Donnerstag, 20. August 2015
DIE VIELEN SCHALEN DER ZWIEBEL GORBATSCHOW
Von Kurt Gossweiler (Februar 1993) (1)
I. Die äußere Schale:
Auf dem Wege der Machterschleichung
1. Aus der Rede M. G.s auf dem Trauermeeting anläßlich des Todes seines Vorgängers K. U. Tschernenko (ND v. 14. 3. 85):
„Unter seiner (Tschernenkos) Leitung wurden vom Zentralkomitee und vom Politbüro des ZK wichtige Beschlüsse zu Grundproblemen der ökonomischen und sozialpolitischen Entwicklung des Landes sowie zur kommunistischen Erziehung der Massen gefaßt und verwirklicht. Konstantin Ustinowitsch tat viel für die Verwirklichung des Leninschen Kurses unserer Partei – des Kurses zur Festigung der Stärke unserer Heimat sowie zur Erhaltung und Festigung des Weltfriedens. Heute erklären die Kommunistische Partei, ihr Zentralkomitee und das Politbüro des ZK vor dem sow-jetischen Volk nachdrücklich ihre unerschütterliche Entschlossenheit, der großen Sache des Sozi-alismus und Kommunismus, der Sache des Friedens, des sozialen Fortschritts und des Glücks der Werktätigen treu zu dienen.”
2. Aus einem Interview, das M. G. am 4. Februar 1986 der KPF-Zeitung „l’Humanité” gab:
„Frage: In verschiedenen Kreisen des Westens wird häufig die Frage gestellt: Sind in der Sow-jetunion die Überbleibsel des Stalinismus überwunden? Antwort: Stalinismus ist ein Begriff, den sich die Gegner des Kommunismus ausgedacht haben und der umfassend dafür genutzt wird, die Sowjetunion und den Sozialismus insgesamt zu verunglimpfen. 30 Jahre sind vergangen, da auf dem XX. Parteitag die Frage der Überwindung des Personenkults um Stalin gestellt und ein Beschluß des ZK der KPdSU dazu gefaßt worden ist. Sagen wir es offen, dies waren keine leichten Beschlüsse für unsere Partei. Dies war eine Prüfung für die parteiliche Prinzipienfestigkeit, für die Treue zum Leninismus. Ich meine, wir haben sie würdig bestanden und aus der Vergangenheit die notwendigen Schlußfolgerungen gezogen.”
Kommentar: Diese Antwort ist bereits gekennzeichnet von der Undeutlichkeit und doppelten Auslegbarkeit, die auch die künftigen Äußerungen G.s für lange Jahre auszeichnen sollten: Worin bestand die parteiliche Prinzipienfestigkeit? Darin, daß diese Beschlüsse gefaßt wurden, oder darin, daß dem Druck nach „Zuendeführung der Abrechnung mit Stalin” nicht nachgegeben wurde?
Im gleichen Interview ein weiteres Beispiel für die bewußte, auf Irreführung berechnete Doppel-deutigkeit seiner Orakel:
„Im Atomzeitalter kann man nicht – zumindest nicht lange – mit der Psychologie, den Gewohnheiten und Verhaltensweisen der Steinzeit leben.”
Jeder Kommunist, der das las, freute sich: „Jetzt hat er es den Imperialisten aber gegeben!” Sehr bald aber mußten sie feststellen – wenn sie genau hinhörten und hinsahen – daß er die gar nicht gemeint hat, sondern die eigenen Leute, die am „alten”, nämlich marxistischen, Leninschen Denken festhielten.
Das Gleiche mit der zündenden Parole von der Notwendigkeit „Neuen Denkens”: Natürlich sahen wir das an als eine Aufforderung an die imperialistische Seite vor allem: Unsere Seite hatte doch vom Anbeginn des eigenen Atomwaffenbesitzes an das Verbot, die Ächtung aller Atomwaffen verlangt; wir haben der anderen Seite doch unentwegt unseren Wunsch nach friedlicher Koexis-tenz, nach friedlichem Austrag unserer Differenzen angeboten, sie waren es doch, die stets und ständig das eine wie das andere abgelehnt hatten. Von ihnen mußte „Neues Denken” gefordert werden, sollte die notwendige Systemauseinandersetzung nicht zum Kriege führen.
Aber es sollte nicht lange dauern, und es wurde deutlich, daß G. gar nicht die Imperialisten, sondern uns gemeint hatte: Steinzeitdenken – das war unser Festhalten an der Grunderkenntnis des Marxismus-Leninismus, daß der Krieg vom Imperialismus ausgeht, und daß der Frieden umso sicherer ist, je stärker der Sozialismus ist. Er brachte die Mehrheit unserer Leute dazu, diese Grunderkenntnis als „altes Denken” anzusehen und ihre „Überwindung” und Ersetzung durch sein „Neues Denken” als notwendig und unabweisbar anzunehmen. Sein „Neues Denken” und die ihm entsprechende Politik bestand in der selbstmörderischen Logik, daß der Friede umso sicherer sei, je weiter wir vor dem Imperialismus zurückwichen.
Diese Logik stellte wahrhaftig alle Tatsachen auf den Kopf: Nicht der Imperialismus bedrohte die sozialistischen Länder, sondern umgekehrt, die Militärmacht des Warschauer Paktes bedrohte angeblich den Westen! Kein anderer als Marschall Achromejew brachte das zum Ausdruck! (ND v. 13./14. 4. 1991: Achromejew, „Berater von Präsident Gorbatschow”, sprach sich „für die Auf-lösung der Militärstruktur der NATO aus”. Begründung: „Die sowjetischen Streitkräfte würden keine Gefahr für Europa mehr darstellen und der Warschauer Pakt sei aufgelöst.”)
Aber 1986 – da blieb es noch bei der Doppeldeutigkeit, die so formuliert wurde, daß wir sie als marxistisch-leninistische Eindeutigkeit aufnahmen – denn wir wünschten doch, daß Gorbatschow endlich der Mann sei, der den Sozialismus aus der Sackgasse auf neue Höhen führt, und genau das versprach er doch unentwegt.
3. Der 27. Parteitag, Februar 1986. (ND v. 26. 2. 1986):
Kennzeichnend für den 27. Parteitag ist rückblickend, daß er – wie wir heute wissen – die Wiederaufnahme der Zielsetzungen des 20. und des 22. Parteitages der KPdSU begann, daß dies aber nur durch eine Äußerlichkeit zu vermuten war, in seinem Verlauf aber dafür nur kaum erkennbare Zeichen festgestellt werden konnten.
Die Äußerlichkeit: Auf den Tag genau dreißig Jahre nach dem 20. Parteitag wurde dieser erste Parteitag unter dem Generalsekretär Gorbatschow eröffnet, am 25. Februar 1986. Solche Äußer-lichkeiten sind aber keine Zufälligkeiten, sondern haben „programmatische” Bedeutung.
Aber dieses Datum blieb der einzige Hinweis auf eine etwa beabsichtigte Kontinuitätsherstellung zwischen diesen beiden Parteitagen. Leute, die eine direkte Anknüpfung an den 20. Parteitag erwartet und gewünscht hatten, wurden enttäuscht. Man darf vermuten, daß Gorbatschow eine solche Anknüpfung beabsichtigt hatte, aber dazu vom damaligen Politbüro kein Placet erhielt. Noch war seine Position schwach, noch beherrschte er nicht das ZK, erst recht nicht den Parteitag. Noch wäre es für jene aus der Führung, die den Ausschlag für seine Wahl gegeben hatten – wie etwa Gromyko – ein Leichtes gewesen, eine Mehrheit gegen ihn zustande zu bringen. Dieser Parteitag mußte ihm erst zu einer eigenständigen Machtposition verhelfen, die ihm erlauben würde, eine neue Führung zu bilden die aus seinen Leuten bestand. Damit waren die Plenen nach dem Parteitag sowie die 19. Parteikonferenz beschäftigt, und die nachfolgenden Änderungen in der Parteiführung machten seine Position so unangreifbar, daß er immer deutlicher aussprechen konnte, wohin sein Kurs zielte.
Aber auf dem 27. Parteitag war es noch nicht so weit. Er war noch sehr bemüht, an seiner Treue zum Leninismus keinen Zweifel aufkommen zu lassen, und beschränkte sich nur auf Andeutungen beabsichtigter Kursänderungen. Dafür nur ein Beispiel aus seinem Referat:
„Marx verglich den Fortschritt in der Ausbeutergesellschaft mit jenem scheußlichen heidnischen Götzen, … der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte … Die historische Weitsicht, Treffsicherheit und Tiefgründigkeit von Marx’ Analyse sind erstaunlich. In Bezug auf die bürgerliche Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts ist sie wohl noch aktueller als im 19. Jahrhundert!” (!!! Sehr bald wird er uns aber belehren, daß das 19. Jahrhundert und damit Marx uns nichts mehr lehren können, weil seine Lehren antiquiert seien!) „Einerseits eröffnet die stürmische Entwicklung der Wissenschaft und Technik nie dagewesene Möglichkeiten, die Naturkräfte zu beherrschen und die Lebensbedingungen der Menschheit zu verbessern. Andererseits aber ist das ‚aufgeklärte‘ 20. Jahrhundert in die Geschichte mit solchen Ausgeburten des Imperialismus eingegangen wie blutigsten Kriegen, hemmungslosem Militarismus und Faschismus, Völkermord, Verelendung von Millionen. Ignoranz und Obskurantismus existieren in der Welt des Kapitals zusammen mit großen Errungenschaften der Wissenschaft und Kultur.”
