Freitag, 28. März 2014
Buchbesprechung: Luz Kerkeling: Resistencia!
gwr
http://www.graswurzel.net/387/resistencia.php
>> 387 märz 2014
Gegen Ausbeutung, für Autonomie
Luz Kerkelings Studie zum "indigenen Widerstand" im Süden Mexikos lässt die
AkteurInnen selbst zu Wort kommen
Es ist einer scheinbar libertären Geste geschuldet, wenn der Soziologe Bruno
Latour die "Vernarrtheit der Sozialtheoretiker in emanzipative Politik"
beklagt. Die Sozialwissenschaften, gerade die sich als kritisch
bezeichnenden, hätten sich immer über die Akteurinnen und Akteure selbst
gestellt. Sie hätten so getan, als wüssten sie es besser, als könnten nur
sie die Schleier von Verblödung und Verblendung lüften und enthüllen, was
die einfachen Leute selbst nicht sehen. Und, wie die "kritische Soziologie"
in den Augen Latours, überall Macht am Werke zu sehen, würde die Leute eher
betäuben statt aufrütteln, und das sei schon ein "politisches Verbrechen"
(148). Harte Worte - geäußert in "Eine neue Soziologie für eine neue
Gesellschaft" (Frankfurt a. M. 2010) , die sich vor allem gegen Pierre
Bourdieu und seine AnhängerInnen richten.
Nun ist Luz Kerkeling kein Sozialtheoretiker. Aber sein neues Buch ist eine
soziologische Studie, und die ist ganz explizit emanzipatorischer Politik
verpflichtet. Man muss Latour widersprechen und das geht mit dieser Arbeit
in der Hand sehr gut. Wollten wir es in der Latour'schen Drastik tun,
müssten wir sagen: Es wäre eine Katastrophe, gäbe es nicht weiterhin solch
parteiische und machtanalytische, solch akribische und vielstimmige Studien
wie die von Kerkeling!
Inwiefern?
Kerkeling beschreibt seine Arbeit selbst als "eine akteursorientierte und
deskriptiv-analytische Langzeitstudie" (17). Er bezeichnet sich selbst in
Anführungszeichen als "Lautsprecher" für die Themen und Menschen, denen er
sich gewidmet hat. Auf theoretische Interventionen kommt es ihm weniger an.
Gegenstand der Studie sind die sozialen Bewegungen im Süden Mexikos, die
sich gegen Marginalisierung, rassistische Ausgrenzung und gegen
Umweltzerstörung zur Wehr setzen und für ein würdiges Leben eintreten.
Selbstverständlich sind dabei dem Zapatismus, der 1994 mit einem Aufstand im
Bundesstaat Chiapas für internationalen Wirbel sorgte, ein eigenes Kapitel
und verschiedene Nebenbetrachtungen gewidmet.
Aber er steht nicht allein im Zentrum der Arbeit, und es ist das erste
Verdienst Kerkelings, einer hiesigen LeserInnenschaft einen Einblick in
ähnliche Konfliktfelder und Bewegungsdynamiken zu liefern, die neben Chiapas
auch noch Oaxaca und Guerrero umfassen.
Alle drei gehören zu denjenigen der 32 mexikanischen Bundesstaaten, in denen
sowohl die Armut als auch der Anteil der indigenen Bevölkerungsgruppen an
der Gesamtbevölkerung besonders groß ist. Das ist keine zufällige
Koinzidenz, sondern ein systematischer Zusammenhang. Auch solche
Hintergründe, vor denen der schließlich untersuchte "indigene Widerstand"
sich abspielt, präsentiert das Buch mit langen Zitaten aus der Sicht der
Befragten.
Kerkeling hat bei mehrmaligen Aufenthalten vor Ort über 100 Interviews
geführt. Nicht nur mit Aktivistinnen und Aktivisten, sondern auch mit
NGO-MitarbeiterInnen, wissenschaftlichen ExpertInnen zu den jeweiligen
Themen und anderen. Auch staatliche Quellen, Statistiken wie Statements,
werden integriert.
Indigener Widerstand besteht aus einer Vielzahl von radikalen
Basisorganisationen, er findet sich punktuell gegen infrastrukturelle
und/oder touristische Großprojekte zusammen oder existiert organisatorisch
langfristig wie im Falle der Zapatistas oder des Nationalen Indigenen
Kongresses (CNI).
Die Themen und Situationen, an denen sich solche Widerstände entzünden, sind
so vielfältig wie systematisch, insofern sie alle im Kontext
kapitalistischer Entwicklungs- und Modernisierungslogik stehen: Im
Umweltbereich etwa beschreibt Kerkeling die Durchsetzung von Monokulturen,
den Tagebau, Großstaudämme und auch den Tourismus als Konfliktanlässe. Aber
auch Umsiedlungsprojekte wie die Gründung sogenannter "Landstädte", die die
verstreut in Dörfern und Siedlungen lebende Landbevölkerung in
zentralisierten Einheiten zusammenfassen sollen und von Kerkeling als
"komplexer Kontrollmechanismus" (117) bezeichnet werden, sind als Auslöser
für Widerstand beschrieben.
