11.03.18
Im
Rahmen der imperialen Politik der Gegenwart geht es nicht darum, eine
Verfassung durch eine andere zu ersetzen. Festzustellen ist vielmehr
eine doppelte Entwicklung: Zum einen werden die grundrechtlichen
Schutzmechanismen durch ein verändertes Strafrecht, einen Korpus an
Strafverfahrensregeln mit gleichsam verfassungsgebender Funktion
neutralisiert, zum andern verändert sich die Staatsform selbst und
entsteht auf anomischer Grundlage eine neue politische Ordnung. Die
Ausnahmeverfahren bauen den Rechtsstaat von innen her ab. Die der
bestehenden Rechtsordnung äußerliche, reine Gewalt wird in den
Rechtsstaat eingebaut und verändert das Gesamtsystem von Grund auf.
Diese doppelte Bewegung findet im Strafrecht ihren Niederschlag, das
damit verfassungsgebende Bedeutung gewinnt.
Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats [1]
Warum ist die solidarische Unterstützung politischer Gefangener auch für den Fall, daß sie eine revolutionäre Strömung repräsentieren, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen mag, unerläßlich? Weil sich politische Arbeit ohne den Unterbau verläßlicher Strukturen, die auch die weniger erfreulichen Aufgaben des gemeinsamen Kämpfens erfüllen, nicht wirksam entfalten kann. Weil die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Hegemonie und die Entwicklung eines Klassenbewußtseins, daß sich nicht mit den Häppchen sozialdemokratischer Umverteilung zufriedengibt, auf die Überwindung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse abzielt, die alle Menschen ihrer Deutungs- und Handlungsmacht unterwerfen. Weil der Umbau des bürgerlichen Rechtsstaats in einen autoritären Sicherheitsstaat die Freiheit aller bedroht. Und nicht zuletzt ... weil tätige Solidarität ein bereits verwirklichtes Stück jener Zukunft einer nicht in Isolation und Konkurrenz, in Not und Gewalt zerfallenen Gesellschaft darstellt, die zu verwirklichen das Ziel emanzipatorischer und revolutionärer Kräfte ist.
28 Jahre nach der Implosion der realsozialistischen Staatenwelt und dem Anschluß der DDR an die BRD befindet sich die verbliebene linke Opposition und Bewegung hierzulande in einer Schwächephase, in der sie Gefahr läuft, in einer Abwärtspirale aus Resignation und Regression jede politische Bedeutung zu verlieren. Den reaktionären Geist der Zeit brachte unlängst der kommende Mann der CDU, Jens Spahn, auf den Punkt eines Triumphes, der AfD und Konsorten Lügen straft, wenn sie nach wie vor eine linke Hegemonie in Kultur und Gesellschaft beklagen: "Dieses Land ist so wenig links wie lange nicht. (...) Dieses Multi-Kulti, 'alles-ist-doch-irgendwie-egal' der Achtundsechziger, das ist durch. Das haben die Menschen satt!" [2]
Die neue Hegemonie nationalistischer und sozialchauvinistischer Imperative zeigt sich auch in der massenmedial propagierten Zustimmung zu einer Politik der politischen Repression, mit der die gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg gerichteten Proteste im Nachhinein diskreditiert und kriminalisiert werden. Die dabei angewendeten Mittel der Strafverfolgung von AktivistInnen, denen keine Gewalttat angelastet werden kann und die dennoch monatelang in Untersuchungshaft bleiben müssen, der Verhängung langer Zeitstrafen für geringfügige Delikte, der öffentlichen Anprangerung von DemonstrantInnen im Internet und in Zeitungen, während die vielen Fälle belegter Polizeibrutalität ausgeblendet werden - all das geht weit über das Statuieren eines bloßen Exempels hinaus, mit dem die Proteste gegen den G20-Gipfel delegitimiert werden sollen.
In Hamburg versucht der Staat sich mit Mitteln durchzusetzen, die den klassischen rechtstaatlichen Anspruch, lediglich zu bestrafen, was sich juristisch als Vergehen beweisen läßt, zugunsten administrativer Ausnahmeverfahren fallenläßt. Wesentliches Merkmal dessen ist das zusehends autonome Vorgehen der Polizei. Ihr wird mit dem politischen Auftrag präventiver Unterdrückung sozialer Proteste und der Verfolgung virtueller Straftaten wie derjenigen, sich in einer Masse angeblich gewaltbereiter DemonstrantInnen befunden oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte schon durch den Versuch, sich ihrem Zugriff zu entziehen, begangen zu haben, weitgehend freie Hand gelassen. Dies wiederum wird politisch gedeckt durch Stellungnahmen des SPD-Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich jede Kritik an der Polizei verbietet und ihr Vorgehen rundheraus als korrekt und heldenhaft feiert.
Schon im Vorfeld der G20-Proteste wurden Bedrohungsszenarios aufgebaut, die sich nach der massiven Anwendung von Polizeigewalt in selbsterfüllende Prophezeiungen zu verwandeln schienen. Der präventive Charakter des Vollzuges exekutiver Gewalt und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens durch Politik, Medien und Justiz zeigen, wie weit die Kriminalisierung des sozialen und politischen Kampfes bereits gediehen ist. An fast keiner Stelle fand eine öffentliche Debatte um das Für und Wider des Gipfels statt, die politischen Ziele der DemonstrantInnen wurden von den Medien kaum kommuniziert, anstelle dessen werden sie mit populistischer Demagogie als Kriminelle und Krawallmacher angeprangert. Das massive Auftreten von über 30.000 PolizistInnen, der bereitwillige Vollzug exekutiver Interessen durch die Gerichte und die ungebrochene Karriere des hauptverantwortlichen Politikers Olaf Scholz lassen erkennen, wie hoch die Schwelle wirksamer außerparlamentarischer Intervention inzwischen gelegt wurde.
