Mittwoch, 26. Februar 2020

Nach dem Sturz der Diktatur im Sudan: Umkämpfter Alltag


Zur Ikone der Bewegung im Sudan geworden: Der Zug aus Atbara bringt Demostranten nach Khartum„… Eines Nachmittags hasteten die Menschen auffällig früh zu den überfüllten Bussen; Schusswechsel war zu hören, Putschgefahr lag in der Luft. Eine Erhebung des Geheimdienstes der Bashir-Zeit; die Nacht hindurch waren schwere Waffen zu hören, dann galt die Rebellion als niedergeschlagen. Einige Beherzte hatten sich voller Zorn sogar mit bloßen Händen auf bewaffnete Provokateure gestürzt. Aus der Ferne betrachtet tat sich mit der sudanesischen Revolution ein völlig neues Bild einer Gesellschaft auf, die als konservativ, verschlossen, vormodern gegolten hatte. Vor Ort wird man sich hingegen sofort der historischen Schichtungen bewusst. Der Sudan hat in die wenigen Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit von 1956 einiges an Umstürzen und Diktaturen hineingepresst – wenn ein Stadtteil heute Ath-Thaura heißt, ist damit nicht etwa die jüngste Revolution, sondern eine frühere gemeint. Sogar Kinder kennen die gereimten Slogans, die aus vergangenen Erhebungen in die Gegenwart hineinranken, und selbst die maßgebliche Beteiligung der Frauen am Sturz von al-Bashir stand auf den Schultern früherer Generationen: Die Sudanesinnen führten bereits seit den 1940er Jahren bemerkenswerte Kämpfe um Gleichberechtigung…“ – aus dem Beitrag „Bittersüße Lehren“ von Charlotte Wiedemann am 08. Februar 2020 in der taz online externer Link zur Lage rund ein Jahr nach Beginn der erfolgreichen Widerstandskampagne gegen die Bashir-Diktatur. Siehe dazu eine kleine Sammlung von Beiträgen zu aktuellen Entwicklungen und umkämpften Fragen (inklusive zur Auseinandersetzung darum, wie die Gewerkschaften zu reformieren seien) sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Entwicklung im Sudan nach dem Sturz der Diktatur und der Bildung der Übergangsregierung:
„Der lange Kampf“ von Meret Michel am 19. Februar 2020 bei Surprise.ngo externer Link berichtet vom entscheidenden Beitrag der Frauen im sudanesischen Kampf gegen die Diktatur – und dem Andauern dieses Kampfes: „… Als der Aufstand im Dezember 2018 begann, hatte Rayan Mahmud wochenlang an den Demonstrationen teilgenommen, ohne ihrer Familie davon zu erzählen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater es ihr nicht erlauben würde aus Angst, es könnte ihr etwas geschehen. Doch Mahmud war das egal. Sie setzte grosse Hoffnungen in die Revolution: Sie glaubte, dass diese neue Einheit während der Demonstrationen – zwischen Männern und Frauen, zwischen Sudanesinnen aus allen Regionen des Landes – anhalten würde. Zusammen mit anderen jungen Frauen in ihrem Quartier gründete sie eines der Widerstandskomitees in al-Hajj Yussif. Diese Komitees entstanden während der Revolution in den verschiedenen Stadtteilen, sie brachten die Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, hier organisierten und engagierten sie sich. In al-Hajj Yussif etwa bauten sie neue Wasserleitungen und zogen Stromkabel zu den Häusern, nachdem das Regime ihnen Wasser und Strom abgestellt hatte. Es war nur eine von vielen Bosheiten, mit denen Keizan versuchte, die Menschen hier dafür zu bestrafen, dass manche sich auflehnten. Doch dann wurden Mahmud und die anderen Frauen aus dem Komitee geworfen. Als es im Quartier eine Wahl gab dazu, wer künftig im Komitee sitzen sollte, habe eine Gruppe von Männern zu den Frauen gesagt, dass ihre Rolle nun vorüber sei. «Sie meinten, wir Frauen könnten am Abend ja ohnehin nicht mehr das Haus verlassen. Dabei stimmt das gar nicht», sagt Mahmud. Die junge Frau ist stur. Sie und die anderen Gründerinnen stellten sich dennoch zur Wahl, und Mahmud ist sich sicher, dass sie gewählt wurde: Die Wahl erfolgte per Handzeichen. Dennoch stand ihr Name nicht auf der Liste der neuen Mitglieder. Mahmud glaubt, dass die Männer, die dahintersteckten, von Anhängern des alten Regimes instrumentalisiert wurden, um die Frauen loszuwerden: ein konterrevolutionärer Putsch. «Sie wissen, dass sie uns nicht bestechen können, deswegen wollten sie uns raushaben», sagt sie. «Denn wir Frauen haben zu sehr unter dem Regime gelitten, als dass wir uns jetzt von ihm kaufen lassen.» Mahmud ist, bisher zumindest, enttäuscht von der Revolution. Zwar zeugen in al-Hajj Yussif bis heute diverse Wandmalereien von dem Wandel, in dem sich das Land nach dreissig Jahren Diktatur gerade befindet. Doch Mahmud musste feststellen, dass sich das Gefühl der Einheit an den Demonstrationen kaum im Alltag niederschlug. Gerade für die Frauen im Quartier habe sich kaum etwas geändert hat. Selbst wenn sie studieren, wie Mahmud und viele ihrer Freundinnen, würden sie dennoch im Haushalt verschwinden, sobald sie heirateten. Mahmuds Strategie ist deswegen pragmatisch: vorerst nicht zu heiraten…“
