„… Doch trotz der nun seit einem Jahr andauernden Proteste findet die algerische Gesellschaft keinen Weg aus der Krise und es bleibt zunächst einmal ungewiss, wie ein demokratischer Erneuerungsprozess initiiert werden kann. Denn in Algerien – wie auch in den anderen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas, die in den letzten zehn Jahren tiefgreifende Erschütterungen durch massenhafte Protestbewegungen erfuhren – handelt es sich nicht einfach um eine politische Legitimitätskrise der Regierung, die durch eine neue Verfassung, Neuwahlen oder der Reorganisierung der politischen Klasse gelöst werden kann. Der ganze Apparat der politischen Repräsentation, der aus dem Unabhängigkeitskampf gegen den französischen Kolonialismus (1954-1962) entstanden ist, entspricht seit langem nicht mehr den sozialen und politischen Bedürfnissen der Mehrheit der algerischen Bevölkerung. Hinzu kommt, dass das ökonomische Akkumulationsregime, das fast ausschließlich auf die Ausbeutung der Erdöl- und Erdgasreserven basiert, seit geraumer Zeit an seine Wachstumsgrenzen stößt. Es geht also um ein komplexes Zusammenspiel von einer tiefen Krise der politischen Repräsentation und einer blockierten ökonomischen Entwicklung. Beides verhindert eine demokratische Erneuerung. (…) Die Ausbeutung von Schiefergas im Süden des Landes hat schon vor fünf Jahren zu Protesten gegen Umweltzerstörung und gegen den französischen Multi Total geführt. Denn Total setzt alles daran, in der Produktion von Schiefergas auf dem afrikanischen Kontinent eine zentrale Rolle zu ergattern, gerade weil die Ausbeutung von Schiefergas aufgrund der desaströsen Konsequenzen für Bevölkerung und Natur (massive Verschmutzung des Grundwassers) in Frankreich seit 2011 verboten ist...“ – aus dem Beitrag „Jahr Eins des algerischen Hirak“ von Maurizio Coppola am 21. Februar 2020 beim re:volt magazine , der ausführlich die verschiedenen Dimensionen der Krise und der Demokratiebewegung behandelt. Zum Jahrestag der Demokratiebewegung in Algerien eine kleine Zwischenbilanz in Form von sechs weiteren Beiträgen, die sich sowohl den Reaktionen des Regimes, als auch besonderen Gruppierungen, die an den Protesten beteiligt sind, wie den Meldungen über aktuelle Proteste und Repressionsmaßnahmen gegen verschiedenste Akteure, auch die Gewerkschaften – und der Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zum Thema:
„Ein bewegtes Jahr“ von Sofian Philip Naceur am 21. Februar 2020 in der jungen welt führt unter anderem aus: „… Präsident gestürzt, Regierung abgesetzt und Dutzende Vertreter des Machtzirkels vor Gericht gestellt – das ist die vorläufige Bilanz der seit einem Jahr ununterbrochen andauernden Massenproteste in Algerien. Anlässlich ihres Jahrestags am 16. Februar erhält die Bewegung – im Land arabisch Hirak genannt – erneut verstärkten Zulauf. So wird auch heute wieder in unzähligen Städten Algeriens mit einer starken Mobilisierung gerechnet. (…) Seinen jüngsten Text für das Magazin Orient XXI betitelte der Journalist Akram Belkaïd sinnbildlich mit »Das Jahr II der algerischen Revolution« – eine Anspielung auf den aus dem französischen »Überseedépartement« Martinique stammenden antikolonialen Vordenker Frantz Fanon. Dieser hatte sich in den 1950ern in Algeriens Unabhängigkeitsbewegung an der Seite der Nationalen Befreiungsfront (FLN) engagiert und die vielbeachtete Schrift »Das Jahr V der algerischen Revolution« veröffentlicht. Kurz vor Kriegsende 1961 warnte Fanon eindringlich, dem Land stehe keine echte Unabhängigkeit bevor. Die FLN drohe die Herrschaftsverhältnisse nicht abzuschaffen, sondern das französische Kolonialregime nur zu ersetzen. Die schon damals immer autoritärer agierende FLN hat seither – wie von Fanon befürchtet – politische und wirtschaftliche Macht und Privilegien im Land monopolisiert und die autokratischen Verhältnisse reproduziert. Eine sich indirekt aus Fanons Diskurs speisende Gleichsetzung des Kolonialregimes mit der seit 1962 ununterbrochen von Militär und FLN angeführten Staatsklasse ist seit Monaten omnipräsent auf Algeriens Straßen…“
„Generation der Frauen ohne Angst“ von Leïia-Anne Ouitis am 02. Januar 2020 in der Graswurzelrevolution (Ausgabe 445) unter anderem über die Anliegen der Frauen und ihre Rolle in der Demokratiebewegung: „… Tatsächlich gibt es seit der Kolonialzeit eine Dualität sowohl laizistischer wie auch religiöser Bestandteile im Recht Algeriens. Juristisch werden die algerischen Frauen auf zwei Formen des Status aufgeteilt: Die Verfassung definiert sie als den Männern rechtlich gleichgestellt, doch der zweite Status, das Familiengesetz von 1984, setzt sie unter die Vormundschaft des Vaters und des Ehemanns. So sind sie zum Beispiel dazu verpflichtet, sich an einen Vormund („wali“) zu wenden, wenn sie einen Heiratsvertrag abschließen wollen. Geschiedene Frauen verlieren das Sorgerecht, wenn sie erneut heiraten; eine Heirat wird für null und nichtig erklärt, wenn der Ehemann