Auf den ersten Blick könnte man meinen: eine marxistische Analyse! Bei genauem Hinsehen wird man feststellen, daß von Analyse keine Rede sein kann: es werden nicht innere Zusammenhänge bloßgelegt, sondern einfach ein Nebeneinander von Gut und Schlecht registriert. Und das erlaubt ihm dann, statt der Schlußfolgerung des Kampfes gegen den Imperialismus eine scheinbare Ba-nalität auszusprechen, in der aber die Abkehr von Marx und Lenin und der Verzicht auf Kampf um Frieden durch Mobilisierung der Völker gegen den Imperialismus versteckt sind:
„Und eben das ist jene Gesellschaft, neben der wir zu leben haben und mit der wir Zusammenarbeit und gegenseitige Verständigung anstreben müssen.” Warum müssen wir das? „Das hat die Geschichte so gewollt.”
Das kommt bei ihm immer wieder: Er beruft sich nicht auf den lieben Gott – noch nicht, das kommt aber noch! – aber er gibt seine Entscheidungen immer als Schicksalsentscheidungen aus – die entweder „die Geschichte” oder „das Leben” verlangten.
Also – alles, was später kommt, ist hier in nuce schon angedeutet.
II. Die erste Schale fällt:
Die Macht ist gefestigter, die Vorstöße zur Liberalisierung werden deutlicher
Rede G.s auf der Festsitzung zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution (ND v. 3. 11. 1987):
Die Rede besteht eigentlich aus zwei ganz gegensätzlichen Einschätzungen der Geschichte der Sowjetunion. Der erste Teil ist eine Würdigung vom Standpunkt eines Kommunisten: Dieser Teil ist ihm vom Politbüro aufgetragen. Darin befinden sich Aussagen, die er durch das, was er im zweiten Teil ausführt, der sich vor allem mit der Stalinzeit befaßt, wieder aufhebt. Damit folgt diese Rede der Anlage des 20. Parteitages, dessen offizieller und öffentlicher Teil der gesamten Sowjetgeschichte im Großen und Ganzen Gerechtigkeit widerfahren ließ und eine relativ moderate Kritik an Stalin übte, während der zweite, hinter verschlossenen Türen und nur für einen ausge-wählten Kreis von Parteitagsteilnehmern durchgeführte Teil mit Chruschtschows Geheimrede (die bis vor kurzem nur als westliche Publikation vorlag, die weder von Chruschtschow noch von der KPdSU als echt bestätigt wurde) eine mit Erfindungen und haltlosen Vermutungen gespickte Entstellung der Geschichte der KPdSU unter Stalins Führung darbot.
Aus dem ersten Teil der Gorbatschow-Rede seien einige bemerkenswerte Passagen zitiert – bemerkenswert vor allem im Hinblick auf spätere Gorbatschow-Ausführungen, die ihnen kraß wi-dersprechen.
„Das Jahr 1917 zeigte, daß die Wahl zwischen Sozialismus und Kapitalismus die wesentlichste gesellschaftliche Alternative unserer Epoche ist, daß man im 20. Jahrhundert nicht vorankommt, wenn man nicht zu einer höheren Form der gesellschaftlichen Organisation – zum Sozialismus – schreitet. Diese grundlegende Leninsche Schlußfolgerung ist heute nicht weniger aktuell als damals … Das ist die Gesetzmäßigkeit der vorwärtsgerichteten gesellschaftlichen Entwicklung.”
„Die Geschichte stellte der neuen Gesellschaftsordnung ein hartes Ultimatum: entweder in kürzester Frist ihre sozialökonomische und technische Basis zu schaffen, zu überleben und somit der Menschheit erste Erfahrungen einer gerechten Organisation der Gesellschaft zu vermitteln oder unterzugehen … Die Periode nach Lenin … nahm in der Geschichte des Sowjetstaates einen besonderen Platz ein. In nur anderthalb Jahrzehnten wurden grundlegende gesellschaftliche Veränderungen vollzogen.”
„Der Trotzkismus … stellte dem Wesen nach eine Attacke gegen den Leninismus an der gesamten Front dar. Es ging praktisch um das Schicksal des Sozialismus in unserem Lande, um das Schicksal unserer Revolution. Unter diesen Bedingungen mußte dem Trotzkismus vor dem ganzen Volke der Nimbus genommen, mußte sein antisozialistisches Wesen entlarvt werden. Die Situation gestaltete sich noch komplizierter dadurch, daß die Trotzkisten in einem Block mit der neuen Opposition unter der Führung G. J. Sinowjews und L. B. Kamenews agierten.”
„Somit behauptete der führende Kern der Partei unter Leitung J. W. Stalins den Leninismus im ideologischen Kampf, formulierte Strategie und Taktik der Anfangsetappe des sozialistischen Aufbaus, und ihr politischer Kurs fand die Billigung der meisten Parteimitglieder und Werktätigen.”
Nach einer solchen Würdigung folgten dann die Passagen, in denen massiver als bisher die allseits bekannten Vorwürfe gegen Stalin erhoben werden. Eigentlich beginnt damit die Kampagne, die dann von allen Medien, besonders aber von „Moskowski Nowosti”, unter dem Schlagwort der Aufarbeitung der „weißen Flecken” die totale Schwärzung der Sowjetgeschichte, zunächst nur der Jahre unter Stalin, dann aber auch der gesamten Sowjetperiode, betrieben und damit die Konter-revolution vorbereiteten.
Aber noch wichtiger sind jene Passagen in G.s Rede, die man rückschauend als Wegweiser in die Richtung der späteren Politik der hartnäckig vorangetriebenen Demontage der sozialistischen Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft erkennen kann, die man aber auch bereits damals als in die falsche Richtung weisend erkennen konnte, so man „Gorbi” gegenüber nicht jeden kritischen Blick für überflüssig, wenn nicht gar für blasphemisch hielt.
Solche Wegweiser waren:
Erstens: die einseitige, Lenin verfälschende und zu einem „Dutzend- Liberalen” degradierende Auswahl von Lenin-Zitaten. Damit sollten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: die ständige Berufung auf Lenin sollte Gorbatschow als zuverlässigen Leninisten ausweisen; die von ihm angeführten Zitatfetzen hingegen sollten seine antileninistische Politik durch die Autorität Lenins gegen Angriffe abdecken. Buchstäblich jedes angeführte Lenin-Zitat, mit dem Gorbat-schow seine „Reform-Politik” begründet, erweist sich bei Überprüfung als gröblichst mißbraucht: Liest man nach, besagt die entsprechende Passage, aus der das Zitat herausseziert wurde, das Gegenteil dessen, was Gorbatschow mit ihm sanktionieren will; bei Lenin ist der Kern der Aussage immer die Begründung der Notwendigkeit des unversöhnlichen Klassenkampfes; Gorbatschow mißbraucht seine Zitatfetzen immer als Beleg für die Übereinstimmung seiner Absage an den Klassenkampf mit Leninschem Denken.
Zweitens: die bevorzugte Hinwendung zu den letzten Schriften Lenins aus dem Jahr 1922/1923. Dies nicht nur wegen des sogenannten „Testaments” (das im übrigen immer nur unvollständig zitiert und absolut einseitig ausgelegt wird), sondern um Lenins Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit der Sowjetorgane als Weisungen auszudeuten, die jetzt durch die Gorbatschow-Reformen, durch die „Perestroika”, ihre Verwirklichung fänden. Dabei scheuen die Gorbatschow-Journalisten und -Propagandisten auch nicht davor zurück, in diese Leninschen Schriften hineinzudeuten, daß Lenin sich schon mit Zweifeln geplagt habe, ob „das sozialistische Experiment” in Rußland zu Ende geführt werden könne.
Drittens: die besondere Vorliebe Gorbatschows und seiner Schreiber- Garde für die NÖP-Periode. Sie wird entgegen der eindeutigen Aussage Lenins nicht als zeitweiliger Rückzug, sondern als die Methode des sozialistischen Aufbaus dargestellt, die von Stalin fälschlicherweise abgewürgt wurde, zu der man aber jetzt zurückkehren müsse, um das Land aus der Stagnation herauszuführen. Die besondere Begeisterung der Gorbatschow-Leute ruft die NÖP wegen der Zulassung ver-schiedener Eigentumsformen hervor; sie ist damit geeignet, die Propagierung der Zulassung von privatem Eigentum an Produktionsmitteln neben dem sozialistischen Eigentum als Rückkehr zu Leninscher Politik zu deklarieren. Diese Wegweisung wird im Referat zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution schon sehr deutlich.
