Sonntag, 16. August 2015

Zwerenz starb – uns bleibt der Deserteur (Otto Köhler)

Jenes höhere Wesen, das wir alle verehren sollen, hat anders entschieden. Noch am 3. Juni gratulierte ich in der jungen Welt: »Glückwunsch, Gerhard, zum Neunzigsten. Aber du musst 103 werden, mindestens. Älter als Jünger, der mörderische Kollege, der seine Opfer um das Fünffache überlebt hat und erst 102jährig in die Hölle fuhr. Gerhard, die Deserteure im Himmel können noch eine Weile auf Dich warten. Wir brauchen dich hier, dringend, im Kampf gegen unsere neuen Kriege.« Der Herr ist mit den Mordgesellen, die »Gott mit uns« auf dem Koppel tragen, in dem die Handgranate steckt. Du hast meinen Glückwunsch keine sechs Wochen überlebt – eine rote Urne mit deiner Asche ist bei Sylt untergegangen in der Nordsee. Eine Woche, nachdem du in den Himmel auffuhrst, in dem es keinen Gott, sondern nur Deserteure gibt, sind sie wieder aufmarschiert, die Mörder oder die Fahnenflüchtigen von morgen, leere tumbe Milchgesichter noch, so wie du damals 1943, als du dich – unerwachsen und freiwillig – als Siebzehnjähriger freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hast. Als Gerhard Zwerenz merkte, wozu er gebraucht wird – er sollte beim Warschauer Aufstand das Gebiet »säubern«, in dem – das hat er erst Jahrzehnte später erkannt – Marcel Reich-Ranicki untergetaucht war, da warf er am 18. August 1944 das Gewehr weg und ist von der Fahne gegangen. Heute lassen sie sich mit Stoff auf Stange voran in die Arena des Bendlerblocks führen von einem Offizier, der immer wieder »Gewehr Üü!« plärrt, bis ausgewählte RekrutInnen die Hand einem schwarzrotgelbem Textil auflegen und alle laut schreiend alles geloben, was von ihnen verlangt wird. Das war am 20. Juli im Bendlerblock unter Ausschluss der Öffentlichkeit, da warst du schon eine Woche tot. Aber du wirst sie alle überleben, du, der Deserteur, der die Fahne flüchtete, hinter der die zurzeit noch herlaufen. Gerhard Zwerenz war der einzige Deserteur, der je dem Bundestag angehörte – von 1994 bis 1998, als Gast der PDS. Damals, am Ende der Bonner Republik, als Helmut Kohl noch gelobte, nie würden deutsche Bodentruppen dort eingesetzt, wo einst die Wehrmacht stand. Den Anfang der Berliner Republik, als Gerhard Schröder dort weiterbombardierte, wo Adolf Hitler – 1941 auf Belgrad – angefangen hatte, den machte er nicht mehr als Abgeordneter dieses deutschen Volkes mit. Gerhard Zwerenz hatte genug zu tun mit all den Relikten aus dem letzten Krieg, die sich im Bundestag vor allem in der Stahlhelm-Fraktion der Christenunion versammelten – dem bis zum letzten Atemzug fürs Vaterland kämpfenden Bataillonskommandeur Alfred Dregger an der Spitze. Aber auch mit den Grünen, die sich schon für den nächsten Krieg bereitmachten. Niederschrift: »Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben im Protokoll nachgeprüft. Der Abgeordnete Zwerenz hatte gesagt: Selbstverständlich, Sie würden den Krieg – damit war der nationalsozialistische Angriffskrieg gemeint – heute noch weiterführen. Dafür rufe ich ihn zur Ordnung.« Ihn zur Ordnung rufen, das versuchten sie immer wieder. Aber zu dieser Ordnung ließ er sich nicht rufen, nie. Es ging in dieser Debatte nicht um den »NS-Angriffskrieg«, sondern um diejenigen, die den Krieg bis zur letzten Minute führten und heute noch stolz darauf sind. Zwerenz hatte aus einer nie vom Präsidium gerügten Bundestagsrede zum »Volkstrauertag« zitiert, in der Alfred Dregger den Krieg im Osten »bis zuletzt« rechtfertigte. Und an dieser Stelle gab es dann auch noch den Zwischenruf des rechtspolitischen Sprechers der Union, Norbert Geis: »Das ist ja auch richtig!« Mit diesen Figuren gab es keine Gnade, geschweige denn Recht für die Soldaten, die Hitlers Fahne entlaufen waren. Zwerenz sagte es, bevor er seinen Ordnungsruf von der grünen Vizepräsidentin bekam. Er: »In der Ablehnung der Wehrmachtsdeserteure drückt sich heute noch die deutschnationale Scheu aus, den Zweiten Weltkrieg als Menschheitsverbrechen zu verurteilen, sich davon zu distanzieren.« Das war ja auch nicht möglich – die Bundeswehr wurde von den Verbrechern aufgebaut, die Hitlers Krieg geplant hatten. Aber da ist nicht nur der vorbildliche Deserteur. Da sind die vielen Bücher, die er in diesem Geist geschrieben hat. Und eines ganz besonders, ich kannte es noch nicht. Ingrid Zwerenz hat es mir vor einer Woche geschickt. Seit sechs Jahrzehnten sind sie zusammen, seit den Leipziger Seminaren von Ernst Bloch, verheiratet auch, sie haben manches ihrer Bücher gemeinsam geschrieben. Das Buch, das ich von Ingrid Zwerenz bekam, heißt: »Gute Witwen weinen nicht«. Ich habe da einen anderen Zwerenz kennengelernt. Dieser Band über »Exil. Lieben. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys« ist ein sanftes, empfindsames, zärtliches Buch über die letzten vier Jahre und die letzte Liebe des ausgebürgerten Satirikers, der sich im schwedischen Exil das Leben nahm, auch weil er seine Miete nicht mehr zahlen konnte. Gerhard, am Ende dieser Liebeserklärung an Tucholsky und an alle guten Witwen schreibst du in der dritten Auflage: »Da der Autor es am 3. Juni 2000 auf runde 75 Jahre brachte, beginnt er seine zweiten 75 mit der Wiedervorlage eines Romans, der ihm am Herzen liegt, als wär’s ein Stück von ihm. Seine zweiten 75. An deren Ende schreiben wir das Jahr 2075. Wir, die wir Gerhard Zwerenz kannten, werden dann nicht mehr leben. Und mag die rote Urne in der Nordsee untergegangen sein – der Deserteur Gerhard Zwerenz wird weiterleben, solange es dieses Deutschland noch gibt. Solange es, nach dem Willen des vor kurzem noch für den Krieg nach Außen zuständigen Innenministers, keinen Platz auf dieser Erde geben darf, auf dem der deutsche Soldat nicht stehen kann. 2075. Den Protokollen des dann wohl ehemaligen Deutschen Bundestages werden die Historiker kommender Zeiten entnehmen können, dass da der Deserteur Gerhard Zwerenz unnachgiebigen Widerstand leistete gegen das – wir wollen es nicht hoffen –, was gekommen ist.

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