefahr für Bürgerrechte, Demokratie und Verfassung. Diese Geheiminstitutionen sind über ihre bezahlten und kriminellen Nazi-Spitzel, über ihr unkontrollierbares V-Leute-System längst Teil des Neonazi-Problems geworden, haben jedenfalls insoweit mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht: Denn sie haben auf diese Weise rechtsextreme Szenen und Parteien letztlich mitfinanziert und rassistisch geprägt, kriminelle V-Leute gegen Polizeiermittlungen abgeschirmt und sich selbst mit Aktenschredderei und Vertuschungen gegen demokratische Kontrollen geschützt. Grundsätzliche Änderungen sind leider nicht in Sicht – allenfalls weitere Verschärfungen der prekären Situation durch Gesetzesnovellierungen, Befugniserweiterungen und Ausbau der VS-Behörden.
Rolf Gössner, Mitherausgeber von Ossietzky, ist Rechtsanwalt, Publizist und Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Rolf Gössner wurde vier Jahrzehnte lang vom Bundesamt für Verfassungsschutz dauerüberwacht – grundrechtswidrig, wie zuletzt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (2018) nach 13-jähriger Verfahrensdauer in 2. Instanz entschied (s. unter anderem Ossietzky 22/2010, 2/2012, 24/2015, 6/2018). Gegen dieses Berufungsurteil hat die Bundesregierung Revision zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt. Ende und Ausgang ungewiss.
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