Mit einem Schlag war die deutsche Selbstgewissheit dahin, alles Notwendige zur Bewältigung der NS-Vergangenheit getan zu haben. Drei Sätze des israelischen Präsidenten Reuven Rivlin genügten, um Deutschland 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz vor Augen zu führen, vor welchem Problem es bei der Bekämpfung des Antisemitismus steht: »Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen nicht nachlassen. Deutschland darf hier nicht versagen.« So geschehen im Deutschen Bundestag am 29. Januar während der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus. Der Gedanke eines möglichen Versagens wäre Rivlin vermutlich nicht gekommen, würden die Überlebenden des Holocaust nicht von der Sorge getrieben, in Deutschland könnte möglicherweise doch geschehen, was nicht geschehen darf.
Diese Angst scheint auch den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier umzutreiben, hatte er zuvor doch gesagt: »Ich wünschte, ich könnte – erst recht vor unserem Gast aus Israel – heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden. Unsere Selbstgewissheit war trügerisch […] Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand.« Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble kleidete seine Sorge in die Worte, Auschwitz zeige, »wie verführbar wir sind«. Immer noch gebe es Versuche, »das Verbrechen umzudeuten oder kleinzureden«.
Diese Versuche gibt es nicht erst, seit ein Björn Höcke vom rechten Flügel der AfD die Erinnerung an den millionenfachen Mord an Frauen, Männern und Kindern als »dämliche Bewältigungskultur« verunglimpft. Es hat sie gegeben, seit es die Bundesrepublik Deutschland gibt, unternommen auch von Leuten, die sich nach außen hin als Verteidiger der Demokratie gaben, in Wirklichkeit aber mit ihren schlimmsten Feinden im Bunde waren, wie etwa der Mitverfasser des Standardkommentars zum Grundgesetz, Theodor Maunz. Solche Wölfe im Schafspelz gibt es auch heute noch, und sie sind nicht weniger gefährlich als die gestiefelten Neonazis, die ihren Antisemitismus auf offener Straße herausplärren. Ein anderer spielte nach außen hin den obersten Verfassungsschützer und beriet gleichzeitig heimlich die AfD, wie sie sich am besten unangreifbar macht. Und dann auch noch das: In sensiblen Bereichen der Bundeswehr wie dem Kommando Spezial-Kräfte (KSK) sind Neonazis häufiger anzutreffen als anderswo.
Etwas scheint schiefgelaufen zu sein beim Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Offensichtlich wird Deutschland irrtümlicherweise anderen Völkern als Vorbild bei der Bewältigung der Vergangenheit hingestellt. Ausgerechnet einen Tag vor den Gedenkfeiern für die Opfer des Naziregimes wurden die Ergebnisse einer Umfrage bekannt, wonach 22 Prozent der Deutschen meinen, das Holocaust-Gedenken nehme im Vergleich zu anderen Themen zu viel Raum ein. Das heißt, Millionen Deutsche hängen immer noch oder schon wieder einer Denkweise an, die zu Auschwitz geführt hat.
Nichts ist gut in Deutschland, möchte man da in Anlehnung an Margot Käßmanns »Nichts ist gut in Afghanistan« sagen. Als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands scheuchte sie damit vor zehn Jahren die gesamte politische Klasse in Deutschland auf. Gelänge Ähnliches doch auch Frank-Walter Steinmeier! Steht doch immer noch die Mahnung des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi im Raum: »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«
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