Montag, 17. August 2015
»Negatives Anreizsystem«
Straffreudige Jobcenter: Neue Statistik der Arbeitsagentur verzeichnet Anstieg der Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher. Mehr Kürzungen auch in Thüringen
Seit Ende 2014 regiert mit Bodo Ramelow ein linker Ministerpräsident im Freistaat Thüringen. Mit ihrer Partei in dieser Verantwortung seien auch die Sanktionen gegen ungehorsame Hartz-IV-Bezieher gesunken, freute sich Anfang August die Thüringer Abgeordnete Ina Leukefeld (Die Linke). Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) war die Sanktionsquote von 3,3 Prozent in 2013 auf 3,2 Prozent im Jahr darauf gesunken. Im März 2015 waren demnach 2,9 Prozent der Leistungsbezieher von einer Kürzung der Grundsicherung betroffen. Doch der Jubel kam zu früh: Im April kletterte dieser Wert im Freistaat nach neuesten Zahlen wieder auf 3,1 Prozent. Damit lag Thüringen an vierter Stelle hinter Berlin (4,1 Prozent), Sachsen (3,5) und Rheinland-Pfalz (3,2) und noch über dem Bundesdurchschnitt von 3,0 Prozent.
So stieg in Thüringen mit insgesamt 126.873 Hartz-IV-Beziehern die Zahl der neu verhängten Sanktionen von 2.992 im März um 199 auf 3.191 im April. Im Mittel wurden die Bezüge um 118,60 Euro gekürzt. 2.509 Strafen (78,8 Prozent) verhängten Jobcenter wegen »Meldeversäumnissen«. Weitere Zwangskürzungen trafen »Kunden« derBehörde, weil sie gegen Auflagen verstoßen oder verordnete Jobs oder Maßnahmen abgelehnt beziehungsweise abgebrochen hatten. Insgesamt hatten im Freistaat Thüringen im April 3.909 Betroffene mit mindestens einer Sanktion zu kämpfen, 248 mehr als im Vormonat.
Auch bundesweit zeigten sich die Jobcenter straffreudiger als im März. Die Zahl neu verhängter Kürzungen stieg im April um 5.034 auf 88.510. Durchschnittlich wurden die Bezüge um 109 Euro reduziert. Bei 76 Prozent der Fälle war ein verpasster Termin der Grund. 10,5 Prozent der Bestraften hatten gegen Auflagen verstoßen, 7,8 Prozent die Aufnahme einer Arbeit oder Maßnahme verweigert, 2,2 Prozent »Anlass zu deren Abbruch gegeben«. Insgesamt litten im April 131.303 »Bedürftige« unter diversen Kürzungen. Diese Zahl, in Relation gesetzt zu derzeit rund 4,43 Millionen Hartz-IV-Beziehern, ergibt die Sanktionsquote. Betroffen waren 75.544 Erwerbslose sowie 55.759 »Aufstocker«. Letztere tauchen in der Statistik nicht als »arbeitslos« auf, verdienen aber so wenig, dass sie ergänzende Sozialleistungen benötigen. Die Zahl der im zuletzt erfassten Jahreszeitraum Mai 2014 bis April 2015 neu festgestellten Sanktionen überstieg mit 1.013.378 erneut die Millionengrenze. Die Strafen wurden gegen 423.921 Betroffene ausgesprochen. So mussten übers Jahr rund zehn Prozent aller Hartz-IV-Bezieher eine oder mehrere Sanktionen verkraften.
Die Statistik zeigt ferner: 15- bis 25jährige werden weiterhin am häufigsten bestraft. 759.237 Menschen dieser Altersgruppe bezogen im April Hartz IV, 4,1 Prozent davon (30.781) waren sanktioniert. 138.317 Personen, also gut 18 Prozent der jungen Hartz-IV-Berechtigten, waren tatsächlich ohne Arbeit oder Ausbildung. Unter letzteren lag die Sanktionsquote bundesweit sogar bei 9,9 Prozent. »Spitzenreiter« im Bestrafen Jugendlicher war Sachsen mit 13 Prozent. Gleich darauf folgen Thüringen (12,1), Sachsen-Anhalt (11,8), Mecklenburg-Vorpommern (11,9) und Berlin (10,8).
Für Junge gelten härtere Regeln als für Ältere: Beim ersten »Vergehen« kann ihnen bereits der gesamte Regelsatz für drei Monate gestrichen werden, beim zweiten droht auch der Wegfall der Miete und Krankenkassenbeiträge. Ersatzweise können Jobcenter Gutscheine für Lebensmittel ausgeben. Mittel zur soziokulturellen Teilhabe oder Hygieneartikel gibt es dafür nicht, sondern nur Nahrung »ohne Alkohol- und Tabakwaren«. Supermärkte sind nicht verpflichtet, die Scheine zu akzeptieren. Laut Bundesagentur waren im März 6.426 Hartz-IV-Bezieher derart drastischen Strafen unterworfen.
Die Bundesregierung will die Strafpraxis nicht aufgeben, wie sie in diesem Jahr mehrfach gegenüber jW betonte. Der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums bejubelte bereits 2008 in einem Gutachten das »negative Anreizsystem«, das dazu diene, »mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor zu erreichen«. Weiter heißt es darin: »Bei hinreichend scharfen Sanktionen auf eine Arbeitsverweigerung bedarf es keiner weiteren finanziellen Anreize zur Arbeitsaufnahme«, letztere könnten »aus Kostengründen unterbleiben«.
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