Mittwoch, 23. August 2017

[Chiapas98] Ausnahmsweise FAZ: Interview mit Juan Villoro (FAZ v. 18.8.2017)

Interview mit Juan Villoro: Karneval in der Apocalypse

Ein nicht enden wollendes Grauen hält Mexiko in seiner Gewalt. Doch nur wenige trauen sich, ihre Stimme zu erheben. Der Schriftsteller Juan Villoro spricht über korrupte Politiker, beliebte Drogenbosse und den richtigen Weg im Kampf gegen die Narcos.
 von 

Señor Villoro, Sie haben geschrieben, in Mexiko werde die Demokratie bestimmt durch ein „Klima der falschen Teilhabe“. Was meinten Sie damit?
Das Land ist 71 Jahre lang ununterbrochen von derselben Partei regiert worden, der PRI. Als im Jahr 2000 dann der demokratische Wechsel gelang, glaubten viele Mexikaner, nun könnten sie stärker als bisher partizipieren. Was stattdessen passierte: Die politischen Parteien haben die Politik gekidnappt. Das heißt vor allem, dass sie sich großzügig finanzielle Mittel genehmigen. Wir haben eine der teuersten Demokratien der Welt, die Wahlkämpfe dauern monatelang, alles durch den Staat finanziert. In diesem System haben sich die Parteien eingerichtet. Sie profitieren davon – alle.
Der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto hat sehr schlechte Beliebtheitswerte und ist in mehrere Skandale verwickelt, angefangen von einer plagiierten Abschlussarbeit bis zu massiven Foltervorwürfen. Wie kann es sein, dass er immer noch im Amt ist?
Die mexikanische Gesellschaft ist eine Gesellschaft des Gehorsams, in der die Leute oft Angst haben, sich einzubringen oder aufzubegehren. Die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza spricht von „militanter Apathie“. Das heißt: Die Menschen bleiben apathisch, um keine Probleme zu bekommen, um sich vor dem Staat zu schützen. Bestenfalls schreiben sie mal einen Tweet oder einen Post auf Facebook. Dabei sollte ein Präsident, der für so viele Desaster verantwortlich ist wie Peña Nieto, tatsächlich nicht mehr im Amt sein. Man denke nur an den Empfang des damaligen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump in Mexiko: ein schwerer Fehler.
Warum?
Weil der Empfang dazu beitrug, dass Trump Präsident wurde. Ich war damals in den Vereinigten Staaten. Die Republikaner waren von Trump alles andere als begeistert. Aber nach seinem Mexiko-Besuch haben sie zu mir gesagt: „For the first time he looked presidential“ – zum ersten Mal sah er aus wie ein Präsident. Diese Gelegenheit hat ihm unser Präsident verschafft.
Peña Nieto gehört der PRI an. Hat die Partei durch den zwischenzeitlichen Regierungswechsel an Macht eingebüßt?
Nein. Die Macht in Mexiko liegt in den Regionen: in den Rathäusern, bei den Drogenbossen, mit denen sie kooperieren, bei den Gouverneuren. Die meisten Gouverneure kommen nach wie vor von der PRI.
Bei der jüngsten Wahl im wichtigsten Staat des Landes, dem Estado de Mtixico, hat der Kandidat der PRI Geldkarten an die Wähler verteilt, die sich im Fall seines Wahlsieges aktivieren sollten.
Die PRI hat ein korruptes, patrimoniales System geschaffen. Auch Peña Nieto hat in seinem Wahlkampf den Leuten direkte materielle Vorteile versprochen. Das wollen viele Menschen. Denn in unserem hierarchischen System, das einer Pyramide gleicht, sind sie daran gewöhnt, dass die Zuteilungen von oben kommen. Viele interessiert es dann nicht, ob der Zuteiler korrupt ist oder nicht. Deswegen genießt der Drogenhandel in Mexiko auch eine gewisse soziale Anerkennung. Die Narcos, wie wir die Drogenbosse nennen, werden ja nicht überall verabscheut, sondern an manchen Orten sogar bewundert. Weil sie mit dem Drogengeld auch Krankenhäuser finanzieren oder Straßen bauen. Octavio Paz hat die Figur des helfenden Anti-Heros 1979 in einem Buch beschrieben. Auf Deutsch heißt es: „Der menschenfreundliche Menschenfresser“.
Der Journalist Javier Valdes Cárdenas, der vor kurzem ermordet worden ist, bezeichnete Mexiko als „Narco-Staat“. Hatte er recht?
Je nach Bundesstaat trifft das mal mehr, mal weniger zu. Aber im Grunde stimmt seine Einschätzung. Zum Beispiel die Golfregion: Seit 15, 20 Jahren sind alle Parteien, die dort Politik machen, mit dem Drogenhandel verbandelt. Auch Sinaloa, Javiers Heimat, ist von der Drogenkriminalität total infiltriert. Ich habe mit ihm mehrmals über diese Dinge gesprochen.
