Von Hermann Bellinghausen
Mexiko-Stadt, 12. Februar 2018, la jornada).-
Die Wissenschaft ist keine Religion, aber sie ist in der Lage,
solche Schwerverbrechen zu begehen, als ob sie eine Religion wäre.
Die moderne Geschichte ist reich an Beispielen. Obwohl diese Fälle
in gewissenhaften bis hin zu genialen Gründen ihren Ursprung haben,
verursachen sie einen immensen Schaden beim ausgewählten Objekt,
wenn sie ihre Absichten umsetzen. Wenn das Ziel ein ausdrücklich
kriegerisches ist, geht es darum, zu zerstören. Wenn es sich um
Friedenszeiten und mutmaßlich konstruktive Ziele handelt, scheinen
die Verbrechen keine zu sein. Sie sind dann einem höheren Gut
geschuldet oder werden als Kollateralschaden unter Bergen von Lügen,
Geldgeschenken und Propaganda geleugnet. Die Pharmaindustrie bietet
ein monumentales Beispiel dafür. Von der Weltraumforschung bis zum
Internet haben die großen Fortschritte militärische Ursprünge und
Ziele. Und so steht es mit der Bio- und Agrartechnologie, deren
empirische Grundlage die letzten Grenzen der bestmöglichen
Wissenschaft erreicht hat. Aber da ihr die Ethik fehlt,
überschreiten die Technologien straffrei diese Grenzen, sind Teil
des Kriegsarsenals.
Der Kapitalismus in seiner zeitgenössischen, globalen und
vielleicht bereits postglobalen Phase besitzt keine Ethik, auch
wenn er sie bisweilen zu Werbezwecken anruft. Die Gewinnlogik
folgt grundlos und zufallsbedingt wahnsinnigen Wegen, aber mit
gezinkten Würfeln. Das Haus hat immer einen Gewinnvorteil. Das
Casino, in dem das Eine Prozent sein Geld bewegt, beansprucht fast
alle Jetons für sich. Darum gewinnt es fast immer, ist fast
unbesiegbar, fast perfekt. Diese „fast“ sind die Risse. Sie
beherbergen die Möglichkeit, die Dinge könnten einen anderen Lauf
nehmen. Jedes „fast“ ist auf eine Widerstandskraft zurückzuführen.
Jedem „fast“ ist ein humanistischer und ethischer Grund inhärent.
Die kleinen Möglichkeiten des Widerstands
Die Welt wird von ignoranten oder idiotischen Regierenden,
freudenhausgleichen Parlamenten, zügellosen Armeen und den steten
Gewinnern – Banken, Konzerne, kriminelle Vereinigungen –
beherrscht. Die Möglichkeiten eines zivilisatorischen
Widerstandes, der sich vom Kapitalismus absetzt (sei dieser
chinesischen, saudi-arabischen oder russischen Typs, – oder der
westliche, der Mexiko und den Kontinent dominiert). Das einzige
Ziel ist der Gewinn. Bis zum Suizid, wenn es sein muss. Darum wird
inmitten der aktuellen arktischen Katastrophe „ein Hoch auf die
potentiellen (Rohstoff-)Vorkommen und die neue Seidenstraße“
ausgerufen. Dem Kapitalismus kommen die Desaster, Hungersnöte,
Dürren, Eisschmelzen, verrückten – aber ihm zugehörigen –
Präsidenten entgegen. Das Hauptnachkriegsziel sind die
Migrant*innen, das Unglück der Anderen. Nach dem Gesetz des
Hühnerstalls lassen Mexiko und Griechenland ihren Kot auf
Mittelamerika und den Mittleren Osten fallen, während es sie
selbst aus Washington und Brüssel von oben trifft. Alles fängt in
den örtlichen Hühnerställen Honduras, Sudan, Palästina, Syrien und
tausend anderen an.
Angesichts dieses Panoramas erlangt die mexikanische Verteidigung
des Mais eine Bedeutung, die weit mehr als symbolisch ist. Sie
fordert den allgemeinen Fatalismus heraus, den unfreiwilligen
Verbündeten des Kapitalismus, der mit seinen (Öl-)Brunnen, seinem
expansiven Bergbau, seinem Fracking, seiner Vereinnahmung von
Wasser und fruchtbaren Böden vordringt. Wenn wir nicht so passiv
kolonialisiert wären, müsste jede/r Mexikaner*in verstehen, dass
der Mais ein vom Menschen geschaffener Ernährungsschatz ist, der
Mexiko stärker definiert als es das herrschende System aushält.
Der Mais in Kriegszeiten
Der Dokumentarfilm „Mais in Kriegszeiten“ (El maíz en
tiempos de guerra; Alberto
Cortés, 2017) zeigt ohne kolonialisierte Zugeständnisse und
mystisches Gerede, wie lebenswichtig es ist, die einheimischen
Maissorten zu schützen. Generationen von Campesinos haben mit
ihnen geduldig den Acker bestellt. Sie formten den Mais zu ihrem
besten Rüstzeug für ein gesundes Überleben. Warum hat Mexiko trotz
des seit 1821 bestehenden Nationalstaates die zahlenmäßig größte
indigene Bevölkerung Amerikas? Warum sind die autochthonen Völker
mitten im 21. Jahrhundert eine reale Größe, die den Rassismus, die
Ignoranz, den blinden wirtschaftlichen Fundamentalismus der
Regierung und die Korruption, die vom zuvor Erwähnten ausgebrütet
wird, überwinden? Sie verteidigen ihren Mais, um ihr Territorium
zu verteidigen. Und das bedeutet, wie Eutimio Díaz, Campesino und
Wixárika, in dem Film erklärt: Mexiko verteidigen.
Kein anderes Land der Welt weiß den Mais so zu essen, wie er ist,
eine unübertreffbare Quelle für Gerichte und Proteinzufuhr.
Weltweit wird er als sekundäres Nahrungsmittel genutzt, für die
Schweinemast, Popcorn, Junk Food, auch für Klebemittel und als
Agrartreibstoff. Nur in Mexiko trauen wir uns, ihn mit Kalk zu
versetzen (die Nixtamalisierung) und seinen Nährwert zu
potenzieren, wenn Fleisch und Milch knapp sind. Dass mexikanische
Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Agrar-Unternehmer*innen
und Händler*innen wirklich das Märchen glauben, der Genmais sei
besser und produktiver als die Tausenden von Sorten, die wir
haben, beleidigt die Intelligenz. Dies ist Teil des böswilligen
Bestrebens, die Mexikaner*innen ihrer Böden und Lebensgrundlagen
zu berauben. Damit sollen die profunden (und realen)
mesoamerikanischen Wurzeln zerstört werden, die uns als einen
spezifischen und und ursprünglichen Teil im menschlichen Mosaik
unseres bedrohten Planeten definieren.
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