Freitag, 28. März 2014

Die netten Mörder von Michoacán

Im Süden Mexikos inszeniert sich die Drogenmafia als Beschützerin von Witwen und Waisen – doch in Wahrheit unterdrückt sie die Menschen mit brutaler Gewalt. Nun erheben sich die Bürger von Alexandra Endres DIE ZEIT 27. März 2014 19:31 Uhr Diese Geschichte aus Mexiko ließe sich als Hollywooddrama ganz einfach erzählen. Dann würden die Unterdrückten gegen die Unterdrücker kämpfen, und am Ende würden die Guten gegen die Bösen gewinnen. Die Guten in diesem Film, das wären die Bürger des mexikanischen Bundesstaats Michoacán: Zitrus- und Avocadobauern, Lehrer, Ärzte und ein paar Geschäftsleute. Die Bösen, das wären die Schergen der Drogenmafia, die den Menschen das Leben mithilfe korrupter Polizisten zur Hölle machen; die Bauern von ihren Höfen verjagen; die Geld von ihnen erpressen für jede verkaufte Avocado; die Familienangehörige entführen, foltern, töten und verschwinden lassen – und die nicht selten ihre getöteten Opfer öffentlich zur Schau stellen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Lange war das Alltag in Michoacán. Doch nun stehen die Bürger des Bundesstaats auf. Sie tun sich zusammen, sie bewaffnen sich und nehmen das Recht selbst in die Hand. Sie vertreiben die Drogenbosse, weil der Staat dabei versagt. Das wäre die Heldengeschichte, wie sie zur Hollywooderzählung von Gut und Böse passen würde. Doch die Wahrheit ist komplizierter. Wer gut ist und wer böse in Michoacán, lässt sich nicht eindeutig sagen. Die Drogenbanden haben einst selbst als Verteidiger der Bürger angefangen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die heutigen Bürgermilizen genauso enden wie sie. Mexiko leidet seit Jahren unter dem Drogenkrieg. Zigtausende sind durch ihn gestorben, und die Gewalt beeinträchtigt auch den Wohlstand des Landes. Zwar wuchs die Wirtschaftsleistung im vergangenen Jahr um mehr als drei Prozent. Volkswirte erwarten einen weiteren Wachstumsschub, wenn Präsident Enrique Peña Nieto jetzt die Erdöl- und Telekommunikationsbranche liberalisiert. Ausländische Investoren sind begierig, im Ölgeschäft mitzumischen, zumal Mexiko zu den größten Ölförderländern der Welt gehört. Mit den Profiten, die das Öl hoffentlich bringt, will der Präsident Mexiko zu einem wohlhabenderen und sozial gerechteren Land machen. Doch die Gewalt des Drogenkrieges kratzt am Wohlstand. Die Regierung beziffert den Schaden mit 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Michoacán denken Unternehmer statt über weitere Investitionen sogar über Rückzug nach. Statt sich ganz auf die Wirtschaftsreformen zu konzentrieren, muss sich Präsident Peña Nieto nun mit den dortigen Kartellen herumschlagen. In Michoacán ist der mächtigste Mann nicht der Präsident, sondern Servando Gómez. Gómez führt das Drogenkartell der Tempelritter, der unumschränkten Herren Michoacáns. Sie geben sich als fromme Beschützer von Witwen, Waisen und Unterdrückten und als Kämpfer für das Wohl künftiger Generationen. Doch die religiöse Mildtätigkeit ist nur Fassade, der religiöse Ritus Camouflage und auch Hohn: Schutzgeldopfer laden sie zu pseudoreligiösen Zusammenkünften, um mit ihnen das Brot zu teilen. Wenn sie morden, hinterlassen die Tempelritter Botschaften am Tatort, um zu erklären, dass die Toten im Interesse der Allgemeinheit sterben mussten. "Dies ist göttliche Justiz", schreiben sie. In Wahrheit sind die Tempelritter ebenso grausame Mörder wie die Mitglieder der anderen mexikanischen Drogenkartelle. Ihr Boss