Freitag, 28. März 2014
Die sowjetische Kampagne gegen den Kosmopolitismus: 1947 – 1952
Ein Vortrag von Bill Bland, gehalten vor der Stalin-Gesellschaft in London am 1. November 1998
Quelle: http://www.oneparty.co.uk/compass/com13101.html
Ins Deutsche übertragen von Gerhard Schnehen
Anmerkung des Übersetzers:
Die englischen Buchtitel, die der Verfasser angab, wurden mit Ausnahme der Titel von Lexika, Wörterbüchern… übersetzt. In der Bibliografie jedoch finden sich auch die englischen Originaltitel. Teilweise wurden die zahlreichen Zitate des Verfassers einer besseren Lesbarkeit wegen in den laufenden Text integriert.
Einleitung
In den Jahren 1946 bis 1952 führte die Kommunistische Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) eine intensive Kampagne gegen den Kosmopolitismus. Was ist Kosmopolitismus?
„Das Wort ‚Kosmopolit‘ besteht aus zwei griechischen Worten: ‚kosmos‘ bedeutet Welt und ‚polites‘ bedeutet Bürger.“
(Eric Partridge, ‚Ursprünge – kleines etymologisches Wörterbuch des modernen Englisch‘, London 1958, S. 122 und S. 508).
Vom Ursprung des Wortes her gesehen ist also ein Kosmopolit ein ‚Weltbürger‘ und nicht so sehr der Bürger eines bestimmten Landes.
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch hat das Wort ‚Kosmopolit‘ eine positive Bedeutung, die Bedeutung von Weltläufigkeit. Die erste Reaktion auf die sowjetische Kampagne gegen Kosmopolitismus könnte die erstaunte Frage sein, weshalb um Himmels Willens die Kommunistische Partei damals wollte, dass die arbeitenden Menschen hinterwäldlerisch sein sollten.
Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache begründet, dass der Marxismus-Leninismus eine Wissenschaft ist, die Wissenschaft von der Politik und dass der Begriff ‚Kosmopolit‘ hier eine eher negative Bedeutung hat und anders verwendet wird als im gewöhnlichen Sprachgebrauch.
Wie die westlichen Medien auf die antikosmopolitische Kampagne reagierten
Die bevorzugte ‚Erklärung‘ für die antikosmopolitische Kampagne, die in den westlichen Medien verwendet wurde, bestand darin zu unterstellen, dass Antikosmopolitismus mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Kritiker sagten zum Beispiel:
„Hinter dem Begriff, wie er von Stalin verwendet wird, verbirgt sich Antisemitismus.“
(Timothy Brennan, ‚Zu Hause und in der Welt: Kosmopolitismus heute‘, Cambridge/USA 1997, S. 21).
Aber diese ‚Deutung‘ ist mit den uns bekannten Tatsachen nicht vereinbar:
Erstens wissen wir, dass Stalin den Antisemitismus scharf verurteilte:
„Der Antisemitismus als eine extreme Spielart des rassistischen Chauvinismus ist das gefährlichste Überbleibsel des Kannibalismus … Deshalb können Kommunisten als konsequente Internationalisten nur unversöhnliche, geschworene Feinde des Antisemitismus sein … Nach den Gesetzen der UdSSR erwartet aktiven Antisemiten die Todesstrafe.“
(Josef W. Stalin, ‚Antisemitismus‘, in: Werke, Band 13, Moskau 1955, S. 30).
Zweitens geben jüdische Schriftsteller wie Benjamin Pinkus, Professor für jüdische Geschichte an der Ben-Gurion-Universität in Israel, Folgendes zu:
„ … Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Angriffe (gemeint: die antikosmopolitische Kampagne – Verf.) keine antijüdischen Untertöne hatten – weder offene noch versteckte.“
(Benjamin Pinkus, ‚Die Juden der Sowjetunion. Die Geschichte einer nationalen Minderheit‘, Cambridge 1989, S. 152, hiernach als ‚Benjamin Pinkus 1989‘ zitiert).
Drittens waren die Künstler, die im Verlauf der antikosmopolitischen Kampagne am schärfsten kritisiert wurden wie die Dichterin Anna Achmatowa oder der Satiriker Michael Soschtschenko keine Juden. Pinkus:
„Die Hauptopfer … waren Nichtjuden wie der Satiriker M. Soschtschenko und die Dichterin A. Achmatowa.“
(Benjamin Pinkus 1989, ebd., S. 151).
Und schließlich viertens:
„Juden beteiligten sich aktiv an der antikosmopolitischen Kampagne, darunter der Philosoph und das Mitglied der Akademie der Wissenschaften Mark Mitin, der Journalist David Saslawski oder der Orientalist Wladimir Lutzki.“
(Ebd., S. 157).
Der Marxismus-Leninismus und nationale Unterschiede
Für Marxisten-Leninisten ist ein Kosmopolit jemand, der auf nationale Unterschiede verächtlich herabsieht. Es ist aber richtig, dass Marxisten-Leninisten die Vision haben, dass in einer sozialistischen Welt der Zukunft nationale Unterschiede, was die Sprache und die Kultur angeht, allmählich verschwinden werden:
„Ich war immer ein Anhänger der leninistischen Ansicht, dass wenn der Sozialismus im internationalen Maßstab gesiegt haben wird, die Nationalsprachen sich unweigerlich in eine gemeinsame Sprache verwandeln werden, die etwas ganz Neues sein wird, aber auf keinen Fall Russisch oder Deutsch.“
(J. W. Stalin, ‚Diskussionsbeitrag zum politischen Bericht des Zentralkomitees an den 16. Parteitag der KPdSU, B, in: ‚Werke‘, Band 13, Moskau 1955, S. 5).
Jedoch erkennen Marxisten-Leninisten an, dass bis in diese ferne Zukunft hinein Unterschiede bestehen bleiben, was die Nationalsprachen oder die Kultur betrifft:
„Nationale Unterschiede können in naher Zukunft nicht verschwinden … Sie werden selbst noch nach dem Sieg der proletarischen Revolution im Weltmaßstab bestehen bleiben.“
(Ebd., S. 4f).
„Wir haben nationale Privilegien abgeschafft und gleiche nationale Rechte hergestellt. Wir haben staatliche Grenzen im althergebrachten Sinne abgeschafft, Grenzposten und Zollschranken zwischen den Nationalitäten der UdSSR … Aber bedeutet dies, dass wir dadurch die nationalen Unterschiede, die Nationalsprachen, die Kultur, die Lebensart usw. abgeschafft haben? Ganz sicher nicht.“
(J. W. Stalin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU,B, in: ‚Werke‘, Band 12, Moskau 1955, S. 376).
Tatsächlich besteht die Politik von Marxisten-Leninisten darin, alles zu tun, um die nationalen Sprachen und die nationale Kultur zur höchsten Blüte zu verhelfen. Stalin vor Studenten der Universität der Völker des Ostens im Mai 1925 über die Aufgaben der Kommunistischen Partei:
„Um die nationale Kultur zu entwickeln, muss ein breites Netz von Kursen und Schulen sowohl für die Allgemeinbildung als auch für die berufliche Ausbildung in den Muttersprachen entwickelt werden. Die Parole der Nationalkultur wurde mit dem Machtantritt des Proletariats zu einer proletarischen Parole … Proletarische Universalkultur schließt die nationale Kultur der Völker nicht aus, sondern setzt sie voraus und bringt sie voran.“
(J. W. Stalin, ‚Die politischen Aufgaben der Universität der Völker des Ostens‘, in: ‚Werke‘, Band 7, Moskau 1954, S. 138, 140, 142).