„Die Führung der Partei demonstrierte (in der Zeit vom Februar bis Oktober 1917) ihre Fähigkeit zum kollektiven schöpferischen Suchen, zum Verzicht auf Stereotypen und auf Losungen, die noch gestern, in einer anderen Situation, unanfechtbar und die einzig möglichen zu sein schienen.” (Schien, sagt er, nicht: waren!) „Man kann sagen, daß die Leninsche Denkweise … ein außeror-dentlich markantes Beispiel von antidogmatischem, wirklich dialektischem und folglich neuem Denken war. So und nur so denken und handeln echte Marxisten-Leninisten, insbesondere in Zeiten des Umbruchs, in kritischen Zeiten, in denen die Geschicke der Revolution und des Friedens, des Sozialismus und des Fortschritts entschieden werden.”
„Von der zutiefst revolutionären Dialektik war auch der Beschluß über die Neue Ökonomische Politik durchdrungen, die die Horizonte der Vorstellungen über den Sozialismus und über die Wege zu seiner Errichtung wesentlich erweitert hat.”
„Wir wenden uns jetzt immer öfter den letzten Arbeiten Lenins, den neuen Leninschen Ideen der Neuen Ökonomischen Politik zu und versuchen, diesen Erfahrungen alles für uns heute Wertvolle und Notwendige zu entnehmen. Natürlich wäre es falsch, ein Gleichheitszeichen zwischen der NÖP und dem zu setzen, was wir derzeit … tun … Doch die NÖP hatte auch ein noch weiter gestecktes Ziel. Es stand die Aufgabe …, ‚mit Hilfe des aus der großen Revolution geborenen Enthusiasmus, der persönlichen Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung …‘, die neue Gesellschaft aufzubauen.”
Wie später deutlich werden wird, hat Gorbatschow dieses Zitat nicht wegen des darin angespro-chenen „revolutionären Enthusiasmus”, auch nicht wegen der „wirtschaftlichen Rechnungsfüh-rung”, sondern wegen der Erwähnung der „persönlichen Interessiertheit” vorgeführt.
Das Fehlen dieser persönlichen Interessiertheit bei den Produzenten in den staatlichen und ge-nossenschaftlichen Betrieben wird von Gorbatschow registriert und als Argument benutzt nicht für Überlegungen, wie diese Interessiertheit im Rahmen der sozialistischen Betriebe wiederhergestellt werden könnte, sondern für den Vorschlag, zu einer „Konkurrenz der Eigentumsformen” über-zugehen, zu „sozialistischer Marktwirtschaft”; gemeint war und realisiert wurde die Wiederbele-bung von Privateigentümerinstinkten.
Doch das erfolgte erst nach weiterer Häutung der Zwiebel. Hier, auf der Festsitzung zum 70. Jahrestag, wurden nur die ersten Töne des künftigen Leitmotivs angeschlagen, aber das Motiv selbst noch nicht entfaltet. Aber diese ersten Töne waren da, wenngleich die Mehrheit der Zuhörer und Leser dieser Rede ihnen keine Beachtung geschenkt haben dürften.
Auf dem Gebiet der Außenpolitik erfolgte bereits eine weitere Entfaltung des Leitmotivs, das die Umwandlung der Leninschen Politik der friedlichen Koexistenz aus einer Politik des Kampfes gegen den Imperialismus mit friedlichen Mitteln in eine antileninistische Politik der Kungelei mit dem Imperialismus als angeblichem Weg zur Abwendung der Atomkriegsgefahr zum Inhalt hat und dessen erster Akkord, angeschlagen auf dem 27. Parteitag der KPdSU, bereits zitiert wurde. Aber noch wurde der prinzipielle Positionswechsel, die Absage an den Klassenkampfinhalt der Politik der friedlichen Koexistenz, getarnt, geleugnet:
„Die Leninsche Konzeption der friedlichen Koexistenz hat natürlich Veränderungen erfahren … Als Fortsetzung der Klassenpolitik des siegreichen Proletariats jedoch wurde die friedliche Koexistenz im weiteren, insbesondere im nuklearen Zeitalter, zur Voraussetzung für das Überleben der ganzen Menschheit.”
„Der 27. Parteitag entwickelte umfassend eine neue außenpolitische Konzeption. Ihr Ausgangspunkt ist bekanntlich folgender Gedanke: ungeachtet der tiefen Widersprüchlichkeit der Welt von heute und der grundlegenden Unterschiede der sie repräsentierenden Staaten, ist die Welt wechselseitig miteinander verbunden, voneinander abhängig und bildet ein bestimmtes Ganzes.”
Mit einer marxistischen Beschreibung des damaligen Weltzustandes hat diese Aussage nichts zu tun, da geflissentlich Inhalt und Charakter der „tiefen Widersprüchlichkeit” und der „grundle-genden Unterschiede” undefiniert bleiben.
Immerhin – die KPdSU ist zu diesem Zeitpunkt doch noch mehr vom Leninschen als vom „Neuen Denken” Gorbatschows erfüllt, darum kommt er nicht umhin, sich mit einigen Elemen-tar-Erkenntnissen von Marx und Lenin auseinanderzusetzen.
„Wir arbeiten jetzt, an der neuen Wende der Weltgeschichte, die Perspektiven des Vorwärts-schreitens zu einem stabilen Frieden theoretisch aus. Mit Hilfe des neuen Denkens haben wir die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines umfassenden Systems der internationalen Sicherheit unter den Bedingungen der Abrüstung grundsätzlich begründet. Jetzt muß bewiesen werden, daß es notwendig und real ist, auf dieses Ziel zuzugehen und es zu erreichen.”
Um diesen „Beweis” zu führen, ist es notwendig, die Elementarsätze des Leninismus als nicht mehr gültig „nachzuweisen”, also erstens die Frage nach dem Wesen des Imperialismus, in dem, „wie bekannt, die größte Kriegsgefahr wurzelt”, auf „neue Art” zu beantworten.
Das Gleiche für die beiden weiteren Fragen:
„Ist der Kapitalismus in der Lage, sich vom Militarismus frei zu machen, kann er ohne ihn ökonomisch funktionieren?”
„Kann das kapitalistische System ohne Neokolonialismus auskommen?”
„Mit anderen Worten, es geht darum, ob der Kapitalismus imstande ist, sich den Bedingungen einer kernwaffenfreien und abgerüsteten Welt, den Bedingungen einer neuen, gerechten Wirtschaftsordnung, den Bedingungen ehrlichen Wettstreits der geistigen Werte zweier Welten anzupassen.”
Wer diese Fragen so stellt, der tut das, weil er sie für sich schon mit einem eindeutigen „Ja” beantwortet hat. Ohne Wenn und Aber kann Gorbatschow das zu diesem Zeitpunkt dem Parteitag der KPdSU jedoch noch nicht zumuten, daher erst einmal:
„Die Antworten wird das Leben geben.”
Aber dann gibt er gleich zu, daß seine Politik auf der Grundlage einer positiven Beantwortung obiger Fragen aufgebaut ist:
„Worauf rechnen wir also, wissend, daß man eine sichere Welt zusammen mit den kapitalistischen Ländern aufbauen muß?”
Also, da ist es heraus: man kann die sichere Welt nicht gegen den Imperialismus erkämpfen, man muß sie „zusammen mit ihm aufbauen”! Am Ende einer willkürlichen Interpretation ebenso will-kürlich ausgewählter Beispiele kommt Gorbatschow zu dem gewünschten Ergebnis, daß sich die imperialistischen Widersprüche „modifizieren lassen”.
„Die Situation sieht nicht unlösbar aus … wir stehen vor einer historischen Wahl, die diktiert wird durch die Gesetzmäßigkeiten einer in vieler Hinsicht miteinander verbundenen und einheitlichen Welt.”
Die Welt – „gesetzmäßig einheitlich”, der Kapitalismus bei Strafe des Unterganges zur friedlichen Koexistenz mit dem Sozialismus gezwungen:
„Entweder Zusammenbruch oder gemeinsame Suche nach einer neuen Wirtschaftsordnung, in der die Interessen sowohl der einen als auch der anderen wie auch die Dritter auf gleichberechtigter Basis berücksichtigt werden. Der Weg zur Errichtung einer solchen Ordnung scheint sich jetzt abzuzeichnen” –
das ist die „freudige Botschaft”, die der „Neudenker” Gorbatschow der von Atomkriegsängsten geschüttelten Menschheit verkündet. „Neues Denken”? Uralte, sozialdemokratisch-pazifistische Seichbeutelei, die nur zu einem gut ist: Die Menschen zur politischen Passivität zu veranlassen in dem Glauben, „die da oben” würden’s schon richten!