Servando Gómez war in seinem früheren Leben Grundschullehrer. Daran erinnert heute nur noch sein Spitzname. El Profe wird er genannt, oder La Tuta. Die Regierung hat ein Kopfgeld in Höhe von rund 2,3 Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. In Michoacán kann er sich mancherorts dennoch frei bewegen: Ein Nachrichtenvideo des britischen Fernsehsenders Channel 4 zeigt, wie er auf der Plaza eines Städtchens Geldscheine an Mütter verteilt, die mit ihren Babys zu ihm kommen. Eine junge Frau küsst seine Hand, La Tuta streicht ihr übers Haar. "Ich war schon immer altruistisch", wird er später ins Mikrofon sagen. In Wahrheit aber geht es auch La Tuta nur ums Geschäft. Seine Tempelritter beherrschen die Wirtschaft des Bundesstaats Michoacán. Die Drogenkartelle seien organisiert wie ganz normale Konzerne, sagt Rodrigo Canales, der an der Management-Fakultät der Universität Yale erforscht, wie ökonomische Organisationen funktionieren. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die wesentlichen Geschäfte der Mafia sind illegal, erst die Gewinne daraus investieren sie in legale Unternehmungen, um sie zu waschen. Die Brutalität der Banden ist kein Selbstzweck. Sie dient ihnen dazu, ihre Märkte, Transportwege und Profite im rechtsfreien Raum vor Konkurrenz und dem Eingriff des Staates zu schützen. Jedes Kartell habe seine eigene Geschäfts- und Marketingstrategie, sagt Canales. Die Zetas zum Beispiel, Ex-Elitesoldaten mit klaren Hierarchien und straffer Befehlskette, operieren wie ein Franchise-Konzern des Organisierten Verbrechens. Sie schützen ihre Märkte vor Konkurrenz, indem sie brutale Gewalt an Widersachern zur Schau stellen. Das Sinaloa-Kartell hingegen ist weniger hierarchisch, sondern bildet flexible Netzwerke, die über die ganze Welt reichen, ein "wahrhaft multinationaler, hoch innovativer Konzern", sagt der Ökonom Canales. Der Boss des Sinaloa-Kartells, Joaquín "El Chapo" Guzmán, wurde erst kürzlich nach jahrelanger Flucht gefasst. Seine Organisation bleibt dennoch das vermutlich größte Kartell des Landes und die vielleicht größte kriminelle Organisation der Welt. Die Tempelritter inszenieren sich in Michoacán als soziales Unternehmen. Der Staat gehört zu den ärmsten Mexikos. Die Tempelritter engagieren sich dort gegen häusliche Gewalt und Kleinkriminalität, und sie bauen Straßen, Schulen und Suchtkliniken. Bis heute finden Jugendliche ohne Aussicht auf einen legalen Job in Michoacán vor allem Arbeit bei der Drogenmafia. Ihr soziales Engagement garantiert den Tempelrittern einen starken Rückhalt in der Bevölkerung. "In Michoacán sind die kriminellen Organisationen so tief in der Gesellschaft verwurzelt wie nirgendwo sonst in Mexiko", sagt der mexikanische Sicherheitsexperte Christian Ehrlich. Er arbeitet für die Risikoanalysefirma Riskop, die auch Unternehmen in Michoacán berät. "Die Leute dort akzeptieren die Autorität des Zentralstaats nicht", sagt er. Aber die Herrschaft der Tempelritter erkennen sie an. Das ist die wichtigste Grundlage für deren illegale Geschäfte. Vielleicht kann man Michoacán mit Sizilien vergleichen. Sergio Luna jedenfalls sagt, Mexiko sei gespalten wie Italien, wo es einen reichen Norden gibt und den armen Süden, in dem auch Sizilien liegt. Der Analyst beobachtet in Mexiko-Stadt für die Bank Banamex die Wirtschaft des Landes. Der Norden sei stark, mit sehr produktiven, exportorientierten Betrieben, sagt Luna. Auch die VW-Fabrik im zentralmexikanischen Puebla gehöre zu den produktivsten der Welt. Der