Stalin in seinem politischen Bericht an den 16. Parteitag der Partei im Juni 1930:
„Es mag merkwürdig erscheinen, dass wir, die wir für die künftige Verschmelzung der nationalen Kulturen zu einer gemeinsamen Kultur (sowohl der Form als auch dem Inhalt nach) eintreten, gleichzeitig für das Aufblühen der nationalen Kulturen in der heutigen Zeit eintreten … Aber es gibt da nichts Merkwürdiges. Man muss den Nationalkulturen gestatten, sich zu entwickeln und zu entfalten, … damit die Voraussetzungen für die Verschmelzung zu einer gemeinsamen Kultur mit einer gemeinsamen Sprache in der Periode des Sieges des Sozialismus auf der ganzen Welt geschaffen werden. … Gerade hierin besteht die Dialektik der leninistischen Stellung der Frage der Nationalkultur.“
(J. W. Stalin, Politischer Bericht des Zentralkomitees an den 16. Parteitag der KPdSU, B, in: ‚Werke‘, Band 12, Moskau 1955, S. 380).
Auf der Grundlage dieser marxistisch-leninistischer Prinzipien stellte sich die sowjetische kommunistische Partei damals dem Kosmopolitismus entgegen, der, wie wir gesehen haben, auf die nationalen Kulturen herabsieht.
Die sowjetische Kampagne gegen den Kosmopolitismus
Die Kritik am Kosmopolitismus in Russland begann nicht erst mit der sozialistischen Revolution. Der Literaturkritiker Wissarion Belinski schrieb schon im 19. Jahrhundert:
„Der Kosmopolitismus ist ein falsches, sinnloses, seltsames und unverständliches Phänomen. … Er ist eine korrupte, gefühllose Kreatur, die völlig unwürdig ist, den heiligen Namen Mensch zu führen.“
(W. Belinski in: Benjamin Pinkus 1989, ebd., S. 153f).
Alexander Fadejew, der Vorsitzende der Union Sowjetischer Schriftsteller, schrieb schon während des Zweiten Weltkriegs:
„Die deutschen Invasoren ermutigten bewusst zu einem wurzellosen Kosmopolitismus, der sich aus dem sog. Gedanken ergibt, dass jeder ein ‚Weltbürger‘ sei.“
(Alexander Fadejew, in: ‚Norah Lewin: ‚Die Juden in der Sowjetunion seit 1917‘, London 1990, S. 464).
Später stellte sich heraus, dass das Konzept eines kosmopolitischen Europas nur die Fortsetzung der Naziideologie von einer ‚Neuen Ordnung in Europa‘ war. Dazu R. Miller-Budnitzkaya:
„Gestern noch bedeutete diese reaktionäre kosmopolitische Idee von einem Weltstaat nichts anderes als die hitlersche ‚Neue Ordnung in Europa‘, die auf der nationalen Souveränität und der Unabhängigkeit der europäischen Völker herumtrampelte.“
(R. Miller-Budnitzkaya, ‚Der Kosmopolitismus Hollywoods‘, in: ‚Novy Mir‘, Nr. 6, 1948, in: Benjamin Pinkus, ‚Die sowjetische Regierung und die Juden, 1948-1967 – eine dokumentarische Studie‘, Cambridge 1984, S. 183, hiernach zitiert als: ‚Benjamin Pinkus 1984‘).
Der Schriftsteller N.Baltizki schrieb in einem Artikel vom Juni 1945 dazu:
„Der Kommunismus hat mit dem Kosmopolitismus nichts gemein, mit der Ideologie, die typisch ist für Bankinstitute und internationale Konsortien, für die großen Börsenspekulanten und internationalen Waffenlieferanten und ihre Agenten. Es sind diese Zirkel, die nach dem Spruch der Römer von ‚ubi bene, ibi patria‘ handeln (also da, wo mein Gewinn ist, ist auch mein Heimatland – Verf).“
(N. Baltizki in: Benjamin Pinkus 1989, ebd., S. 151).
Im Jahre 1946 entwickelte sich dann der Anti-Kosmopolitismus zu einer systematischen und nachhaltigen Bewegung. Im Frühjahr dieses Jahres, auf der 11. Plenarsitzung der Union Sowjetischer Schriftsteller, brachte ihr Vorsitzender Alexander Fadejew eine scharfe Kritik vor. Sie richtete sich gegen die Art und Weise, wie Ytzak Nusinow mit Puschkin in seinem Buch ‚Puschkin und die Weltliteratur‘ umgegangen war:
„Fadejew verurteilte die ‚Entnationalisierung‘ Puschkins durch Nusinow.“
(Nora Lewin, ebd. S. 468).
Fadejew warf dem Autor des Buches Folgendes vor:
„Die Kernaussage des Buches besteht darin, dass Puschkins Genie nicht die Einzigartigkeit der geschichtlichen Entwicklung der russischen Nation zum Ausdruck bringt, wie dies zu zeigen die Aufgabe eines Marxisten gewesen wäre, sondern darin, dass er angeblich Europäer war.“
(Benjamin Pinkus 1989, ebd., S. 152).
Pinkus weiter:
„Die Kampagne gegen den Kosmopolitismus verbreitete sich durch die sowjetischen Massenmedien – im Radio, in der Presse, in der Literatur, im Kino, Theater, in wissenschaftlichen Vorträgen oder in einfachen Vorträgen; sie fand ihren Ausdruck auf Wandzeitungen am Arbeitsplatz.“
(Ebd., S. 155).
Die Kampagne richtete sich keineswegs gegen ausländische Einflüsse im Allgemeinen, worauf der Schriftsteller Ilja Ehrenburg hinwies:
„Es ist nicht möglich, vor Shakespeare oder Rembrandt zu liebedienern, da eine Verneigung vor ihnen den Anbeter nicht demütigen kann.“
(Ilja Ehrenburg, in: Nora Lewin, ebd., S. 466).
Die Kampagne richtete sich dagegen, dass minderwertige Kunstwerke aus dem Ausland, die oft auch eine antisozialistische Tendenz hatten, als bewundernswert hingestellt wurden. Ein Leitartikel in der Zeitschrift ‚Bolschewik‘, dem theoretischen Organ der KPdSU, B, der 1947 erschien, kritisierte die Liebedienerei vor der bürgerlich westlichen Kultur:
„Spuren von Liebedienerei vor der bürgerlich westlichen Kultur zeigen sich … in einer Verbeugung vor und in einer Anbetung bürgerlich westlicher Gelehrsamkeit.“
(‚Bolschewik‘, Nr. 16, 1947, in: Benjamin Pinkus 1989, ebd., S. 152).
Im Verlaufe der Kampagne wurde ausdrücklich betont, dass die Gegnerschaft gegen den Kosmopolitismus nicht mit einer Gegnerschaft gegen den Internationalismus verwechselt werden dürfe. In seiner Rede vor einer Konferenz von Musikern im Jahre 1948 wies Andrej Schdanow, der Sekretär des Zentralkomitees für Kulturelle Angelegenheiten, auf folgenden Punkt hin:
„Der Internationalismus in der Kunst zeigt sich nicht in einem Substanzverlust und in einer Verarmung der Nationalkultur; im Gegenteil: Der Internationalismus wächst und gedeiht dort, wo die nationale Kultur aufblüht. Wenn man das vergisst, … wird man zu einem Kosmopolit ohne Land … Es ist unmöglich, in der Musik oder woanders Internationalist zu sein, ohne sein eigenes Volk zu lieben und zu respektieren. … Unser Internationalismus in der Musik und unser Respekt vor dem kreativen Genie anderer Nationen beruht deshalb auf der Bereicherung und Entwicklung unserer eigenen nationalen Musikkultur, die wir dann mit anderen Nationen teilen können.“
(Andrej Schdanow, Schlussrede vor der Konferenz sowjetischer Musiker, 1948, in: ‚Über Literatur, Musik und Philosophie‘, London 1950, S.62f).