Armed rebel groups in Sudan agree to talks for formation of crucial legislative council“ am 04. Februar 2020 bei Peoples Dispatch externer Link berichtet von einem Vorgang, dessen Vollzug ohne Zweifel ein echter Fortschritt für die Menschen im Sudan wäre. Die Sudanese Revolutionary Front (SRF), eine Dachorganisation einer ganzen Reihe bewaffneter Widerstandsgruppen in den „Grenzgebieten“ des Sudan erklärte sich bei einem Treffen mit einer zivilen Delegation der Übergangsregierung bereit, Verhandlungen über eine Beendigung des bewaffneten Widerstands aufzunehmen. Nun brauchen die SRF wahrlich niemand, der ihnen erzählt, wer alles noch in der Übergangsregierung „tätig“ ist – etwa jene Milizen, die im Auftrag der Diktatur den unmenschlichen Krieg gegen sie führten – aber wichtig daran ist einerseits ihre Bereitschaft, zu verhandeln, und andrerseits, dass sie offensichtlich die Einschätzung teilen, dass der zivile, demokratische Teil dieser Regierung offensichtlich stark genug ist, bestimmte zentrale Absichten auch durchzusetzen.
„Govt, SRF groups sign eastern Sudan agreement“ am 21. Februar 2020 bei der Sudan Tribune externer Link berichtet von einem ersten Abkommen, das aus den oben berichteten Verhandlungen entstand: Die Gruppierungen der SRF werden an der Übergangsregierung beteiligt und ihre Vorschläge zur Entwicklung der Regionen als Grundlage künftiger Regierungsarbeit in diesem Bereich akzeptiert.
„Footage of today’s students protest in PortSudan against higher bus fare prices“ am 19. Januar 2020 im Twitter-Kanal von Ramadan Kareem externer Link  ist ein kurzes Video über eine Protestdemonstration von SchülerInnen und Studierenden in Port Sudan gegen die Erhöhung der Preise im Nahverkehr der Stadt – solche Demonstrationen um soziale Fragen und Probleme nehmen im ganzen Land zu – und sind, neben den direkt dabei vertretenen Anliegen, auch ein Beweis dafür, dass es tatsächlich Fortschritte gegenüber den Zeiten der Diktatur gegeben hat.
„Protests in North Darfur and Kassala against fuel shortages and corruption“ am 21. Februar 2020 bei Radio Dabanga externer Link berichtet von einer weiteren der inzwischen verbreiteten Protestaktionen: Hier in Nord-Dafur (wo Demonstrationen zu Diktaturszeiten undenkbar waren)  wegen Energieknappheit und Korruption.
„Sudan: Authorities launch investigation into Thursday’s clashes“ am 22. Februar 2020 beim Middle East Monitor externer Link berichtet von der großen Demonstration am Tag zuvor in Khartoum auf der mehrere Tausend Menschen die Umstrukturierung der Armee forderten: Auflösung der Milizen, Entlassung der Offiziere, die gegen die Proteste vorgegangen waren und Wiedereinstellung jener, die entlassen worden waren, weil sie genau dies verweigert hatten und die Bildung einer neuen einheitlichen sudanesischen Armee. Dagegen waren Polizeikräfte vorgegangen und die Regierung ließ verbreiten, es werde eine unparteiliche Untersuchung der Vorfälle geben.
„Communist Party of Sudan decries dissolution of unions“ am 09. Januar 2020 bei Radio Dabanga externer Link berichtet von der Stellungnahme der KP Sudan zum Beschluss des Anti-Korruptions-Komitees der Übergangsregierung, die Tätigkeit bestehender Gewerkschaften zu beenden, deren Büros zu schließen, Konten zu sperren und untersuchen, und ein neues Gewerkschaftsgesetz vorzubereiten. Eine wirkliche Reform des Gewerkschaftswesens im Sudan könne nicht per bürokratischen Akten geschehen, sondern müsse mit Vollversammlungen der Gewerkschaftsmitglieder beginnen, die sich eine neue Führung wählen, während die Übergangsregierung die Aufgabe habe, die Gewerkschaftsgesetzgebung der Diktatur aus den Jahren 2004 und 2010 für nichtig zu erklären.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=163385

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