Mittwoch, 19. August 2015
Menschen vom Westbalkan hoffen in der EU auf eine Zukunftsperspektive
Flucht vor der maroden Heimat
In der deutschen Debatte über vermeintliche »Wirtschaftsflüchtlinge« vom Westbalkan werden das Ausmaß und die Ursachen der dortigen Misere ignoriert.
Sarajevo - in einem Jahr ist Tamir Kuko fertig mit seinem Marketing-Studium an der Universität der bosnischen Hauptstadt. Nach dem Abschluss hofft er, eine Stelle in Deutschland oder Österreich zu finden. »Ich möchte einfach normal arbeiten in einem normalen Land«, sagt der 26-Jährige. Dies sei in Bosnien nicht nur jetzt unmöglich, sondern auch in der absehbaren Zukunft sehr unwahrscheinlich.
Doch als Flüchtling hat er in Deutschland kaum eine Chance. Die Behörden stufen Serbien, Bosnien und Mazedonien als »sichere Herkunftsstaaten« ein. Für die anderen Länder des Westbalkans - Montenegro, Albanien und Kosovo - gilt dies noch nicht. Österreich betrachtet schon seit fünf Jahren alle sechs Staaten der Region als »sicher«. Diese Einordnung erlaubt es, Asylanträge durch Staatsangehörige dieser Länder in einem Schnellverfahren als »offensichtlich unbegründet« abzulehnen.
Abgesehen von den juristischen Auseinandersetzungen darüber, ob ein solches, pauschales Prozedere überhaupt mit dem in den jeweiligen europäischen Verfassungen verankerten Asylrecht vereinbar ist, scheinen die Argumente der Befürworter einer restriktiveren Asylpolitik auf den ersten Blick überzeugend zu sein: Seit mehr als 15 Jahren herrschen in keinem der Westbalkanländer Krieg oder Diktatur. Auch von Verfolgung als systematischer Staatspolitik, wie etwa zu Milošević-Zeiten, kann längst keine Rede mehr sein. Die weit verbreitete Diskriminierung der Roma mag eine institutionelle Dimension haben, sie unterscheidet sich in Serbien oder Mazedonien aber nicht von den Zuständen in den EU-Mitgliedsstaaten Rumänien oder Ungarn. Auch Schwule, Lesben und Transsexuelle leiden in Südosteuropa unter Verfolgung, machen jedoch nicht die Mehrzahl der Menschen aus, die vom Balkan nach Westeuropa kommen.
Doch selbst wenn es sich um eine rein wirtschaftliche Motivation der Auswanderung handelt, werden die Hintergründe dieser Massenflucht in der deutschsprachigen Debatte oft ignoriert. Die Staaten des Westbalkans erfuhren eine strukturelle Transformation, die im Nachhinein als unglücklich oder sogar gescheitert bezeichnet werden kann.
Lange vor Griechenland mussten seine Nachbarn drastische Sparmaßnahmen umsetzen oder auf alle nennenswerten Investitionen und Sozialausgaben verzichten. Der Zusammenbruch der alten Industrie, aber auch die Öffnung der Märkte infolge der EU-Assoziierungsabkommen haben zu Massenarbeitslosigkeit und sinkenden Steuereinnahmen geführt. In der Region sind die Währungen entweder an den Euro gekoppelt oder stark von ihm abhängig, was den Regierungen wenig Spielraum für Steigerungen der Wettbewerbsfähigkeit durch Entwertungen lässt. Anders als Kroatien, das bereits der EU beigetreten ist, verfügen die Westbalkanländer nicht über ein natürliches Tourismuspotenzial oder müssten es erst durch massive Infrastrukturinvestitionen verwirklichen.
Die starke Abhängigkeit dieser Volkswirtschaften von der Eurozone hatte insbesondere nach der Finanzkrise dramatische Konsequenzen: Österreichische und italienische Kreditinstitute wie die Erste Bank oder Unicredit zogen ihr Kapital aus der Region zurück. Die Zentralbanken müssen für die Stabilität der Banken sorgen, können aber im Gegensatz zu den Euro-Ländern nicht von den EU-Nothilfemechanismen profitieren, ihnen bleibt nur der Internationale Währungsfonds - und damit weitere Einschnitte und noch weniger Investitionen. Der Staat kann seinen Bürgern so nichts mehr bieten oder sich aus eigener Kraft reformieren. Ein Umdenken in den Beziehungen mit den Westbalkanländern und in der extrem restriktiven EU-Einwanderungspolitik scheinen daher das Gebot der Stunde zu sein, keine Scheindebatte über »Wirtschaftsflüchtlinge«.
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