Einen Meilenstein der antikosmopolitischen Kampagne markierte der Bericht Schdanows vom August 1947, in dem er bestimmte sowjetische Schriftsteller und Künstler scharf kritisierte, die seiner Meinung nach in den Kosmopolitismus abgeglitten waren:
„Leningrads Literaturzeitschriften haben begonnen, billiger, moderner bürgerlicher Literatur aus dem Westen die Spalten zu öffnen. Einige unserer Männer des Wortes haben angefangen, sich nicht mehr als Lehrer, sondern als Schüler kleinbürgerlicher Schriftsteller zu betrachten und haben begonnen, eine kriecherische und ehrfurchtsvolle Haltung gegenüber ausländischer Literatur einzunehmen.“
(Andrej A. Schdanow, Bericht über die Zeitschriften ‚Swesda‘ und ‚Leningrad‘, in: ebd., S. 31).
Die Kampagne gegen den Kosmopolitismus verteidigte jedoch nicht nur die nationale Kultur Russlands, sondern die aller Nationen der UdSSR (vgl. B. Pinkus, 1989, S. 154). In den ersten Monaten des Jahres 1949 richtete sich die Kampagne auch gegen Versuche, einen literarischen Untergrund in Leningrad zu schaffen:
„Es gab Versuche einer organisierten Gruppe, einen literarischen Untergrund zu schaffen.“
(Benjamin Pinkus 1989, S. 155).
Zu dieser Zeit richtete sich die Kampagne besonders gegen eine Gruppe von Literaturkritikern, die gute sowjetische Stücke verriss und wertlose ausländische wegen ihres ‚technischen Raffinements‘ anpries. Dazu Pinkus:
„Bei den Theaterkritikern hat sich eine antipatriotische Gruppe herausgebildet. Sie besteht aus Anhängern des bürgerlichen Ästhetizismus. … Diese Kritiker vertreten einen wurzellosen Kosmopolitismus, der sowjetische Menschen anwidert und abstößt. … Der Schwerpunkt der ästhetisch-formalistischen Kritik richtet sich nicht gegen die wirklich schädlichen und wertlosen Werke, sondern gegen die fortschrittlichsten und besten.“
(‚Prawda‘ vom 28. Januar 1949: ‚Über eine antipatriotische Gruppe von Theaterkritikern‘, zitiert nach Benjamin Pinkus 1984, ebd., S. 183f).
Pinkus weiter:
„Diese Gruppe steht der sowjetischen Kultur feindlich gegenüber. Sie hat sich das Ziel gesetzt, die herausragenden Ereignisse in unserer Literatur und das Beste in der sowjetischen Dramaturgie niederzumachen.“
(Benjamin Pinkus 1989, ebd. S. 155).
Die antikosmopolitische Kampagne dauerte noch bis in die zweite Hälfte des Jahres 1952 hinein in abgeschwächter Form an (vgl. B. Pinkus 1984, S. 164).
Der innenpolitische und internationale Hintergrund der Kampagne
Durch das, was gesagt wurde, ist deutlich geworden, dass die sowjetische Kampagne gegen den Kosmopolitismus völlig im Einklang mit marxistisch-leninistischen Prinzipien stand, die in der gegenwärtigen Epoche für die volle Entfaltung der nationalen Kulturen eintreten, aber nicht für ihre Verarmung.
Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb man der Meinung war, dass es ausgerechnet in den Jahren 1947 bis 1952 nötig gewesen sei, eine intensive Kampagne gegen den Kosmopolitismus loszutreten.
Die Gründe hierfür sind teils nationaler, teil internationaler Natur.
In der Sowjetunion waren rückwärtsgewandte Kräfte im kulturellen Sektor der Ansicht, dass nach vier Jahren eines blutigen Krieges Schritte in Richtung einer eskapistischen Kultur auf breite Zustimmung stoßen würden. Der in Russland geborene Journalist Alexander Werth notierte dazu:
„Besonders in Moskau gab es deutliche Anzeichen von Frivolität und Eskapismus. Der berühmte Chansonnier und Unterhaltungskünstler Alexander Wertinski tauchte plötzlich in Moskau auf, nachdem er mehr als 20 Jahre als Idol russischer Emigranten in Paris, New York und Shanghai zugebracht hatte. Seine Vorträge dekadenter Songs lockten riesige Menschenmengen an. … Obwohl er in der Presse nie angekündigt wurde, sah man überall im Moskau Poster, die Wertinskis Shows bekannt machten. …
Sowohl die Lied- als auch die Filmkultur wurden immer eskapistischer. … 1944 schon wurden in den Kinos amerikanische Filme gezeigt, darunter ein besonders geistloser Deanna Durbin-Film … Es wurde sogar von vielen Seiten angeregt, leichte Unterhaltungsliteratur zu lesen. Daraus entstand ein Projekt, eine Krimi-Bibliothek auf Russisch zu schaffen – größtenteils mit Romanen, die aus dem Englischen übersetzt waren.“
(Alexander Werth, ‚Russland im Krieg: 1941-1945‘, London 1965, S. 939-41f).
Was die internationale Politik damals anging, so wissen wir heute aus offiziellen Dokumenten, dass schon wenige Wochen nach der deutschen Kapitulation, Churchill mit Unterstützung von 100.000 deutschen Soldaten einen massiven Angriff auf die Rote Armee plante, um Russland auszuradieren:
„Churchill plante eine massive Attacke gegen die Rote Armee, um Russland auszuradieren, unterstützt von 100.000 deutschen Soldaten.”
(‘Guardian’, 2. Oktober 1998, S. 7).
Jedoch war man im Ausschuss des Generalstabs damals der Meinung, dass der Plan undurchführbar sei.
„Der Plan überstieg unsere Kräfte.”
(Ebd.).
Das hielt jedoch Churchill nicht davon ab, im März 1946 seine berühmte Fulton-Rede in Missouri zu halten, in der er der Sowjetunion den Kalten Krieg erklärte:
„A shadow has fallen upon the scenes so lately lightened by the Allied victory … An iron curtain has descended across the continent.” (ein Schatten hat sich über die Weltbühne gelegt, die noch vor kurzem durch den Sieg der Alliierten so hell erleuchtet wurde…Ein eiserner Vorhang hat sich quer über den Kontinent gesenkt).
(Keesing‘s Contempory Archives, Band 6, S. 7.771).
Gleichzeitig kündigte er die ‘special relationship‘ (besonderes Verhältnis) zu den USA an:
„There is a special relationship between the British Commonwealth and Empire and the United States.”
(Ebd.).
Im März 1947 schließlich verkündete US-Präsident Truman die sog. Truman-Doktrin, um die weitere Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern (vgl. Encyclopedia Americana, Band 18, New York 1977, S. 328).
Im Juni 1947 verkündete US Außenminister George Marshall den sog. Marshall-Plan, der verharmlosend als ‚European Recovery Program‘ (ERP, Europäisches Erholungsprogramm) bezeichnet und als großzügige amerikanische ‚Hilfe‘ für das vom Krieg verwüstete Europa präsentiert wurde, aber durch die die Eindämmungspolitik tatsächlich auf ganz West Europa ausgedehnt wurde (vgl. ebd., Band 27, New York 1977, S. 176).