Um ganz zu begreifen, welches Verführungsstück auf dieser Festsitzung von Gorbatschow gespielt wurde, muß man erstens die fixe Wende von der Predigt der Systemzusammenarbeit zu den ver-trauten und Vertrauen einflößenden klassenkämpferischen Tönen, mit denen er seine Rede ab-schließt, richtig einzuschätzen wissen, und dies wird man erst richtig und dann wohl ohne Schwierigkeit können, wenn man diese Treueerklärung zum Klassenkampf mit den im Weiteren dokumentierten Auslassungen unseres „Friedensretters” konfrontiert.
„Die KPdSU zweifelt nicht an der Zukunft der kommunistischen Bewegung – des Trägers der Alternative zum Kapitalismus, der Bewegung der mutigsten und konsequentesten Kämpfer für den Frieden, für Unabhängigkeit und Fortschritt ihrer Länder, für die Freundschaft zwischen allen Völkern der Erde … Die Festigung der Freundschaft und die allseitige Entwicklung der Zusam-menarbeit mit den sozialistischen Ländern hat in der internationalen Politik der Sowjetunion Vorrang! …
Wie wird die Welt sein, wenn sie den 100. Jahrestag unserer Revolution begeht, wie wird der Sozialismus sein, welchen Reifegrad wird die Weltgemeinschaft (!) der Staaten und Völker erreicht haben? …
Im Oktober 1917 haben wir die alte Welt unwiderruflich hinter uns gelassen. Wir gehen einer neuen Welt entgegen, der Welt des Kommunismus. Von diesem Weg werden wir niemals abweichen!”
III. Die dritte Schale:
Offener Bruch mit dem Leninismus in der Außenpolitik – „zur Rettung des Friedens” natürlich! (ND v. 8. 12. 88)
Im Oktober 1988 übernahm Gorbatschow auch das Amt des Staatspräsidenten; er löste Gromyko als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets ab. Am 7. Dezember 1988 sprach er vor der UNO-Vollversammlung in New York und bekräftigte dort den Bruch mit der Leninschen Kon-zeption der friedlichen Koexistenz, den sein Außenminister Schewardnadse einige Wochen vorher dem gleichen Forum, der 43. Tagung der UNO-Vollversammlung, mit folgenden Worten verkündet hatte:
„Die Führung der Sowjetunion (hat) sich bemüht, die im Marxismus von Anfang an verankerte Idee der Wechselbeziehung zwischen dem Klassenmäßigen(!) und dem Allgemeinmenschlichen mit Sinn zu erfüllen, wobei den gemeinsamen Interessen aller Völker Priorität eingeräumt wird.
Wir sehen die friedliche Koexistenz als universelles Prinzip zwischenstaatlicher Beziehungen und nicht als besondere Form des Klassenkampfes.”
Gorbatschows Rede variiert diese Feststellung und umgibt sie mit einem Kranz von Begründungen, die alle auf der Prämisse beruhen, die Sowjetunion und die Kommunisten hätten es nunmehr mit einem geläuterten, vom menschenfressenden Untier zum lammfrommen Vegetarier konvertierten Imperialismus zu tun, der schon dabei ist, seine Absicht, den Sozialismus vom Erdball auszutilgen, zu begraben. Dabei zollt er besonders hohes Lob den Führern des stärksten und bedenkenlosesten Imperialismus, nämlich denen der USA. Wir können dort also Dinge lesen, von denen heute sicher viele sich fragen werden: wie konnte ich – als gelernter Marxist – nur in solchen Sprüchen eine ernstzunehmende Analyse der Situation sehen!
„Die Weltwirtschaft wird zu einem einheitlichen Organismus, außerhalb dessen sich heute kein einziger Staat normal entwickeln kann …”
Die Wirklichkeit müßte allerdings so beschrieben werden: „Die Weltwirtschaft ist dabei, zu einem einheitlichen Organismus gepreßt zu werden, innerhalb dessen sich kein einziger Staat mehr normal entwickeln kann.”
Doch weiter Gorbatschow:
„Es wäre naiv zu glauben, daß die Probleme, die die Menschheit heute quälen, mit Mitteln und Methoden gelöst werden können, die früher angewendet oder als tauglich betrachtet wurden. … Diese (bisher von der Menschheit gemachten, d.V.) Erfahrungen stammen aus Praxis und Antlitz einer Welt, die bereits Vergangenheit sind oder werden.”
Glaube keiner, daß damit vor allem die Praktiken des Imperialismus gemeint sind! Nein, gemeint ist vor allem die Erfahrung mit der Revolution als Weg zur Lösung sozialer Probleme!
„Heute aber ersteht vor uns eine andere Welt, für die andere Wege in die Zukunft gesucht werden müssen. …
Wir sind jetzt in eine Epoche eingetreten, in der dem Fortschritt die universellen Interessen der gesamten Menschheit zugrunde liegen werden. Diese Erkenntnis macht es erforderlich, daß auch die Weltpolitik von der Priorität der allgemeinmenschlichen Werte bestimmt wird.”
Der Marxismus geht davon aus, daß die Arbeiterbewegung die allgemeinmenschlichen Interessen vertritt, weil sich die Arbeiter von Ausbeutung nur befreien können, indem sie die Menschheit von Ausbeutung befreien. Gorbatschow aber predigt uns die Interessengemeinsamkeit von Arbeiter, Ausgebeuteten der Dritten Welt und imperialistischen Ausbeutern.
„Es geht um die Zusammenarbeit, die man exakter als ‚gemeinsame Entwicklung‘ bezeichnen sollte.”
„Es ist zum Beispiel offensichtlich, daß Gewalt und Androhung von Gewalt keine Instrumente der Außenpolitik mehr sein können und dürfen … Von allen, vor allem von den Stärksten, wird eine Selbstbeschränkung und völlige Ausschließung der Gewaltanwendung von außen verlangt.”
Manche Leute haben sich darüber gewundert, daß Gorbatschow trotz solch wortgewaltiger Ver-dammung der Gewaltanwendung dennoch seine Truppen in Litauen intervenieren ließ und dem Golfkrieg der Amerikaner den Weg frei machte, indem er seinen UNO-Vertreter anwies, vom Vetorecht der Sowjetunion keinen Gebrauch zu machen. Diese Leute habe noch nicht gelernt, den verborgenen Sinn Gorbatschowscher Orakelsprüche zu erkennen: Mit der Betonung der „völligen Ausschließung der Gewalt von außen” hat er nur noch einmal deutlich gemacht, daß die Sowjet-union unter seiner Führung keinen Finger rühren und keinen Sowjetsoldaten in Marsch setzen wird, wenn noch einmal in einem sozialistischen Lande ein konterrevolutionärer Putsch unternommen würde. Wenn die Forderung „global” an alle gerichtet gewesen wäre, dann hätte die Sowjetunion doch wohl ihr Veto gegen den Golfkrieg einlegen müssen, oder?
„Eine Forderung der neuen Etappe ist die Entideologisierung der Beziehungen zwischen den Staaten.”
Er hat diese „Entideologisierung” konsequent betrieben: Kein böses Wort mehr gegen „Imperia-listen”, nur noch Vertrauenswerbung für sie, etwa wie folgt:
„Unserer Meinung nach gibt es recht optimistische Perspektiven für die nächste und die weitere Zukunft. Schauen Sie, wie sich unsere Beziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika verändert haben. Nach und nach bildet sich gegenseitiges Verständnis heraus, entstanden Elemente des Vertrauens, ohne die man in der Politik nur schwer vorankommen kann.”
Also, da müssen wir doch mal fragen, wer in der Politik vorangekommen ist: die „vertrauensvolle” Sowjetunion – oder die keineswegs vertrauensvollen – (aber auch keineswegs vertrauenswürdigen!) – USA? Also Gorbatschowsche inhaltlose, irreführende Phrasen!
„An der Bewegung zu einer größeren Einheit der Welt müssen alle teilnehmen.”
An wen kann dieser Appell wohl gerichtet sein? Etwa an die imperialistischen Führungsmächte? Nicht nötig: Ihr Ziel war und bleibt die Vereinheitlichung der Welt unter ihrer Führung!
Also an wen dann? Es bleiben nur jene, die nicht so vertrauensvoll an die guten Absichten der Imperialisten glauben, etwa ein Honecker, oder ein Fidel Castro, oder Staatsmänner in der „Dritten Welt”, die sich nicht gerne per Weltbank und Weltwährungsfonds „vereinheitlichen” lassen. Gorbatschow also als Werbeagent des Weltkapitals! Verleumdung, böswillige Entstellung seiner Absichten? „Schaut auf diesen Mann – heute!” Reicht das nicht?
Gorbatschow zur UNO:
„Leider befand sie sich seit ihrer Gründung unter dem Druck des ‚Kalten Krieges‘. Für lange Jahre wurde sie der Austragungsort propagandistischer Schlachten und zur Stätte der Kultivierung politischer Konfrontation.”