Süden indes falle zurück und ähnle immer mehr den Ländern Zentralamerikas. Eine Hoffnung an die Wirtschaftsreformen Peña Nietos ist, dass auch der Süden profitiert. Michoacán gehört zum Süden. Eines der Zentren seiner Drogenökonomie ist der Pazifikhafen Lázaro Cárdenas, der seit Jahren von den Tempelrittern kontrolliert wird. Er ist ein Umschlagplatz für illegale Güter, zum Beispiel für Ephedrin aus China, das die Tempelritter in ihren Drogenlabors weiterverarbeiten zu Methamphetamin (Crystal Meth). In Lázaro Cárdenas laufen Schiffe aus Asien und Südamerika ein, von hier aus ist man schnell in Zentralmexiko und den USA, dem wichtigsten Markt der mexikanischen Drogenkartelle. "Ohne den Hafen gäbe es keine Kartelle", sagt Carlos Vilalta, Geograf und Experte für Organisierte Kriminalität an der CIDE-Hochschule in Mexiko-Stadt. Auch die Bundesstraße 37, die von Lázaro Cárdenas ins Landesinnere führt, und wichtige Verkehrsknotenpunkte entlang der Strecke kontrollieren die Templer. Über sie transportieren sie ihre wichtigsten Waren: Chemikalien für die Herstellung von Amphetamin, Kokain aus Südamerika, Rohstoffe und Marihuana aus der Region, gefälschte Markenwaren aus China. Nicht immer begleichen die Templer ihre Rechnung in bar. Ihre chinesischen Geschäftspartner etwa akzeptieren auch Metalle und Erze aus den Minen Michoacáns als Bezahlung. Manches davon ist Bergarbeitern abgepresst, anderes holen die Templer illegal aus der Erde. Wer ihnen dabei in die Quere kommt, kann das mit seinem Leben bezahlen – so wie Virgilio Camacho, ein Manager des Stahlmultis ArcelorMittal, der im April 2013 erschossen wurde. Die Hintergründe des Mordes sind nicht aufgeklärt, die Behörden äußern sich kaum. Aber das Wall Street Journal und El País berichteten über Hinweise darauf, dass die Tempelritter hinter dem Verbrechen stecken. Mehr als 80 Prozent der Unternehmen in Michoacán sollen bis vor Kurzem Schutzgeld an die Templer gezahlt haben. Selbst Gemeindeverwaltungen entrichten ihren Anteil an die Mafia, auf Spanisch narcocuota, und Privatleute zahlen ebenfalls, um in Ruhe gelassen zu werden oder um entführte Angehörige wieder freizubekommen. Wie viel das Kartell durch seine illegalen Geschäfte verdient, lässt sich kaum schätzen. Allein die Kontrolle des Hafens von Lázaro Cárdenas soll ihm rund zwei Millionen Dollar jährlich einbringen, das erklärte Michoacáns Gouverneur im November. Die exakten Zahlen kennt aber niemand – vermutlich nicht einmal La Tuta selbst. Seit wenigen Monaten aber wird es schwieriger für die Tempelritter, Geschäfte zu machen. Sie sind in der Defensive, seit die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto sie im November von ihrer wichtigsten Einkommensquelle vertreiben wollte. Der Präsident schickte Soldaten nach Lázaro Cárdenas. Sie besetzten den Hafen und entmachteten die Polizisten vor Ort. Den Ordnungshütern wurde vorgeworfen, nicht für den Staat zu arbeiten, sondern für die Drogenmafia. Und kurz nach dem Einmarsch der Armee nach Lázaro Cárdenas erhoben sich Bürgerwehren in Michoacán – Gruppen ebenjener Leute, deren Schutz den Tempelrittern angeblich am Herzen lag. Die Mafia habe "ihr Blatt überreizt", sagt der Wirtschaftsforscher Canales. "Am Anfang haben die Leute das Kartell unterstützt. Man nahm an, dass sie sich organisiert hatten, um die Zetas fernzuhalten – und vor den Zetas hatte man große Angst." Lange gab es deshalb eine Art stillschweigende Übereinkunft zwischen den Tempelrittern und den Bürgern Michoacáns: Die Mafia beschränkte sich auf den Drogenhandel, sie verkaufte ihre Ware nicht in Michoacán, und sie hielt andere Kartelle fern. "Das fanden die Leute gut", sagt Canales. Aber irgendwann diversifizierten die Templer ihr Geschäft. Mit jeder Entführung, Erpressung und Gewalttat, die sie in ihrem Heimatstaat begingen, verletzten sie das Abkommen mit den Einwohnern. Bis die sich zur Wehr setzten. In den vergangenen Wochen eroberten die Bürgermilizen Ortschaft um Ortschaft. Die Mehrheit der Bevölkerung ist auf ihrer Seite. Doch die Siege der Bürgerwehren könnten das Chaos von Michoacán noch verschlimmern. Denn andere Kartelle nutzen die Gelegenheit, um ihre Macht in dem Bundesstaat auszubauen: die Zetas und das Kartell Jalisco Neue Generation, das angeblich zum Sinaloa-Kartell gehört. Wer steckt hinter den Bürgerwehren? Die Fronten sind schwer zu durchschauen. Auch die Rolle der Bürgerwehren ist nicht klar: Wer finanziert sie? Woher haben einfache Bauern das Geld, sich teure Jeeps zu kaufen und schwere Schusswaffen, die sich sonst nur in Armeebeständen finden? Ein Experte sagt, es gebe mittlerweile vier verschiedene Arten von Bürgerwehren in Michoacán: Die einen seien tatsächlich von Bürgern gegründete Selbstverteidigungsgruppen. Die anderen aber stünden im Dienst des Sinaloa-Kartells, der mexikanischen Regierung – oder der Tempelritter selbst. Geschlagen sind die Tempelritter wohl noch lange nicht. In Lázaro Cárdenas zum Beispiel haben die Soldaten offiziell die Macht übernommen. Aber ein Hafen von dieser Größe lässt sich nicht komplett kontrollieren. Es sei "sehr schwer zu glauben, dass es der Armee gelungen ist, die Netzwerke der Tempelritter in Lázaro Cárdenas aufzulösen", sagt der Yale-Professor Canales. Auch andere Experten vermuten, dass die Templer zumindest einen Teil ihrer Geschäfte immer noch über den Hafen abwickeln. Auch die Bürgerwehren aber erkennen das Gewaltmonopol des Staats nicht an – und statt dagegen vorzugehen, erlaubt Mexikos Regierung ihnen nun, Waffen zu tragen. Die Bürger würden kaum bereit sein, ihre Waffen so bald wieder abzugeben, sagt Canales. Ihn erinnert der Fall an Kolumbien, wo die Paramilitärs auf ähnliche Art entstanden. Vielleicht aber wächst in Michoacán auch gerade ein neues Unternehmen des Organisierten Verbrechens heran – schließlich haben sich die Vorgänger der Templer einst aus genau den gleichen Gründen zusammengetan wie jetzt die Bürgermilizen, als sie die Einwohner vor den anderen Drogenkartellen schützen wollten. Vor Kurzem wurde gar ein Anführer der Bürgerwehren verhaftet, weil er am Mord an einem Kampfgenossen beteiligt gewesen sein soll. Es scheint, als kämpfe in Michoacán gerade jeder gegen jeden. Die mörderische Gewalt werde in den kommenden Monaten noch schlimmer werden, sagt der Geograf Carlos Vilalta. Er hält Michoacán für einen gescheiterten Staat. Mexiko aber ist als Staat noch nicht gescheitert – trotz der herrschenden Straflosigkeit in Teilen des Landes, und obgleich die Hauptstadt gar nicht weit entfernt ist von Michoacán. In Mexiko-Stadt treibt Präsident Peña Nieto seine Reformen voran. Werden sie geschickt umgesetzt, könnten sie Infrastruktur, Bildung und Sozialprogramme für alle Mexikaner bringen, sagt Bankanalyst Sergio Luna. Die Tradition der Mafia in Michoacán aufzubrechen wird trotzdem schwer. URL: http://www.zeit.de/2014/14/mexiko-drogenmafia-michoacan/komplettansicht _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

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