Im Juli 1947 brach die Sowjetunion die Verhandlungen mit den Westmächten über den Marschall-Plan ab, mit der Begründung, dass der angestrebte Mechanismus des Plans die nationale Souveränität der Teilnehmer beeinträchtigen würde (vgl. Adam B. Ulam, ‘Stalin – der Mann und seine Zeit’, London 1989, S. 659).
Tatsächlich wurde der Marschallplan schon bald zu einer US-Geheimdienst-Operation. Im Juni 1948 billigte der Nationale Sicherheitsrat der USA ein streng geheimes Dokument, wonach innerhalb des CIA eine Abteilung für verdeckte Aktionen gebildet werden sollte, die schon bald ‚Office of Policy Coordination‘ (Amt für Politische Koordination) genannt wurde. Vom Beginn bis zum Ende des Marschall-Plans (1948-1952) arbeitete das Amt im Rahmen des Projekts. (vgl. Sallie Pisani, ‚Der CIA und der Marschall-Plan‘, Edinburgh 1991, S. 70).
Auch John Ranelagh weist darauf hin, dass der Marschall-Plan sich zwar unter der Kontrolle des Außenministeriums befand, jedoch vom CIA finanziert wurde (vgl. John Ranelagh, ‚Die Agentur – Aufstieg und Fall des CIA‘, London 1986, S. 116). Schließlich John Gimbel:
„Der Marschallplan war eine amerikanische Initiative im Kalten Krieg mit Russland.“
(John Gimbel, ‚Die Ursprünge des Marschall-Plans‘, Stanford/USA 1970, S. 4).
Im September 1947 wurde das Kominform gegründet, das ‚Kommunistische Informationsbüro‘. Andrej A. Schdanow in seiner Eröffnungsansprache:
„Seit dem Ende des Krieges haben sich zwei Blöcke herausgebildet: ein imperialistischer und antidemokratischer Block, angeführt von den USA und ein antiimperialistischer, demokratischer Block, angeführt von der Sowjetunion … Der erste Block plant einen aggressiven Krieg gegen den zweiten.“
(Andrej A. Schdanow, Rede anlässlich der Eröffnungssitzung des Kominform, September 1947, in: Keesing’s Contemporary Archives‘, Band 6, S. 8.920).
Die neue internationale Lage wurde von dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow beim 30. Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1947 folgendermaßen beschrieben:
„Heute befinden sich die herrschenden Kreise in den USA und Großbritannien an der Spitze einer internationalen Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, … die Dominanz dieser Länder über andere Nationen zu errichten.“
(Wjatscheslaw Molotow, Rede vom November 1947, in: ebd., S. 8.940).
Im März 1949 schließlich wurde von Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern der ‚Brüsseler Vertrag‘ geschlossen (vgl. Richard B. Morris & Graham W. Irwin, Hrsg., ‚Eine Enzyklopädie der modernen Welt‘, London 1970, S. 586).
Einen Monat darauf, im April 1949, unterzeichneten die Außenminister von 12 Staaten – Belgien, Großbritannien, Kanada, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Island, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und die USA – eine noch breitere Militärallianz: Den Nordatlantikpakt (North Atlantic Treaty Organisation – Nato), der aus dem ‚Brüsseler Vertrag‘ hervorging (vgl. auch: D. C. Watt, F. Spencer & N. Brown, ‚Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts‘, London 1997, S. 650).
Das bedeutete:
Es war nun für die Sowjetregierung deutlich geworden, dass sie sich von Seiten der Westmächte mit einer echten Bedrohung konfrontiert sah, und dass der Kosmopolitismus nichts anderes war als die ideologische Waffe dieser Bedrohung. Deshalb war die Kampagne von 1947-1952 eine defensive Maßnahme, um sich selbst und andere Länder, deren Unabhängigkeit durch den Imperialismus bedroht war, zu schützen.
Schdanow in seiner Rede vor der Eröffnungssitzung des Kominform:
„Eines der Ziele der ideologischen Kampagne, welche die Pläne zur Versklavung Europas begleitet, besteht in einem Angriff auf das Prinzip der nationalen Souveränität, das heißt, in einem Aufruf dazu, auf Souveränitätsrechte zugunsten einer ‚Weltregierung‘ zu verzichten.“
(Andrej A. Schdanow: Rede auf der Eröffnungssitzung des Kominform, September 1947, in: Keesing’s Contemporary Archives‘, Band 6, ebd.).
Hier ein Auszug aus einem typischen Artikel, der während der Kampagne erschien:
„Der Kosmopolitismus ist die militante Ideologie der imperialistischen Reaktion unserer Zeit. Indem sie die korrupte Ideologie des Kosmopolitismus verbreiten, versuchen die amerikanischen Imperialisten die friedliebenden Menschen, die für ihre nationale Unabhängigkeit eintreten, ideologisch zu entwaffnen, in ihnen Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Heimatland und nationalen Nihilismus zu erzeugen und ihre Wachsamkeit einzuschläfern …
Die Ideologen des amerikanischen Imperialismus erklären, dass in unserem Jahrhundert solche Konzepte wie die Nation, nationale Souveränität, Patriotismus usw. überlebt sind und über Bord geworfen werden müssen. …
Die rechten Sozialdemokraten, die treuen Diener des amerikanischen Imperialismus, sind aktive Prediger des Kosmopolitismus.“
(J. Dunjajewa, ‚Der Kosmopolitismus im Dienst der imperialistischen Reaktion‘, in: ‚Auszüge aus der sowjetischen Presse‘, Band 2, Nr. 16, 3. Juni 1950, S. 18).
Einige Artikel verglichen den Kosmopolitismus sogar mit atomaren und bakteriologischen Waffen:
„Der Kosmopolitismus nimmt einen herausragenden Platz im Arsenal des derzeitigen Imperialismus ein, genauso wie die Atombombe und die bakteriologische Kriegführung.“
(J. A. Korowin, ‚Für eine patriotische Rechtswissenschaft‘, in: Aktueller Überblick über die sowjetische Presse‘, Band 2, 25. Februar 1950, S. 13).
Globalisierung
In diesen Tagen, ungefähr 40 Jahre seit der sowjetischen Kampagne gegen den Kosmopolitismus, hören wir wenig von diesem Begriff. Aber das bedeutet nicht, dass der Kosmopolitismus verschwunden ist. Im Gegenteil: Er hat nur einen neuen Namen bekommen: Globalisierung. Tatsächlich ist die Globalisierung zu einer neuen Abteilung der Soziologie geworden, auch ‚Weltsystem-Theorie‘ genannt, ein Ausdruck, der von dem amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein stammt.
Souveränität
Souveränität bedeutet einfach Autorität (vgl. Oxford English Dictionary, Band 16, 1986, S. 76). Eines der wichtigsten Merkmale der staatlichen Souveränität besteht in der Macht, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Protektionismus
Der Protektionismus unterscheidet zwischen inländischer und ausländischer Versorgung (vgl. H. Peter Gray, ‚Freier Handel oder Protektionismus? Eine pragmatische Analyse‘, Basingstoke 1985, S. 1). Er entscheidet sich gegen die Versorgung aus dem Ausland zugunsten einer Versorgung aus dem Inland. Der Protektionismus wird durch die Auferlegung von Zolltarifen oder Zollgebühren verwirklicht, wobei ein Zolltarif oder eine Zollgebühr eine Steuer ist, die auf eingeführte Waren erhoben wird, um einheimische Hersteller vor der Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen (vgl. Encyclopedia Americana, Band 26, New York 1977, S. 295).