Ist bei diesen Worten niemand stutzig geworden, ist niemandem eingefallen, welche Weisung Lenin den Sowjetdiplomaten erteilte? Jede Gelegenheit, jedes Forum zu benutzen, um die Betrü-gereien und die Heuchelei der Imperialisten zu entlarven, ihre Brutalität gegenüber den unter-drückten Klassen und Völkern anzuprangern?
Ist es denn so schwer, hinter diesen Worten Gorbatschows den schändlichen Kotau des Vertreters der Sowjetmacht vor den Imperialisten zu erkennen, die schmähliche Entschuldigung für das „unziemliche” Verhalten der Vor-Gorbatschowschen Sowjetdiplomaten, die „leider” nicht davor zurückscheuten, den Klassenkampf sogar in die heiligen Hallen am East-River zu tragen!?
Natürlich weiß Gorbatschow, welches Befremden, ja welche Empörung seine Rede bei vielen Kommunisten in der Sowjetunion und überall in der Welt hervorrufen wird. Und – wenn wir in Betracht ziehen, daß er selbst ja eine solide Schulung in Marxismus-Leninismus hinter sich hat und über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügt – dann dürfen wir auch davon ausgehen, daß er sich über den illusionären Charakter seiner hoffnungsvollen Zukunftsbilder einer friedlichen ver-trauensvollen Zusammenarbeit von Imperialismus und Sozialismus völlig im klaren ist. Verständlich daher sein Bedürfnis, dem nur allzu berechtigten Skeptizismus seiner utopischen „Friedensvision” gegenüber schon im vorhinein entgegenzutreten:
„Ist hier nicht eine gewisse Romantik im Spiel, werden hier nicht die Möglichkeiten und die Reife des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Welt überbewertet? Derartige Zweifel und Fragen bekommen wir sowohl bei uns zu Hause als auch von einigen westlichen Partnern zu hören. Ich bin davon überzeugt, daß wir nicht wirklichkeitsfremd sind. In der Welt haben sich bereits Kräfte formiert, die auf diese oder jene Art eine Friedensperiode einleiten wollen …”
Wer damals sich von solchem Sirenengesang einlullen ließ, weil er seiner Sehnsucht nach Ab-wendung der riesengroß ausgemalten Atomkriegsgefahr entsprach, wer also an die Stelle rationaler Wirklichkeitsanalyse Wunschdenken setzte, der muß aber doch wenigstens heute, nachdem die Gorbatschowschen Seifenblasen zerplatzt sind und die Welt sich genau in den Bahnen bewegt, die bestimmt werden von den von Marx und Lenin erkannten und nicht von den von Gorbatschow behaupteten „neuen objektiven” Gesetzmäßigkeiten, sich eingestehen, daß Gorbatschow – um das Wenigste zu sagen – einem fatalen Irrtum unterlegen ist.
Und dann müßte sich eigentlich eine nachdenkliche Frage aufdrängen: Wieviel zigtausende Mal wurde Stalin für schuldig erklärt und verdammt, weil er die Warnungen vor dem genauen Datum des Überfalles der deutsch-faschistischen Armee nicht geglaubt und damit – so wird recht leicht-fertig behauptet – viele Tausende oder Hunderttausende Sowjetsoldaten (wenn es darum geht, Stalins Schuldkonto zu verlängern, bleibt die Skala nach oben offen) sinnlos geopfert habe?
Wie schwer aber wiegt erst der „Irrtum” Gorbatschows, ein Irrtum, der nicht nur Rückschläge verschuldete, sondern die Ergebnisse von 70 Jahren sozialistischer Staatlichkeit verspielte, damit alle Opfer von Revolution, Bürgerkrieg und zweitem Weltkrieg umsonst gebracht werden ließ, ein Irrtum der all die Tausende Menschenopfer der Kriege zwischen den Völkern der ehemaligen Sowjetunion, die Opfer der jugoslawischen Tragödie, die Opfer aller, die in der Dritten Welt deshalb sterben, weil es kein sozialistisches Lager mehr gibt, nach sich zog?
Warum ist der Irrtum des einen, der dennoch den größten weltgeschichtlichen Sieg des Sozialismus nicht verhinderte, ein Grund zur ewigen Verdammnis, und warum ist der „Irrtum” des anderen, der die schwerste, nie für möglich gehaltene opferreichste Niederlage der Arbeiterbewegung und aller fortschrittlichen Kräfte im Gefolge hatte, nicht einmal der Erwähnung wert?
IV. Die vierte Zwiebelschale:
Der offene Angriff auf die ökonomische Grundlage des Sowjetstaates – das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln
Dieser Angriff wurde vorgetragen vor allem auf dem Treffen Gorbatschows mit leitenden Ver-tretern der Massenmedien am 29. März 1989 (ND v. 1./2. 4. 1989).
Wer diese Rede nur flüchtig liest, wird der Behauptung heftig widersprechen, in ihr werde der offene Angriff gegen die Grundlagen des Sozialismus geführt, denn diese Rede ist zugleich ein Musterbeispiel für die Kunst der Irreführung und Täuschung, die Gorbatschow meisterhaft be-herrscht. Er ist kein Alleindarsteller. Er hat sehr genau untersucht, woran sein Vorbild und geistiger Vater Chruschtschow gescheitert ist. (In seinen Reden kommt er mehrfach darauf zu sprechen, daß „wir” genau diese Frage untersucht haben.) Als einen der Gründe hat er erkannt, daß Chruschtschow einen schweren taktischen Fehler begangen hat. Er stand immer an der vordersten Spitze der „Reform-Bewegung” und hat deshalb alle Angriffe der sog. „Konservativen” auf sich konzentriert. Das sollte Gorbatschow nicht passieren. Er würde das schlauer angehen: er durfte nicht der Vorderste sein, sondern der „Mittler”, derjenige, der die Partei zusammenhält gegen die „Extreme” zu beiden Seiten; um die „Mitte” zu repräsentieren, brauchte er eine Opposition von zwei entgegengesetzten Seiten. Die Opposition von links, von denen, die seinem aufweichenden Liberalisierungskurs entgegentraten, brauchte er nicht zu besorgen; er mußte nur darum bemüht sein, daß sie nie die Mehrheit der Entscheidungsgremien auf ihre Seite ziehen konnten. Das würde umso leichter gelingen, wenn er eine Opposition zur Rechten hätte, die zwar genau in der von ihm selbst gewünschten Richtung drängt, aber mit Forderungen, die in der jeweiligen Situation als weit überzogen erscheinen, mit einem Ultra-Radikalismus, demgegenüber man sich wohltuend als gemäßigter Reformer und Verteidiger dessen abheben kann, was im allgemeinen Bewußtsein noch als unantastbar gilt. Diese Rolle des „Drängers” übernahm nur zu gerne Jelzin. Beide waren sich darüber, wohin die Reise gehen sollte, wie sie selbst viele Male zugaben, durchaus einig. Was allerdings, wie Gorbatschow noch erfahren sollte, nicht hieß, daß Jelzin sich ewig mit der Rolle des von der Nr. 1 zurückgehaltenen Heißsporns zufrieden geben würde. Vorläufig aber funktionierte das Gespann ausgezeichnet: Ligatschow kritisierte Gorbatschow von links, Jelzin warf ihm umgekehrt vor, er sei ein „Zauderer”, und Gorbatschow wies den ersten schroff zurück als „Konservativen” und Vertreter der verknöcherten, selbstsüchtigen, nur um ihre Pfründe besorgten „Nomenklatura”, spielte sich aber Jelzin gegenüber zugleich als entschlossener Verteidiger sozialistischer Positionen auf und erschien so als der Mann, ohne dessen ausgleichendes Wirken die Partei dem Zerfall ausgeliefert sein würde.
Wenn z.B. Jelzin forderte, man müsse den Artikel aus der Verfassung streichen, in dem die füh-rende Rolle der Partei festgeschrieben ist, dann reagierte Gorbatschow zunächst mit einem em-pörten: „Nein, niemals!” Danach schwächte er sein „Nein” ab: „Nein, nicht unter den jetzigen Bedingungen”, um dann binnen kurzem bei der Begründung der Notwendigkeit der Abschaffung eben dieses Artikels zu landen. So auch bei der Forderung nach Abschaffung des Einparteiensys-tems und in vielen anderen Fällen. Das wird zum eingespielten, zuverlässig funktionierenden Ritual der „Perestroika”.