als „vom Glauben abgefallen“ (Apostasie) gilt. Darüber hinaus werden noch immer bestimmte Formen der Polygamie oder der des Verstoßens von Frauen aus der Familie anerkannt. Das Erbrecht bleibt den Normen des religiösen Rechts unterworfen und bedeutet faktisch eine Ungleichheit der Erben verschiedener Geschlechtszugehörigkeit. Der Druck der Frauen und Feministinnen hat in den letzten zehn Jahren zu ein paar juristischen Verbesserungen geführt. So wurde es Frauen zum Beispiel in einem Gesetz des Jahres 2015 ermöglicht, gegen häusliche Gewalt zu klagen. Aber dieses Gesetz beinhaltet eine inakzeptable Klausel, denn im Falle einer „Entschuldigung“ wird jedes Verfahren gegen den Aggressor eingestellt – was die Tür für alle Arten psychischen Zwangs gegen die Frauen öffnet. Gleichzeitig gibt es einen internationalen Kontext, in dem die Akkumulationszentren, die durch die kapitalistische Krise bedroht werden, feministische Argumentationslinien für ihre strukturellen Machtinteressen instrumentalisieren. Das führt zu einer Vielzahl an Widersprüchen innerhalb der algerisch-feministischen Strömungen. Tatsächlich ist Algerien ein Staat, der hauptsächlich durch die Ölrente existiert und dadurch von Weltmarktschwankungen abhängig ist. Ganze Sektoren der algerischen Ökonomie sind noch immer nicht privatisiert und nähren den Appetit der internationalen Machtinteressen. Angesichts kulturalistischer und rassistischer Mythen über den Islam, von denen der Westen geradezu besessen ist, ist ein kritischer Blick auf die Geschichte dieses Familiengesetzes aus der Zeit der Achtzigerjahre und im Zusammenhang mit der damaligen Perestroika vonnöten…“
„»Junge Menschen sollen dieses Land regieren«“ am 16. Januar 2020 in der jungle world war ein Interview von Astrid Schäfers mit dem Historiker Amar Mohand-Amer von der Universität Oran, worin dieser unter anderem ausführt: „… Seit dem 22. Februar 2019 haben die Algerierinnen und Algerier klargemacht, dass sie gegen ein System sind, in dem von vorneherein feststeht, wer bei Wahlen gewinnt. Dennoch sind einige Menschen wählen gegangen. Manche sind immer noch empfänglich für die offizielle Doktrin, die ihnen Stabilität und Kontinuität verspricht. Ich glaube nicht, dass die amtlich vermeldete Wahlbeteiligung die Wirklichkeit widerspiegelt. Die Mehrheit hat die Wahlen boykottiert. Die algerische Protestbewegung Hirak will einen Regimewechsel und fordert die Schaffung neuer, demokratischer Institutionen. Die jungen Menschen sollen die Chance bekommen, das Land zu regieren. Die Demonstrierenden möchten in einer Gesellschaft leben, in der die Justiz und die Gesetze die Säulen des Staates sind. Junge Algerierinnen und Algerier haben keine Hoffnung und ziehen es vor, ihr Leben zu riskieren, um mit Schiffen nach Europa aufzubrechen, um dort ihr Glück zu versuchen. Die Mitglieder des Hirak sind es leid, passiv und arbeitslos zu sein. Sie möchten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ist die größte Lehre, die wir aus diesen Protesten ziehen können...“
„Algérie : l’élection présidentielle a‑t-elle eu lieu ?“ von Nadir Djermoune am 16. Februar 2020 bei Ballast ist ein Beitrag, der sich die katastrophale Wahlfarce des Regimes unter dem Gesichtspunkt anschaut, welche politischen Auseinandersetzungen der herrschenden Kreise Algeriens dabei sichtbar werden – daran, dass der „Sieger“ weder der Kandidat des Oberkommandos war, noch aus einer der beiden Parteien kam, die im Zentrum der Macht stehen. Diese Wahl habe ersichtlicherweise nicht dazu beigetragen, die Demokratiebewegung zu täuschen, die Proteste gehen weiter. Sie habe aber deutlich gemacht, dass sowohl der bisherige Kurs der neoliberalen „Reform“ fortgesetzt werden solle, als auch von denselben Gruppierungen, allerdings mit einer veränderten politischen Rolle, die Militär und die sozialen „Netze“ der Ausbeutung direkter an die Öffentlichkeit bringen muss.
„La police utilise le canon à eau“ am 22. Februar 2020 im Twitter-Kanal von Interlignes ist ein kurzes Video von der Demonstration am Freitag, 21. Februar in Algier – wo die Polizei mit Wasserwerfern den Zug zum Präsidentenpalast verhindern konnte – und nebenbei sichtbar wird, dass die Beteiligung an der Demonstration nach wie vor massenhaft ist…
„Algérie: Répression d’une manifestation d’enseignants“ am 21. Februar 2020 bei Secours Rouge berichtet von einer Demonstration der streikenden Lehrerinnen und Lehrer der Grundschulen, die ebenfalls von der Polizei angegriffen wurde – eine Vorgehensweise, die in den letzten Wochen gegenüber gewerkschaftlichen Aktionen immer „üblicher“ wird (siehe den Verweis auf unseren letzten Beitrag dazu:)
- Zum algerischen Hirak zuletzt: „Das algerische Regime lässt weitere Büros unabhängiger Gewerkschaften schließen – und weitere ihrer Aktivisten festnehmen“ am 14. Februar 2020 im LabourNet Germany
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=163388
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