Der Protektionismus arbeitet mit Quoten, wobei eine Quote die Höchstzahl von Importen darstellt, die innerhalb eines festgelegten Zeitraums in ein Land eingeführt werden dürfen (vgl. Oxford English Dictionary, Band 13, Oxford 1989, S. 52). Es können im Rahmen des Protektionismus auch Exportsubventionen stattfinden, also finanzielle Hilfen, die vom Staat oder von einer öffentlichen Einrichtung an einen Exporteur gewährt werden (vgl. ebd., Band 17, S. 60).
Meist ist es so, dass technologisch fortgeschrittene imperialistische Länder, von einem Maximum an Freihandel profitieren und diesen anstreben. Was ist Freihandel? Es ist
„ … ein System, das garantiert, dass ausländische Waren in unbegrenzter Menge und ohne die Zahlung von Steuern in ein Land eingeführt werden dürfen.“
(Longman’s Dictionary of Contemporary English, Harlow 1987, S. 412).
Warum profitieren jene Länder davon? Weil bei Abwesenheit von Protektionismus die überlegenen Produktionsverfahren, die solche Länder besitzen, ihnen einen Vorteil über technologisch zurückgebliebene Länder einräumen.
Andererseits profitieren technologisch nicht so fortgeschrittene Länder von dem souveränen Recht, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen, weil ohne sie ihre Industrie nicht mit den billigeren Einfuhren aus den technologisch überlegenen Ländern konkurrieren kann.
Dies steckt im Grunde hinter dem Bestreben imperialistischer Staaten, sog. Freihandelszonen zu errichten und auszuweiten – Freihandelszonen, die die dann selbst das Recht haben, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen.
Hinzukommt, dass eine solche Zone die teilnehmenden Staaten in die Lage versetzt, ihre Ressourcen gegen bestimmte Rivalen zu bündeln, um effektiver mit ihnen konkurrieren zu können.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind drei große rivalisierende imperialistische Blöcke entstanden:
„Es sind drei wachsende Superstaaten und Blöcke: Die EU, also die Europäische Gemeinschaft, angeführt von Deutschland; die von den USA dominierte NAFTA (North American Free Trade Agreement mit Kanada und Mexiko) und der Pazifische Raum, der von Japan angeführt wird.“
(John Boyd, ‚Großbritannien und die Europäische Union: Demokratie oder Superstaat nach Maastricht?‘, Merseyside 1993, S. 14).
Jeder dieser drei Blöcke hat Maßnahmen zur Globalisierung im eigenen Interesse ergriffen.
Europäische Globalisierung
Die Vorschläge zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa reichen viele Jahre zurück. Schon Lenin kommentierte diese Bestrebungen:
„Zeitweilige Abkommen zwischen Kapitalisten sowie zwischen Mächten sind möglich. In diesem Sinne sind die Vereinigten Staaten von Europa möglich in Form einer Vereinbarung zwischen den europäischen Kapitalisten … Aber zu welchem Zweck? Nur zu dem Zweck, gemeinsam den Sozialismus in Europa zu unterdrücken, nur zu dem Zweck, gemeinsam die koloniale Beute gegen Japan und Amerika zu verteidigen … Unter dem Kapitalismus würde die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa bedeuten, die Reaktion zu organisieren, um so die schnellere Entwicklung von Amerika aufzuhalten.“
(Wladimir I. Lenin, ‚Der Slogan von den Vereinigten Staaten von Europa‘, in: ‚Ausgewählte Werke‘, Band 5, London 1935, S. 140f).
Diese Anstrengungen, ein Vereinigtes Europa zu schaffen, machten jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg praktische Fortschritte:
-April 1951:
Belgien, Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Luxemburg und die Niederlande unterzeichnen den Vertrag von Paris. Es entsteht die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Der Vertrag sieht die Bündelung der Kohle- und Stahlproduktion vor und stellt den ersten Schritt in Richtung eines vereinten Europas dar (vgl. Statesman’s Yearbook, 1998-1999, London 1998, S. 42).
-März 1957:
In Rom werden die Verträge für die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und für die Europäische Gemeinschaft für Atomenergie (Euratom) unterzeichnet. Sie sehen die stufenweise Einführung eines gemeinsamen Marktes vor – mit einer Zollunion als Kern (vgl. ebd.).
Der Präambel der Römischen Verträge zufolge bestehen die Ziele darin,
„Die Grundlagen für eine immer engere Union unter den Völkern Europas zu legen.“
(Richard Owen & Michael Dynes, ‚Der Times-Führer für den Einheitlichen Europäischen Markt. Ein umfassendes Handbuch‘, London 1992, S. 50).
Zunächst hält sich der britische Imperialismus von der sich entwickelnden EWG abseits und favorisiert eine weitere Bindung an den US-Imperialismus, auch ‚special relationship‘ (Besonderes Verhältnis) genannt. Dazu David Packer:
„Der Atlantizismus blieb die Hauptsäule der Strategie der britischen herrschenden Klasse.“
(David Packer, ‚Wohin geht Europa? In: ‚Maastricht. Die Krise der europäischen Integration‘, London 1993, S. 9).
Die britischen Imperialisten schließen sich deshalb im November 1959 Österreich, Dänemark, Norwegen, Portugal, Schweden und der Schweiz an, um die Europäische Freihandelszone (EFTA) zu gründen. Die Mitglieder der EFTA verpflichten sich, sämtliche Zölle und Quoten auf den Handel mit Industrieprodukten innerhalb von zehn Jahren abzubauen (vgl.: Encyclopedia Americana, Band ?, New York 1977, S. 706).
Die EFTA wird offiziell erst im Mai 1960 gegründet (vgl.: Statesman’s Yearbook, 1998-1999, ebd. S. 56).
Jedoch war zu dieser Zeit schon klar, dass die EFTA nicht den Umfang und die Durchschlagskraft haben würde, um als ernstzunehmender Konkurrent oder Alternative zur EWG in Frage zu kommen (vgl.: Thomas Petersen, ‚Das größere Westeuropa. EWG-Politik gegenüber den EFTA-Ländern‘, London 1988, S. 3).
-1961
Kaum ein Jahr, nachdem Großbritannien die Initiative ergriffen hatte, um die EFTA zu gründen, wendet sich der britische Kapitalismus verspätet Europa zu (vgl. David Packer, ebd.), um seine Vollmitgliedschaft in der EWG zu beantragen (Richard Owen & Michael Dynes, ebd., S. 51).
-1963
Der britische Aufnahmeantrag wird jedoch von dem französischen Präsidenten Charles de Gaulle mit einem Veto belegt, mit der Begründung, dass Großbritanniens Verbindungen transatlantischer und nicht europäischer Natur seien. Harold Wilson erneuert drei Jahre später den Antrag und de Gaulle legt erneut sein Veto ein (vgl. ebd.).
-April 1965
Die gemeinsamen Institutionen der drei Europäischen Gemeinschaften (gemeint: EGKS, Euratom und EWG – Übers.) werden durch den Vertrag von Brüssel geschaffen (vgl. Europa World Year Book, Band 1, London 1998, S. 152).
-Juli 1968
Die Beseitigung interner Zollschranken wird abgeschlossen, begleitet von der Einführung eines gemeinsamen Außentarifs, um den neuen Gemeinsamen Markt zu schützen (vgl. Richard Owen & Michael Dynes, ebd. S. 50).
-Januar 1973
Großbritannien, Dänemark und Irland werden Mitglied der EWG (vgl. ebd., S. 51).
-Januar 1981
Griechenland tritt der EWG bei.
-Januar 1985
Österreich, Finnland und Schweden werden Mitglied der EWG.