Da aber in der Arbeiterbewegung, und besonders in den Kommunistischen Parteien, in der poli-tischen Geographie „Links” positiv, „Rechts” aber negativ besetzt sind, darf es nicht dabei bleiben, daß die linke Opposition links und die rechte Pseudo-Opposition rechts bleibt. Und so wird zur Verblüffung sicher vieler im Lande, aber auch außerhalb der Sowjetunion aus Jelzin ein „Links-oppositioneller”, aus Ligatschow aber ein „Rechter”. Denn: will Ligatschow nicht das Bestehende erhalten, ist also „konservativ”, und damit, wie Konservative überall, ein Rechter? Und ist Jelzin nicht einer, der stürmisch auf Veränderung drängt, also ein Revolutionär, und somit, wie alle Revolutionäre, ein Linker? Na also!
Und so ergibt sich denn das seltene Schauspiel, daß die „Linken” in der Sowjetunion jene sind, denen die Herrschenden und ihre Medien in den Hauptstädten des Kapitals Beifall klatschen, während die „Rechten” dort eine ganz schlechte Presse haben.
Diese Umpolung der Begriffe „rechts” und „links” ist natürlich nicht ohne das Zutun Gorbatschows erfolgt. Er hat den Hauptanteil daran, daß von den „Radikalreformern” das brandmarkende Etikett „Rechte” entfernt und seinen wirklichen Widersachern, den echten Linken, den Verteidigern des Sozialismus, aufgeklebt wurde.
Nur wer diese Inszenierung der Moskauer Politmaskerade kennt, ist imstande, die Verschlüsselung der Gorbatschow-Reden aufzulösen. Nun also dazu, was Gorbatschow den Medienleuten für eine Direktive auf den Weg gibt:
„Wir gingen davon aus, daß die Perestroika ohne Lösung des Lebensmittelproblems, ohne Aus-arbeitung einer modernen(!) Agrarpolitik nicht an Kraft gewinnt und nicht vorankommt. Allerdings waren wir uns zugleich bewußt, daß man auch im Agrarsektor kaum mit tiefgreifenden Veränderungen rechnen kann, wenn sie nicht mit tiefgreifenden Veränderungen in der gesamten Gesellschaft einhergehen.”
„Eben diese objektive Sicht auf die Situation haben die radikale Wirtschaftsreform notwendig gemacht. Eben deshalb brauchten wir auch eine politische Reform.”
„Die Lebensmittel sind das Grundproblem unserer Wirklichkeit. Lösen wir dieses, so ist das ein kolossaler Gewinn nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im sozialen Bereich und auf politischer Ebene. Gelingt es uns nicht, dieses Problem zu lösen, können wir, offen gesagt, die ganze Perestroika abbrechen, und es kommt zu einer ernsthaften Destabilisierung der Gesellschaft.”
Die Perestroika wurde nicht abgebrochen – die bereits eingetretene Destabilisierung der Gesell-schaft ging gerade deshalb weiter.
Natürlich war das Lebensmittelproblem zwar ein ganz wichtiges, aber nicht das Grundproblem der sowjetischen Wirklichkeit. Das Grundproblem war die Entfesselung der antisozialistischen, nati-onalistischen, monarchistischen und antisemitischen Kräfte, die durch die immer heftiger wer-denden Angriffe der Medien auf den Partei- und Staatsapparat geradezu angespornt wurden. Das Grundproblem war die Gefährdung des Sozialismus in der Sowjetunion und damit in allen euro-päischen sozialistischen Staaten.
Die Vorschläge, die Gorbatschow den Medienvertretern vortrug, waren derart, daß diese Gefähr-dung eine gewaltige Steigerung erfahren mußte.
„Es ist von grundsätzlicher Bedeutung, daß zum erstenmal seit vielen Jahren ein Plenum eine radikale Änderung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse auf dem Lande, den Übergang zu neuen Formen der Wirtschaftsführung und eine grundsätzliche Änderung der Leitungsmethoden zum Kernstück der Lösung von Wirtschaftsproblemen gemacht hat. … Ich habe im Blick, daß es sich dabei um eine grundlegende Wandlung unserer Einstellung sowohl zur Entwicklung im Agrarsektor als auch in der gesamten Wirtschaft handelt.
Deshalb gehen die Ergebnisse des Plenums, seine politischen Schlußfolgerungen und Zielstellungen über den Rahmen der Agrarfrage hinaus, sind von prinzipieller, allgemeintheoretischer, allgemeinpolitischer und allgemeinökonomischer Bedeutung.”
„Der Agrarsektor wird die Rolle eines Wegbereiters, eines Pioniers bei der Aneignung entspre-chender Formen des Wirtschaftens und der Leitung erfüllen. …
Wenn sich die Massenmedien nicht ernsthaft bemühen und das Volk die Maßnahmen, die hier vorgeschlagen werden, nicht begreift, wird die Sache schwer vorankommen …
Natürlich prallen hier unterschiedliche Interessen aufeinander …” Und welche Beschlüsse wurden gefaßt, um zu einer „modernen” Landwirtschaft zu kommen? Man sollte es nicht glauben, aber es ist wahr: Die Wiederbelebung der unproduktivsten, die Bauern, insbesondere die Bauernfrauen, am meisten versklavende Form bäuerlichen Wirtschaftens, des kleinbäuerlichen Familienbetriebs! Das ist so ungeheuerlich, daß er nicht wagt, das Wesen der Sache klipp und klar und ungeschminkt darzustellen, sondern unendlich viel leeres Stroh drischt, bevor er wenigstens in Andeutungen zu erkennen gibt, worum es sich handelt.
„Das Plenum hat sich dafür ausgesprochen, durch eine innere Umgestaltung der Kolchose und Sowchose mit Hilfe der Pacht und der Gründung von Genossenschaften ihr riesiges Potential freizulegen. Das Plenum hat sich aber auch für die Unterstützung der Agrarfirmen und Agrar-kombinate, der Bauernwirtschaften, der individuellen Nebenwirtschaften, der Pachtverträge nicht nur innerhalb der Kolchose und Sowchose, sondern auch außerhalb derselben ausgesprochen. …
Anders gesagt, Genossen, keinerlei Dogmatismus, sondern ein Maximum an Unterstützung für alles, was die Selbständigkeit, das Gefühl, Herr auf Grund und Boden zu sein, festigt.”
Wer damals beim Lesen dieser Ausführungen noch nicht wahrhaben wollte, daß diese „Reform” auf die Beseitigung des gesellschaftlichen Eigentums, auf die Rückkehr zur privaten Landwirt-schaft, damit zur Bildung einer neuen Kulakenklasse bei Verurteilung der Masse der Bauern zu einem Elendsdasein hinausläuft, den sollte doch wohl die weitere Entwicklung davon überzeugt haben, daß er einer von gutem Glauben diktierten Fehleinschätzung zum Opfer fiel.
Die folgende Passage seiner Rede zeigt, daß die Gorbatschow-Riege entschlossen war, jeden Widerstand gegen ihre Restaurationspolitik mit allen Mitteln aus dem Wege zu räumen. Zunächst versuchten sie es aber mit der moralischen Verleumdung all derer, die sich dieser Politik in den Weg stellten und die Formen sozialistischer, gesellschaftlicher Produktion verteidigten:
„Das Administrieren sitzt in vielen Leitern von Kolchosen und Sowchosen und in vielen Fachleuten noch tief drin. Deshalb paßt ihnen auch die Pacht nicht.” (Mit der Pacht sind die durch die Beschlüsse zugelassenen und von Gorbatschow und den Medien propagierten bäuerlichen Fami-lienbetriebe auf dem von den Kolchosen und Sowchosen zur Verpachtung abzugebenden Boden gemeint.)
„Sie möchten die Anweisungen und Aufträge erteilen und kommandieren, um die Leute von sich abhängig zu machen. Aber Pacht heißt Partnerbeziehungen, gegenseitige Verpflichtungen und Nichteinmischung. Das ist Selbständigkeit. …”
Wichtig ist zum Abschluß dieses Abschnittes, noch einmal daran zu erinnern, daß Gorbatschow ausdrücklich davon sprach, daß der Landwirtschaft eine Pionierrolle zukomme bei der Einführung neuer Wirtschafts- und Eigentumsformen. Dies war ein ausreichend deutlicher Hinweis darauf, in welcher Richtung die sog. „Wirtschaftsreform” auch in allen anderen Wirtschaftszweigen voran-getrieben werden würde.
V. Fünfte Schale:
Der offene Verzicht auf sozialistischen Internationalismus durch Propagierung des „Gemeinsamen Europäischen Hauses” (ND v. 7. 7. 1989)
In der Praxis und Theorie hatte Gorbatschow den sozialistischen Internationalismus schon lange aufgegeben, obwohl er ihn ab und an in seinen Reden noch beschwor.