Sahen die Drogenbosse in ihm eine Gefahr fürs Geschäft?
Die Bosse kümmert es wenig, wie sie von Journalisten gesehen werden. Wer aber sehr wohl Angst vor Journalisten hat, sind Unternehmer, Soldaten, Polizisten, Politiker. Sie fürchten, dass ihre Beziehungen zu den Narcos auffliegen. Ich glaube deshalb, dass die, die Javier töten ließen, Leute der Regierung sind.
Wenn Sie so etwas öffentlich sagen: Haben Sie da nicht auch Angst um Ihr Leben?
Javier sagte mal: Du musst nicht bedroht werden, um zu wissen, dass sie dich töten wollen. Tatsächlich leben viele von uns mit Drohungen, auch ich. Das betraf bisher aber stärker die Journalisten, die in der Provinz arbeiten, vor allem die unbekannten. Der Mord an Javier, der ein international bekannter Journalist war, markiert so gesehen eine neue Eskalation. Er war übrigens kein Verrückter, kein Draufgänger. Er passte sehr gut auf, was er sagte.
Kann man etwas tun, um den Kampfgegen die Narcos doch noch zu gewinnen?
Wir müssen die Geldflüsse besser erforschen, um zu erfahren, wer wie tief mit im Sumpf steckt. Kolumbien hat das gemacht. In der Folge wurde dort ein Drittel der Abgeordneten verhaftet. Das war hart. Aber noch härter ist es, wenn man nicht weiß, wer mit den Narcos zusammenarbeitet. Das ist die Situation in Mexiko.
Was halten Sie davon, den Drogenhandel mit dem Militär zu bekämpfen?
Der frühere Präsident Felipe Calderón von der Partei PAN hat 2006 zwei Wochen nach seiner Wahl den Krieg gegen den Drogenhandel erklärt. Das war ein riesiger Fehler. Er hatte diesen Krieg im Wahlkampf nicht angekündigt, er hatte über ihn nicht mit seiner Partei beraten, er hatte ihn nicht vor den Kongress zur Abstimmung gebracht. Das war ein Ein-Personen-Krieg, mit dem Zweck, die damaligen Debatten über einen möglichen Wahlbetrug in den Hintergrund zu drängen.
Wie ist die Bilanz dieser Politik?
Mehr als 100.000 Tote, mehr als 30.000 Verschleppte in sechs Jahren – und die Rauschgift-Syndikate sind stärker denn je. Calderón wollte eine militärische Lösung für ein komplexes soziales Problem. Das konnte nicht gutgehen. Er selbst hat in einer Rede mal gesagt, es gebe in Mexiko mehr als sieben Millionen „Ninis“, das sind Jugendliche, die weder arbeiten noch studieren, die keinerlei Perspektiven haben.
Und was hat er dagegen gemacht?
Nichts. Man muss diesen Kindern Alternativen bieten: berufliche, sportliche, kulturelle, religiöse. Wenn man das nicht tut, ist die nächstliegende Quelle für Geld und Prestige eben der Drogenhandel.
Donald Trump sagte über die Mexikaner, sie brächten Drogen und Kriminalität nach Amerika.
Das sagt der Präsident des Landes, das der größte Waffenproduzent und der größte Drogenkonsument der Welt ist. Wir Mexikaner kennen unsere Narcos mit Vor- und Zunamen, in den Vereinigten Staaten bleiben die Profiteure des Drogenhandels im Verborgenen. Auch auf anderen Feldern ist die Politik der Amerikaner heuchlerisch. Sie wissen, sie brauchen mexikanische Arbeitskräfte, und gleichzeitig verhindern sie, dass die Mexikaner auf legale und regulierte Weise in ihr Land kommen können. Barack Obama hat mehr Mexikaner deportiert als jeder andere amerikanische Präsident. Er machte das freundlich, wie er alles freundlich machte, aber am Ende war er das lächelnde Gesicht der Deportation. Trump hat sich auf diese Situation draufgesetzt und eine schreckliche Rhetorik begonnen, die er bis heute nicht aufgegeben hat, rassistisch und diskriminierend gegenüber Mexiko.
Was wir bisher besprochen haben, klingt alles ziemlich dramatisch. Wie passt dazu, dass man in Mexiko trotz allem ein schönes Leben und viel Spaß haben kann?
Mexiko ist ein schizophrenes Land. In bestimmten Regionen des Landes, die etwa vom Drogenhandel nicht so betroffen sind, kann man gut leben. Aber auch diese Zonen sind fragil. Man weiß nie, wann das Mexiko der Apokalypse dem Mexiko des Karnevals in die Quere kommt. Oft leben wir beides zur selben Zeit: den Karneval in der Apokalypse. Lange kann das nicht gutgehen.
Über den Schriftsteller
Juan Villor, geboren am 8. September 1956, hat Soziologie studiert, war DJ, Journalist und Kulturattaché in der DDR.

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