-Dezember 1985
Die Single European Act (die Einheitliche Europäische Akte) wird unterzeichnet, deren Kern darin besteht, dass die Unterzeichnerstaaten sich verpflichten, bis zum 31. Dezember 1992 einen einheitlichen europäischen Markt zu schaffen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat fortan das Recht, überall in der Gemeinschaft politische Entscheidungen zu treffen, gleich ob über Steuern oder Tourismus (vgl. ebd., S. 58).
-Januar 1986
Portugal und Spanien treten der EWG bei (vgl. Statesman’s Yearbook 1998-1999, S. 42).
-Juni 1989
Der Madrider Gipfel gibt grünes Licht für einen Dreistufenplan zur Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion, wobei die erste Phase ab 1. Juli 1990 beginnen soll (vgl. Richard Owen & Michael Dynes, ebd.).
-Dezember 1991
Der Vertrag von Maastricht schafft die EG, die Europäische Gemeinschaft. … Die Ziele: Schaffung eines Gebietes ohne interne Grenzen, eine einheitliche Währung sowie die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft (vgl. Richard Owen & Michael Dynes, ebd., S. 60).
-Mai 1992
Die Kooperation zwischen den EFTA- und EWG-Staaten gipfelt darin, dass der Vertrag von Oporto abgeschlossen wird. Er schafft das Europäische Wirtschaftsgebiet (European Economic Area, EEA) zwischen der EWG und der EFTA (vgl. Therèse Blanchet, Risto Peiponen & Maria Westmann-Clement, ‚Die Vereinbarung über das Europäische Wirtschaftsgebiet‘ Oxford 1994, S. 1).
Diese Vereinbarung sollte es den EFTA-Ländern erleichtern, die Vollmitgliedschaft in der EG zu erwerben (Therèse Blanchet u.a., ebd.).
Bis 1999 sollten die Europäische Zentralbank und die Währungsunion geschaffen werden (vgl. T.David Mason & Abdul M. Turay, Hrsg., ‚Japan, NAFTA und Europa. Trilaterale Kooperation oder Konfrontation?‘ Basingstoke 1994, S. 3).
Der Maastrichter Vertrag markiert einen grundlegenden Wandel für die verfassungsmäßigen Grundlagen des britischen Staates. Er überträgt beträchtliche politische Befugnisse von Westminister hin zur Europäischen Kommission, die nicht gewählt ist und nicht durch demokratische Mittel abgewählt werden kann (vgl. David Packer, ‚Wohin geht Europa?‘ ebd., S. 3).
Dieser Vertrag geht weiter als alle vorherigen Verträge, und zwar in Richtung eines europäischen Staates. David Packer weiter:
„Er ging weiter als jeder andere Vertrag vor ihm in Richtung eines europäischen Staates. Er schafft eine ‚europäische Staatsbürgerschaft‘, er legt Verfahren und Fristen fest für eine einheitliche Währung als Teil einer Wirtschafts- und Währungsunion, er verpflichtet zu einer gemeinsamen Politik in Rechtsfragen und schafft die Voraussetzungen für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik … Wirtschaftliche Macht wird sowohl den nationalen Regierungen als auch den Nationalbanken entzogen und an eine Europäische Zentralbank delegiert werden, die niemanden Rechenschaftspflicht schuldig ist.“
(David Packer, ebd., S. 6).
Natürlich wird sich die Integration nach den Wünschen des reichsten und mächtigsten Mitglieds vollziehen – Deutschland, so Packer (vgl. ebd., S. 10).
Maastricht muss nach Packer als Waffe bezeichnet werden, die sich gegen die Arbeiterklasse richtet:
„Die Kürzungen ‚exzessiver öffentlicher Ausgaben‘ (Artikel 104c des Maastrichter Vertrages) haben bereits zu den ersten anti-Maastricht-Streiks in Italien und Griechenland geführt. In Italien haben massive Kürzungen von Sozialausgaben Hunderttausende auf die Straße gebracht, die dagegen protestieren, dass das Rad der Geschichte wieder ins 19. Jahrhundert zurückgedreht wird.“
(David Packer, ebd., S. 10).
Ab November 1993 wurde die EWG offiziell zur ‚Europäischen Gemeinschaft‘ nach dem Vertrag über die Europäische Union. Der neue Vertrag schafft eine Europäische Union, die eine europäische Staatsbürgerschaft vorsieht und darauf abzielt, die innerstaatliche Zusammenarbeit in Wirtschafts- und Währungsfragen zu verstärken, um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen, aber auch um in Rechts- und innenpolitischen Fragen zu kooperieren (vgl. Europa World Year Book, 1998, Band 1, London 1998, S. 152).
Noch kurz vor dem britischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft hieß es in einer Denkschrift der britischen Regierung aus dem Jahre 1971 unter der Überschrift ‚Das Vereinigte Königreich und die Europäischen Gemeinschaften‘):
„Von einer Aushöhlung wesentlicher Bestandteile der nationalen Souveränität kann keine Rede sein.“
(Keesing’s Contemporary Archives, Band 18, S. 24.862).
In derselben Denkschrift heißt es weiter:
„Unsere Wirtschaft wird stärker werden und unsere Industrie und unsere Menschen werden davon mehr profitieren, wenn wir den Europäischen Gemeinschaften beitreten als wenn wir draußen bleiben.“
(Ebd., S. 24.864).
Tatsächlich jedoch hat Großbritannien durch den Beitritt zur EU seine souveränen Rechte über den Handel, die Landwirtschaft, den Stahlbau, Schiffsbau, über Energie und den Transport, seine Fischereirechte und die über den Zusammenschluss von Konzernen aufgegeben. Großbritannien stimmte auch zu, die Lasten für die Subventionierung der Gemeinsamen Agrarpolitik mitzutragen und ließ ehemalige Handelspartner im Stich, indem es das souveräne Recht aufgab, billigere Lebensmittel aus der ganzen Welt einzuführen, so John Boyd (vgl. John Boyd, ‚Großbritannien und die Europäische Union. Demokratie oder Superstaat nach Maastricht?‘ ebd., S. 3).
Das ökonomische Versprechen, das für den Fall einer britischen Mitgliedschaft in der EU gemacht wurde, hat sich als Fata Morgana erwiesen (vgl. Brian Burkitt, Mark Baimbridge & Stephen Reed, ‚Von Rom zu Maastricht. Eine Neubewertung der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft‘, London 1992, S. 3).
Die Autoren weisen darauf hin, dass sich die EU als wichtiger Faktor für den relativen wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens erwiesen hat (vgl. ebd., S. 6). Die Autoren weiter:
„Der relative Niedergang der britischen Industrieproduktion setzte sich nicht nur fort, er beschleunigte sich sogar. Vor der Mitgliedschaft hatte das Vereinigte Königreich noch im Handel mit Industriewaren gegenüber der EU einen Überschuss zu verzeichnen.“
(Ebd. 10f).
In den achtziger Jahren entwickelte sich Großbritannien in bedeutendem Maße zu einem Importeur von Industrieprodukten, nachdem es seit der Zeit der Industriellen Revolution … auf diesem Gebiet ständig Überschüsse erzielt hatte (vgl. ebd., S. 19).