Auch seine Rede vor der UNO hatte bereits deutlich gemacht, daß ihm das herzliche Einvernehmen mit den Führern der imperialistischen Staaten, insbesondere der USA, bei weitem das wichtigste außenpolitische Anliegen war. Obwohl der Zustand der „Gemeinschaft” der sozialistischen Länder jammervoll war, hat ihn das nie veranlaßt, etwa mit konstruktiven Vorschlägen zu einer wirklich effektiven Zusammenarbeit der sozialistischen Staaten zu kommen. Er hat auch nie etwa eine Formel vom „gemeinsamen sozialistischen Haus” gefunden, weil ihm das baufällige, im Verfall befindliche Haus keine schlaflosen Nächte – wie vielen einfachen Kommunisten! – verursachte. Was seine Gedanken unaufhörlich beschäftigte und ihn schließlich zur Prägung der Formel vom „gemeinsamen europäischen Haus” veranlaßte, war die Frage, wie er den eigenen Leuten im Lande seine Linie der „vertrauensvollen” Zusammenarbeit mit dem Imperialismus eingängig und an-ziehend machen konnte. Das wichtigste Mittel dazu waren sichtbare Erfolge seiner „Entspan-nungspolitik”. Das fiel allerdings nicht leicht. Obwohl weder die Dame Thatcher noch die Präsi-denten Reagan und Bush an Gorbatschows politischer Zuverlässigkeit in ihrem Sinne zweifelten und ihm unentwegt Erfolg bei seinem Unternehmen Perestroika wünschten, zweifelten sie doch sehr lange daran, daß er bei diesem wahrlich beispiellosen, halsbrecherischen Unternehmen im-stande sei, die inneren Widerstände zu überwinden und die Partei der Bolschewiki tatsächlich zu dauerhafter Gefolgschaft zu veranlassen. Deshalb waren sie lange nicht bereit, die zahllosen ein-seitigen Abrüstungsschritte Gorbatschows durch entsprechende eigene Maßnahmen oder den Abschluß von Abrüstungsabkommen zu honorieren. Erst als sie ziemlich sicher waren, daß kaum noch Gefahr bestand, daß er von „konservativen” Kräften gestürzt werden könnte, gaben sie diese reservierte Haltung auf, zwar nicht völlig, aber auf Teilgebieten.
So kam es dann, daß ihm zur Belohnung für sein für den Westen so segensreiches Wirken die Ehre zuteil wurde, vor dem Europarat in Strasbourg eine Rede halten zu dürfen. In dieser Rede trägt er sein Konzept des „gemeinsamen europäischen Hauses” vor, und entwirft – wie schon in der UNO – ein in den schönsten Farben gemaltes Bild vom künftigen friedlichen, atomwaffenfreien, harmonisch zusammenarbeitenden Europa. (ND v. 7. 7. 1989)
Wieder spricht er vom „Aufbau einer neuen Welt”, von der „Weltgemeinschaft”, die sich „am Wendepunkt ihres Geschicks” befinde, von der „neuen Etappe der Weltgeschichte”.
„Die Idee der europäischen Einigung muß von vornherein gemeinsam, im Prozeß des gemeinsamen Wirkens aller Nationen … aufgearbeitet werden … Die Schwierigkeit besteht … in der überaus verbreiteten Überzeugung oder sogar dem politischen Standpunkt, bei denen man unter der Überwindung der Spaltung Europas die Überwindung des Sozialismus versteht. Dies ist aber ein Kurs auf Konfrontation, wenn nicht auf etwas noch Schlechteres. … Die Zugehörigkeit der Staaten Europas zu unterschiedlichen sozialen Systemen ist eine Realität, und die Anerkennung dieser historischen Tatsache … ist die wichtigste Voraussetzung eines normalen europäischen Prozesses.”
So weit, so gut. Aber mit dem nächsten Absatz tröstet Gorbatschow seine Zuhörer: so, wie es ist, muß es ja nicht bleiben!
„Die soziale und politische Ordnung in diesem oder jenem Land hat sich in der Vergangenheit verändert und kann sich auch in Zukunft ändern.”
Angesichts der Veränderungen, die er in der UdSSR bereits eingeleitet hatte, mußten diese Worte in den Ohren seiner Zuhörer wie eine Verheißung klingen.
„Dies ist aber ausschließlich Angelegenheit der Völker selbst und deren Wahl. Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten und alle Versuche, die Souveränität der Staaten einzuschränken, seien das Freunde und Verbündete oder nicht, sind unzulässig.”
Dies war nochmals eine nachdrückliche Versicherung an die westliche Adresse, daß seitens der Sowjetunion keinem der Verbündeten mehr verwehrt werden würde, z.B. aus dem Warschauer Pakt auszutreten und ins andere Lager überzugehen, wie das Imre Nagy 1956 versucht hatte und wofür in Ungarn und Polen wieder starke Kräfte, die bis in Regierungskreise reichten, wirkten.
Diese Versicherung ist ihm so wichtig, daß er sie gleich noch einmal abgibt:
„Die philosophische Konzeption des gesamteuropäischen Hauses schließt die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation aus, ja selbst die Möglichkeit der Anwendung oder Androhung von Gewalt, vor allem von militärischer – Bündnis gegen Bündnis oder innerhalb eines Bündnisses – wo auch immer.”
Gorbatschow tritt hier bereits als Anwalt US-amerikanischer Interessen auf, was schon ein Schritt auf dem Wege ist, der ihn im Golfkrieg 1990/91 dahin führte, sich zum Hilfs-Sheriff der USA zu erniedrigen:
„Die Realitäten des heutigen Tages und die Perspektiven für die absehbare Zukunft liegen auf der Hand: Die UdSSR und die Vereinigten Staaten sind ein natürlicher Teil der europäischen inter-nationalen politischen Struktur.”
All denen im Strasbourger Parlament, die noch immer Zweifel hegen mochten, ob es ihm, Gor-batschow, gelingen werde, sich zu halten und seine Reformen bis an das von ihnen erhoffte Ende zu führen, müssen seine Worte Zuversicht eingeflößt haben:
„Die Perestroika verändert unser Land, führt es zu Neuem. Dieser Prozeß wird weiter fortschreiten, sich vertiefen und die sowjetische Gesellschaft in jeder Beziehung verändern: in der Wirtschaft, im sozialen, politischen und geistigen Bereich, in allen inneren Angelegenheiten und in den Beziehungen zwischen den Menschen.
Diesen Weg haben wir entschlossen und unwiderruflich eingeschlagen.”
Das „unwiderruflich” hörte man in Strasbourg sicherlich besonders gern. Und sie werden heute feststellen: Gorbatschow hat ihnen nicht zuviel versprochen!
VI. Der Zwiebel sechste Schale:
Absage an die Oktoberrevolution im Gewand eines Be-kenntnisses zu ihr
Am 26. November 1989 erschien in der „Prawda” ein zweiseitiger Artikel Gorbatschows mit der bezeichnenden Überschrift: „Die sozialistische Idee und die revolutionäre Umgestaltung”. (ND v. 28. 11. 1989)
Bezeichnend deshalb, weil schon nicht mehr vom „Sozialismus” sondern nur von der „sozialistischen Idee” die Rede war – ein Erkennungszeichen für Revisionisten und Revisionismus: ihre tiefste Überzeugung ist, daß der Sozialismus im Grunde „nicht machbar” sei, daß aber das Gerede über die „sozialistische Idee”, die „sozialistische Vision” nicht aufhören dürfe.
Dieser Gorbatschow-Artikel ist denn auch wirklich ein „Manifest des Revisionismus”. Es würde sich schon lohnen, dies an vielen Passagen nachzuweisen. Glücklicherweise ist das nicht nötig, weil es in diesem „Revisionistischen Manifest” eine Passage gibt, die den Revisionismus des Ganzen in nuce enthält, so daß es genügt, diese Passage zu zitieren, um zu wissen, wes Geistes Kind der Verfasser ist.
In dieser besagten Passage spricht Gorbatschow nämlich aus, daß für ihn die bürger-lich-demokratische Republik das erstrebenswerte Ziel gesellschaftlicher Organisation ist und nicht etwa der Sozialismus.
Aber natürlich konnte der Generalsekretär der KPdSU dieses konterrevolutionäre Bekenntnis nicht „pur”, unverbrämt zu Papier bringen. Es muß ihn – und wahrscheinlich auch einige seiner Berater – einige Zeit und Geistesakrobatik gekostet haben, bis ihnen die geniale Idee kam, die Absage an den Sozialismus in die Form eines Bekenntnisses zur Oktoberrevolution einzuhüllen; in eine Formu-lierung also, von der man ziemlich sicher sein konnte, sie werde von den „eigenen” Leuten richtig verstanden, von den anderen dagegen gutgläubig im gewünschten Sinne mißverstanden. Diese Formulierung ging so:
„Je weiter wir zum Wesen unserer eigenen Geschichte vordringen, um so offenkundiger wird heute, daß die Oktoberrevolution kein Fehler war, denn die reale Alternative zu ihr war durchaus keine bürgerlich-demokratische Republik, wie uns heute mancher einzureden versucht, sondern ein anarchischer Putsch und eine blutige Militärdiktatur, die Errichtung eines reaktionären, volksfeindlichen Regimes.”