Kerkeling überzeugt dabei einerseits mit detailliertem und immer wieder
beinahe erschlagendem Faktenwissen und liefert damit bereits eine für
Lateinamerikastudien fortan unumgängliche Arbeit zu Sozialstruktur und
Politik in Mexiko. Inhaltlich ist das oft niederschmetternd, wenn etwa
aufgezeigt wird, dass allein durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen
(NAFTA) in zehn Jahren mehr als 6,2 Millionen Bauern und Bäuerinnen in die
Migration gezwungen wurden. (132)
Auf diese Art von Machteffekten hinzuweisen, ist dennoch alles andere als
entmutigend. Erstens, weil Machteffekte hier nicht als diffuse Wolke
erscheinen, die alles vernebelt, sondern in Form konkret benennbarer Kräfte
beschrieben werden (etwa Agrar- und Pharmakonzerne, neoliberale Think Tanks,
die mexikanische Regierung etc.). Das heißt nicht, dass Kerkeling von einem
homogenen, repressiven Block oder von Herrschaftsmechanismen ausgeht, die
sich nicht verändern.
Das Entwicklungsprogramm "Chiapas Solidario" etwa schildert er als
Regierungsform, in der explizit mit dem Aufgreifen vormals linker,
oppositioneller Vorstellungen und Vokabeln gearbeitet wird.
Zweitens, und das ist ja das Hauptanliegen des Buches, kommen eben gerade
diejenigen zu Wort, die sich zur Wehr setzen. Die vielfachen
Autonomiebestrebungen werden immer auch als Alternative zur kapitalistischen
Modernisierung diskutiert. Verschiedene aktivistische Zusammenschlüsse wie
etwa die "Indianischen Organisationen für Menschenrechte in Oaxaca" (OIDHO),
der schon genannte CNI oder die neben der EZLN tätigen Guerilla-Gruppen in
Chiapas werden ausführlich in ihren Organisationsstrukturen wie auch
hinsichtlich ihrer Bündnispolitiken beschrieben. Und dies geschieht immer
entlang der Auskünfte und Sichtweisen der Beteiligten. Dabei werden auch
quer zu den jeweiligen Gruppen und Anlässen liegende bzw. sie durchziehende
Kampfschauplätze berücksichtigt: Kerkeling widmet den Kämpfen von Frauen ein
eigenes Kapitel und vergleicht Forderungen und Problemlagen zwischen den
Bewegungen.
Der alltäglichen Mehrfachbelastung und der Diskriminierung auch in den
eigenen Reihen wird mit selbstbewusster geführten Kämpfen gegen die
Viktimisierung begegnet, mit konkreten Gesundheits- und Ernährungsprojekten
sowie mit Erklärungen wie jener der ökologischen Fraueninitiative OMESP, in
der es schlicht heißt: "Keine Art des Wandels wäre gut, wenn wir dabei nicht
wertgeschätzt und respektiert würden." (399)
Es ließe sich nun sicherlich darüber streiten, ob all dieser Widerstand
selbst "indigen" ist oder ob es sich bei der ethnischen Bestimmung nicht nur
um die Klassifizierung der Leute handelt, die ihn ausüben. Auch die sich
widersprechenden Gebrauchsweisen von Worten wie "Zivilgesellschaft" müssten
schließlich vielleicht doch aus einer Metaperspektive bewertet und aufgelöst
werden. Und zwar, um seine Relevanz beurteilen zu können. Zu konstatieren,
dass die Perspektive desjenigen, der hier über zehn Jahre analysiert und
vergleicht, zu anderen Ergebnissen kommt als diejenigen, die direkt
involviert sind, kann jedenfalls auch als logisch und ehrlich statt als
verwerflich gelten.
Das Problem, dass man sich damit potenziell wieder über die Leute selbst
stellt, oder zumindest neben sie, hat auch Latour nicht gelöst. Es
sozialtheoretisch zu lösen, hat Kerkeling sich im Übrigen nicht zur Aufgabe
gemacht. Die, die er sich gestellt hat, ein nah an den Kämpfen orientiertes
Panoramabild über die Situation in Südmexiko zu liefern, hat er hervorragend
gelöst. So ein Buch sollte es für alle Regionen geben, in denen die sozialen
und politischen Widersprüche zu Mobilisierungen von unten führen.
Jens Kastner
Luz Kerkeling: Resistencia!
Südmexiko: Umweltzerstörung, Marginalisierung und indigener Widerstand.
Unrast Verlag, Münster 2013,
576 Seiten, 26,80 Euro,
ISBN 978-3-89771-038-2
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