John Boyd zieht folgendes Resümee aus der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens:
„Hauptsächlich wegen der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft sehen sich Großbritannien und seine Bevölkerung mit folgender Situation konfrontiert: Mit einem industriellen Niedergang, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht: über vier Millionen Arbeitnehmer haben nach einer Erhebung aus dem Jahre 1991 in der Industrieproduktion ihren Arbeitsplatz verloren; weniger als jeder vierte arbeitet heute in der Industrieproduktion und mehr als jeder zweite ist nun im Dienstleistungssektor beschäftigt; 80% der arbeitenden Frauen befinden sich im Dienstleistungssektor und nur jede achte arbeitet in der Industrie; die Beschäftigtenzahl in der Produktion fiel 1991 um 338.000 und um 263.000 im Jahre 1992. Sie sehen sich konfrontiert mit dem fast vollständigen Verschwinden der Handelsflotte und der faktischen Aufgabe der westlichen Häfen; mit dem Ende der Fischereiflotte und der Fischereihäfen. Jetzt sind ausländische Schiffe in britischen Gewässern vertreten gemäß der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen Gemeinschaft. … Großbritannien verzeichnet jetzt ein riesiges Handelsdefizit. Es belief sich 1992 auf über fünf Milliarden Pfund Sterling, allein mit Deutschland waren es drei Milliarden.“
(John Boyd, ebd., S. 27f).
US-Globalisierung
Im Januar 1988 wurde zwischen den USA und Kanada ein Freihandelsabkommen unterzeichnet (vgl. Europa Year Book 1998, Band 1, London 1998, S. 203).
Im Juni 1990 entwickelte Präsident George H. Bush seine Vision von einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (vgl. Sidney Weintraub, ‚NAFTA. Was kommt als nächstes?‘ Westport, USA 1994, S. 80).
Im Dezember 1992 wurde das Freihandelsabkommen Kanada-USA auf Mexiko ausgeweitet. Es entstand NAFTA (vgl. ebd.).
Das Freihandelsabkommen Kanada-USA und NAFTA erlegt kanadischen Regierungen strenge und verbindliche Vorschriften auf, denen man nur noch durch ein klares Nein entkommen kann (vgl. Vorwort zu: Maude Barlow & Bruce Campbell, ‚Fordert die Nation ein. Der Herausforderung von NAFTA begegnen‘, Toronto 1993, S.VII).
Das Ergebnis:
NAFTA ist zum obersten Gesetz in Kanada geworden. Seine Vollmachten setzen sowohl die Bundes- als auch die provinzielle Gesetzgebung außer Kraft. NAFTA bezweckt die Übertragung von Vollmachten weg von demokratisch gewählten Regierungen hin zu transnationalen Gesellschaften (Ebd., S. 92).
Damit steht Kanada vor der Auslöschung seiner nationalen Unabhängigkeit (Vorwort zu ebd., S. VII).
Den Hauptnutzen aus NAFTA ziehen US-Hersteller, die einen Teil oder ihre gesamte Produktion an der Südgrenze zu Mexiko nach Nordmexiko verlegt haben, wo die Arbeitskosten ein Zehntel des US-Niveaus betragen – bei einer Arbeitsproduktivität die überraschenderweise höher liegt als in den USA (vgl. ebd. S. 74).
Der eklatante Verlust an Souveränität, den die Globalisierung Mexiko eingebracht hat, wird sehr gut durch den Fall des mexikanischen Gynäkologen Dr. Alvarez Macham illustriert, der von mexikanischen Kopfgeldjägern aus seinem Büro in Guadelajara heraus entführt wurde, um Agenten der Bundespolizei (der USA – Verf.) übergeben zu werden, die jenseits der Grenze auf ihn warteten. Die Aktion der USA wurde später durch das Oberste Gericht der USA abgesegnet (vgl. New York Times vom 22. Juni 1993, S. A 11).
Japanische Globalisierung
Obwohl Japan durch seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg zurückgeworfen wurde, ist das jüngste imperialistische Land zu einem Motor der Globalisierung geworden.
Vor nur knapp einer Generation betrug Japans Anteil an der Weltwirtschaft weniger als 2%. Der Anteil der USA belief sich damals auf 35%. Aber schon 1980 war der japanische Anteil auf ungefähr 19% angestiegen. Inzwischen ist der Anteil der USA auf etwa 20% zurückgegangen (vgl. Ellen I. Frost, ‚Reicher – ärmer. Die neue japanisch-amerikanische Beziehung‘, New York 1987, S. 6).
Das heißt, dass Japan reicher und die USA ärmer geworden sind, so Ellen I. Frost.
Im September 1980 wird ein regierungsunabhängiges internationales Symposium an der australischen Nationaluniversität Canberra abgehalten, um den Gedanken einer Pazifischen Gemeinschaft näher zu untersuchen. Das Ergebnis: Es wird die Pazifische Konferenz für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (Pacific Economic Cooperation Conference – PECC) ins Leben gerufen. Die ursprünglichen Teilnehmer an der wissenschaftlichen Konferenz waren die USA, Kanada, Japan, Australien, Neuseeland und die vier ASEAN-Staaten – Südkorea, Papua Neuguinea, Fitschi und Tonga (vgl. Pekka Korhonen, ‚Japan und die Pazifische Freihandelszone‘, London 1994, S. 177).
ASEAN ist eine regionale, zwischenstaatliche Organisation, die von den Regierungen Indonesiens, Malaysias, der Philippinen, Singapurs und Thailands gegründet wurde (vgl. Statesman’s Yearbook 1998-1999, ebd., S. 75).
Dann schließlich, im November 1989, wird die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftskooperation (Asia-Pacific Economic Cooperation – APEC) gegründet, um Programme für die Zusammenarbeit unter den Mitgliedsstaaten zu erarbeiten. Sie wird im Juni 1992 nach einem Treffen in Bangkok offiziell etabliert, wo man sich darauf einigt, ein Sekretariat in Singapur einzurichten. APEC ist heute das Hauptinstrument, um den freien Handel und die praktische wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region voranzutreiben. Ihre Mitgliedsstaaten erwirtschafteten 1995 zusammen ein Bruttoinlandsprodukt von über 13 Billionen Dollar. Im Januar 1998 hatte die Organisation 19 Mitgliedsstaaten, darunter Australien, Brunei, Kanada, Chile, China, Indonesien, Japan, Südkorea, die Philippinen, Singapur, Taiwan, Thailand oder die USA (vgl. ebd. S. 74).
Das zweite Treffen der Wirtschaftsminister der APEC-Staaten im Jahre 1994 beschließt eine gemeinsame Absichtserklärung, das Ziel eines freien und offenen Handels und gemeinsamer Investitionen in der Region bis spätestens 2010 zu verwirklichen, was die entwickelten Industrieländer angeht. Was die sich entwickelnden Länder betrifft, so soll das gleiche Ziel bis 2020 erreicht werden.
Die Osaka-Aktions-Agenda, die 1995 in Osaka beschlossen wird, sieht die Erarbeitung eines Plans vor, um die eingegangenen Verpflichtungen zur Erreichung dieser Ziele umzusetzen (vgl. ebd.).
Man war der Ansicht, dass APEC eine ‚wichtige Kraft für die globale Liberalisierung des Handels sein kann‘ (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftskooperation 1994, in: Pekka Korhonen, ebd. S. 168).
Es versteht sich von selbst, dass jede regionale asiatisch-pazifische Freihandelszone vom japanischen Imperialismus dominiert werden wird:
„Es kann kein Zweifel an der bedeutenden japanischen Rolle in der asiatisch-pazifischen Region aufkommen … Als dominierender Handelspartner für fast alle Länder in der Region und als eine wichtige Quelle für Finanzhilfen und Technologie gehört Japans Präsenz bereits heute zu den entscheidenden Faktoren für die Zukunft der Region.“
(Shibusawa Masahide, ‚Japan und die Asiatisch-Pazifische Region. Profil des Wandels‘, London 1984, S. 137).