Wer lesen kann und die einfachsten Regeln der Logik beherrscht, der kann nicht leugnen, daß dieser Text besagt:
„Die Oktoberrevolution wäre ein Fehler gewesen, wenn es eine reale Alternative: bürgerlich-demokratische Republik gegeben hätte.”
Da aber Gorbatschow genau so gut und besser als jeder „einfache” Kommunist weiß,
daß die Oktoberrevolution gegen eine bestehende bürgerlich-demokratische Regierung, nämlich die russischen Ebert/Scheidemänner, Kerenski u. Co., durchgeführt wurde (der Kornilow-Putsch war bereits gescheitert);
daß Lenin im Gegensatz zu ihm, Gorbatschow, in der bürgerlichen Demokratie die Diktatur der Bourgeoisie sah, die es zu stürzen galt, um die Diktatur des Proletariats zu errichten,
bedeutet seine Formulierung in Wahrheit:
„Da die Oktoberrevolution gegen eine bürgerlich-demokratische Regierung durchgeführt wurde, war sie ein Fehler.”
Wer so denkt, für wen die bürgerliche Demokratie höher steht als die sozialistische Revolution – und niemand kann daran vorbei, daß genau dies der Kern des zitierten Absatzes ist! – von dem ist nichts anderes zu erwarten, als daß er, wenn ihm die Macht ausgeliefert wird, diese dazu gebraucht, den „Fehler” zu korrigieren und eine Perestroika, einen Umbau der bestehenden antikapitalistischen in eine bürgerliche Ordnung in Gang zu setzen.
Nach einer solchen Aussage wie der zitierten dürfte es unter gelernten Marxisten keine Zweifel darüber geben, daß
Gorbatschow, also der Generalsekretär der KPdSU, kein Kommunist, sondern ein bürgerlicher Liberaler, bestenfalls ein Sozialdemokrat ist;
daß eine Partei mit einem solchen Manne an der Spitze aufgehört hat, eine kommunistische, eine Partei Lenins zu sein;
daß ein Land, dessen Staatsoberhaupt ein Antikommunist ist und die Macht gegen die Kommu-nisten im Lande behauptet, kein sozialistisches Land mehr ist, sondern ein Land auf dem Wege der kapitalistischen Restauration;
daß sich niemand darüber zu wundern braucht, daß diesem Manne die Sympathie und Dankbarkeit der Häuptlinge des Imperialismus zuflog und sie ihm erlaubten, herzliche Duz-Freundschaften zu demonstrieren.
VII. Schon fast am Zwiebelkern:
Genugtuung am erreichten Ziel und verdiente Belohnung
Im Oktober 1990 entschied das Nobelpreiskomitee, den Friedensnobelpreis Michael Gorbatschow zu verleihen. Es gab auch einen anderen Kandidaten auf der Vorschlagsliste: Nelson Mandela.
Das Komitee blieb seiner Tradition treu, mit dem Friedensnobelpreis vorzugsweise Persönlichkeiten auszuzeichnen, die sich Verdienste im Kampf gegen den Sozialismus erworben haben; um nur zwei der letzten zu nennen: Sacharow und Walesa.
Zutreffend begründete das Komitee seine Entscheidung damit, Gorbatschow habe „viele und entscheidende Beiträge zum Umbruch in Osteuropa” geleistet.
Der Vorsitzende des Komitees machte auch einen anderen Aspekt der Verleihung klar: mit dieser Verleihung sollte die schon sehr brüchig gewordene Autorität Gorbatschows in seinem eigenen Lande gefestigt werden: „Wir hoffen”, sagte Giske Andersen, der Vorsitzende, „daß der Preis seine Handlungsmöglichkeiten stärkt, an der Schaffung einer neuen Weltordnung mitzuwirken.”
Vielleicht hat er das wirklich getan. Auf jeden Fall hat Gorbatschow im Golfkrieg schon kräftig an der Schaffung der „neuen Weltordnung” mitgewirkt.
Bei der Preisverleihung persönlich teilzunehmen war Gorbatschow nicht vergönnt. Deshalb sandte er seine Dankesbotschaft schriftlich. Darin stellte er voller Genugtuung fest, das Jahr 1990 mar-kierte „das Ende der widernatürlichen Spaltung Europas”.
Wiederum: kein wirklicher Kommunist hat die Existenz sozialistischer Staaten in Europa neben kapitalistischen je als „widernatürlich” betrachtet, ebenso wenig wie etwa im 18. und 19. Jahr-hundert Demokraten die Existenz bürgerlicher Staaten neben Feudalstaaten in Europa als „wi-dernatürlich” betrachtet haben. Umgekehrt: das Entstehen sozialistischer Staaten war das natür-liche Ergebnis der Entfaltung des Kapitalismus, wie der Kapitalismus das natürliche Ergebnis der Entfaltung der Warenproduktion im Feudalismus war.
Aber: die Genugtuung Gorbatschows über das Ende der Spaltung Europas durch das Verschwin-den des Sozialismus ist – wie aus allem vorher zitierten eindeutig hervorgeht – kein plötzlicher Sinneswandel, sondern nur die „natürliche” Freude eines Mannes, der auf dieses Ergebnis mit aller Kraft hingearbeitet hat und sich nun am Ziel seiner Bemühungen sieht.
Und so ist es denn auch kein „Ausrutscher” oder ein „ganz neuer Gorbatschow”, sondern genau der, der er schon 1985 war, wenn er am Tage der Auflösung der UdSSR durch Kündigung des Unionsvertrages von 1922 am 12. Dezember 1991 den Journalisten verkündete: „Die Hauptsache meines Lebens ist in Erfüllung gegangen. Ich tat alles was ich konnte.”
Das wird man ihm nicht streitig machen können! Im Zerstören des Sozialismus war er erfolgreicher als alle offenen Feinde des Sozialismus, von Churchill bis Hitler.
Aber – am Zwiebelkern sind wir damit noch nicht!
Den hat erst der „Spiegel” von der letzten Hülle befreit und bloßgelegt.
VIII. „Das also ist der Zwiebel Kern: ein Sozialdemokrat!”
Wer immer seine „Gorbimanie” als Kommunist oder Sozialist noch nicht überwunden hat, dem muß man das Spiegel-Interview (Spiegel v. 18. 1. 1993) als Therapie verordnen.
Hier folgen nur einige der aussagekräftigsten Ausschnitte. Zunächst ein sehr wichtiges Einge-ständnis:
„Was immer heute” (in der ehemaligen Sowjetunion) „geschieht, hängt damit zusammen, was ich 1985 begonnen habe. Die Ära Gorbatschow ist nicht zu Ende, sie fängt jetzt erst richtig an.”
Also: Er ist kein Geschlagener, kein Gestrandeter, er hat jetzt die Verhältnisse erreicht, in der seine Ära erst richtig beginnen kann!
„Spiegel: Den einen ging es zu langsam, den anderen war alles zu radikal.
Gorbatschow: Und Gorbatschow mußte das Schiff der Perestroika durch die Klippen steuern. Dabei konnte man doch nicht Dinge ankündigen, für die das Volk noch nicht reif war. … Man mußte Geduld zeigen, bis die Parteibürokratie so entmachtet war, daß sie das Rad der Geschichte (!) nicht mehr zurück (!) drehen konnte.
Spiegel: Michael Sergejewitsch, Sie sind kein Kommunist mehr?
Gorbatschow: Wenn Sie meine Aussagen nehmen, dann wird ihnen klar, daß meine politischen Sympathien der Sozialdemokratie gehören und der Idee von einem Sozialstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland.”
Was hier mit dieser Chronik von 1985 an nachgewiesen wird – im „Spiegel” bestätigt es Gorbatschow: Ganz falsch ist die Ansicht der Leute, die glauben, Gorbatschow habe den Sozialismus verbessern wollen, aber dafür nicht das richtige oder gar kein Konzept gehabt. Er hatte ein Konzept, und das hat er konsequent und erfolgreich verfolgt und verwirklicht; nur war es kein Konzept des sozialistischen Aufbaus, sondern der Demontage des Sozialismus.
Gelingen konnte ihm das allerdings nur, weil durch die Vorarbeit Chruschtschows die kommu-nistische Bewegung in der Sowjetunion und international schon so tief im Sumpfe des Revisio-nismus steckte und ideologisch schon so sehr abgerüstet und ent-leninisiert war, daß nur wenige noch aus den Aussagen Gorbatschows herauslasen, was an Konterrevolution in ihnen enthalten war.
Wieso es dahin kommen konnte – das ist zwar die wichtigste, aber eine neue Frage. Die kann aber nur richtig beantworten, wer von der „Gorbimanie” geheilt ist.
Erstveröffentlichung als Sonderdruck der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) München, Februar 1993. – Texterfassung nach Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung)1997, S 257-285.
Anmerkung:
(1) Erstveröffentlichung als Sonderdruck der Kommunistischen Arbeiterzeitung (KAZ) München, Februar 1993.
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