In der Juni-Ausgabe von Atlantic Monthly (1993) wird von Akio Morita, dem Vorsitzenden von Sony, ein offener Brief veröffentlicht, in dem er den Vorschlag macht, dass Nordamerika, Europa und Japan eng zusammenarbeiten sollten, um
„Hindernisse für ein System der freien Märkte zu beseitigen und um es offener, umfassender und freier zu gestalten als es heute ist. Der Vorschlag, den ich bitten würde zu berücksichtigen, besteht darin, dass wir anfangen, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um alle wirtschaftlichen Barrieren zwischen Nordamerika, Europa und Japan abzubauen, und zwar auf dem Gebiet des Handels, der Investitionen, des Rechts usw., damit wir anfangen können, den Kern einer neuen Weltwirtschaft zu schaffen, zu der auch ein harmonisches Weltwährungssystem mit vereinbarten Regeln und Verfahrensvorschriften, die die nationalen Grenzen überschreiten, gehören würde.“
(Akio Morita, ‚Offener Brief an die Führer der G7‘, in: Atlantic Monthly, Juni 1993, S. 88).
Das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI)
Die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (Organisation for Economic Cooperation and Development – OECD) kann mit Tony Clarke so umschrieben werden:
„Es ist der Club der reichen Nationen … 95,4% der größten transnationalen Gesellschaften der Welt haben ihren Sitz in einem der Mitgliedsstaaten der OECD.“
(Tony Clarke, in: Revolutionary Democracy, Band 4, Nr. 1, April 1998, S. 4f).
Im Mai 1995 kam die Weisung aus der OECD, ein ‚multilaterales Abkommen über Investitionen‘ vorzulegen, dessen Ziel sein müsse, ‚eine ganze Reihe neuer Regeln für globale Investitionen zu schaffen, die den transnationalen Gesellschaften das unbegrenzte Recht und die Freiheit zu kaufen, zu verkaufen sowie die Möglichkeit einräumen würde, ihre Aktivitäten jederzeit an jeden Ort der Welt ungehindert durch staatliche Einmischung oder Vorschriften zu verlegen.‘ (vgl. Tony Clarke, ebd. S. 4).
Kurz, das Ziel von MAI besteht in nichts anderem als darin ‚den nationalen Regierungen strenge Vorschriften darüber zu machen, was sie zu tun und zu lassen haben, um ihre Volkswirtschaften zu regulieren.‘ (vgl. ebd.).
Tatsächlich läuft MAI auf ‚eine globale Herrschaft der Kapitalgesellschaften hinaus‘ (ebd., S. 5).
MAI räumt den im Ausland ansässigen Kapitalgesellschaften und Investoren besondere Rechte und Privilegien ein. Die Regierungen sind nicht nur angehalten, diesen Gesellschaften aus anderen Ländern keine weniger günstigen Bedingungen einzuräumen als solchen aus dem eigenen Land, sondern diese Bedingungen müssen auch die Gleichheit der Wettbewerbslage garantieren (vgl. ebd., S. 6f).
MAI beinhaltet darüber hinaus auch eine Anzahl von Maßnahmen, die nur dazu dienen, die politische Macht der Konzerne zu stärken. Sie haben jetzt das Recht, Regierungen unmittelbar wegen eines Bruchs von MAI-Bestimmungen gerichtlich zu verklagen, falls dieser zu Verlusten oder zu einem Schaden für den Investor oder für seine Investitionen geführt hat oder ‚aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer solchen führen wird‘ (Ebd., S. 10).
Weltsystem-Theorie
Wie wir gesehen haben, bilden die Konzepte des Kosmopolitismus bzw. der Globalisierung die Grundlage für einen neuen Zweig in der Soziologie, der ‚Weltsystemtheorie‘ genannt wird und von Immanuel Wallerstein aus der Taufe gehoben wurde. Dazu Camiltari & Falk:
„Wie Immanuel Wallerstein und andere schon feststellten, ist das, wovon wir heute Zeugen sind, die Entwicklung eines ‚Weltsystems‘, dessen konstitutives Wesenselement die grenzüberschreitende Rolle des Kapitals ist.“
(Joseph A. Camiltari & Jim Falk, ‚Das Ende der Souveränität. Politik in einer schrumpfenden und zerstückelten Welt‘, Aldershot 1992, S. 77f).
Für Wallerstein ist die Weltwirtschaft heute universell in dem Sinne, dass sämtliche Nationalstaaten und Volkswirtschaften in unterschiedlichem Maße in ihre zentrale Struktur integriert sind (vgl. ebd., S. 78).
In vielerlei Hinsicht ist die Auffassung, dass sich die Welt auf eine transnationale Wirtschaft zubewegt, eine Wiedergeburt der Kautskyschen Theorie des Ultraimperialismus. Dazu Lenin:
„Kautsky schreibt, dass von einem rein ökonomischen Standpunkt aus gesehen es nicht unmöglich sei, dass der Kapitalismus noch einmal durch eine neue Phase hindurchgehen wird, nämlich durch die der Ausbreitung der Kartelle, die dann auch eine eigene Außenpolitik entwickeln, hin zu einem Ultraimperialismus, d. h. zu einem Superimperialismus, zu einer Union des Weltimperialismus, in der es zwischen den imperialistischen Ländern keine Kämpfe mehr gibt – eine Phase, in der es keine Kriege mehr im Kapitalismus geben wird, eine Phase der gemeinsamen Ausbeutung der Welt durch das international vereinigte Finanzkapital … Das Monopol kann aber die Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht vollständig und über einen längeren Zeitraum hinweg beseitigen. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Theorie des Ultraimperialismus so absurd ist.“
(Wladimir I. Lenin, ‚Der Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus‘, in: ‚Ausgewählte Werke‘, Band 5, London 1935, S. 86, 91).
Weil sich der Kapitalismus in den verschiedenen Geschäftszweigen, Regionen und in den verschiedenen Ländern ungleichmäßig entwickelt, können internationale Vereinbarungen über Marktabsprachen oder abhängige Gebiete nur vorläufiger Natur sein. Dazu noch einmal Lenin:
„Die einzig objektive, das heißt reale und soziale Bedeutung der Theorie Kautskys ist die, dass es sich bei ihr um eine äußerst reaktionäre Methode handelt, die Massen mit Hoffnungen auf einen ständigen Frieden, der im Kapitalismus angeblich möglich sein soll, zu vertrösten … Das, was sich tatsächlich hinter Kautskys ‚marxistischer‘ Theorie verbirgt, ist nichts anderes als Massenbetrug … Wir gehen davon aus, dass diese imperialistischen Länder Bündnisse miteinander eingehen, um ihre Besitzungen, ihre Interessen und ihre Einflusssphären zu schützen und auszuweiten … Eine solche Allianz wäre eine Allianz des ‚vereinigten internationalen Finanzkapitals‘.
Ist es vorstellbar, dass eine solche Allianz nicht nur vorläufiger Natur wäre? Die Frage so deutlich gestellt zu haben, bedeutet schon, dass es unmöglich ist, eine andere Antwort als eine verneinende darauf zu geben, denn im Kapitalismus ist keine andere Basis für die Aufteilung von Einflusssphären, von Interessen, von Kolonien usw. vorstellbar als die Einschätzung der Stärke der Beteiligten, ihrer allgemeinen wirtschaftlichen, finanziellen, militärischen Stärke usw. . Und die Stärke dieser Beteiligten bei der Aufteilung ändert sich nicht zu gleichen Teilen, denn im Kapitalismus kann die Entwicklung verschiedener Unternehmungen, Trusts, Industriezweige, Länder nicht gleichmäßig sein.
Deshalb sind innerimperialistische oder ‚ultraimperialistische‘ Allianzen in der Realität des kapitalistischen Systems zwangsläufig nichts anderes als ein Waffenstillstand zwischen Kriegen.“
(Wladimir I. Lenin, ‚ebd., S. 109f).
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