Um zu erfahren, wie im Schutze des staatlichen Gewaltmonopols Tatsachen geschaffen wurden, die vom willkürlichen Entzug bürgerlicher Freiheiten wie dem des Versammlungsrechtes bis zur aktiven Gewaltanwendung und erniedrigenden Behandlung von DemonstrantInnen reichen, ohne daß diese verfassungsrechtlich zumindest fragwürdigen Vorgehensweisen der Polizei bislang juristische oder disziplinatorische Konsequenzen gehabt hätten, muß auf unabhängige und alternative Medien zurückgegriffen werden. So lassen die Anwältinnen Ulrike Donat und Gabriele Heinecke in der halbstündigen Videodokumentation "Aussage gegen Aussage" [3] diverse frappante Übergriffe und Manipulationen der Polizei Revue passieren. Was hier mit stichhaltigen rechtlichen Argumenten beanstandet wird, läßt in der Massivität der Durchsetzung staatlicher Direktiven zur Unterdrückung der G20-Proteste erkennen, wie sehr sich Menschen in der Defensive befinden, wenn sie sich nur auf Recht und Gesetz berufen. Zwar wird versucht, die Gerichte einzuschalten, doch macht die materielle wie institutionelle Übermacht des Staates als auch der ideologische Gegenwind, der den G20-GegnerInnen in Gesicht bläst, dies zu einem äußerst mühsamen und bestenfalls langfristig erfolgreichen Unterfangen [4].
Um wieder in die Offensive legitimer Gesellschaftsveränderung zu kommen und die Behauptung des Staates, das Politische sei allein auf dem Verhandlungsweg zu verwirklichen, was alle anderen Mittel der Willensbekundung für illegal erklärt, als ahistorische und zweckrationale Suggestion zu entlarven, empfiehlt sich, ein Blick auf die politischen Beweggründe anwachsender Repression zu werfen. So muß kein Aufstand stattfinden, um den Aufbau einer schwerbewaffneten Aufstandsbekämpfung voranzutreiben. Um auch in Zukunft sicherzustellen, daß die Marktsubjekte an nichts anderes denken als arbeiten und einkaufen, wird der Möglichkeit vorgegriffen, daß es anders kommen könnte. Die auf breiter Ebene vollzogene Verlagerung polizeilicher Eingriffsgewalt in den Bereich der Prävention, sprich Kriminalisierung nicht erfolgter Straftaten, und die Verpolizeilichung des Strafrechts durch die Übertragung der Judikative zugehöriger Kompetenzen an die Exekutivorgane sind Entwicklungen, die von einer qualitativen Veränderung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft künden. Vorvollzogen wurde dies im Bereich der Antiterror-Maßnahmen, die als zentrale Begründung für die Beseitigung grundrechtlichen Freiheitsschutzes wie etwa des Trennungsgebotes von Polizei und Geheimdiensten, des Verbotes von Kollektivstrafen und Gesinnungsjustiz oder der Gewährleistung von vertraulicher Kommunikation fungieren.
Gegen die Unterdrückung sozialen Protests und Widerstands
Auf der Internationalen Konferenz, zu der das Freiheitskomitee für Musa Asoglu am 10. und 11. Februar ins Hamburger Centro Sociale geladen hatte, waren auch zwei AktivistInnen von United We Stand, der Solidaritätskampagne für die G20-Gefangenen, zugegen. Sie berichteten vor allem über aktuelle Strafrechtsverschärfungen wie die unmittelbar vor dem G20-Gipfel in Kraft getretene Neuregelung der Paragraphen 113 StGB "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" und 114 StGB "Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte". Letzteres wird seitdem mit einer obligatorischen Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten geahndet, wobei der Sachverhalt eines tätlichen Angriffes schon bei einer versuchten Körperverletzung erfüllt ist, die ohne physische Folgen bleibt. Einem tätlichen Angriff auf Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr muß keine Vollstreckungshandlung mehr vorausgehen, es reicht nun aus, wenn sie gerade eine Diensthandlung vollziehen, sprich sich im Dienst befinden.
Hier ist im konkreten Fall einer Auseinandersetzung während einer Demonstration viel vorstellbar, das Menschen in den Knast bringen kann, die in keiner Weise die Absicht hatten, jemanden körperlich zu attackieren. Der Strafrahmen zwischen drei Monaten und fünf Jahren könnte viele Menschen davon abhalten, sich überhaupt an Protesten zu beteiligen, wenn auch nur die vage Chance besteht, auf folgenschwere Weise mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. So wird das bloße Mitführen einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeuges als besonders schwerer Fall mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten geahndet. Die zuvor noch nachzuweisende Bedingung, den Schlagstock oder das Pfefferspray verwenden zu wollen, entfällt. Ein besonders schwerer Fall liegt auch bei einer gemeinschaftlich begangenen Tat vor, was die Bestrafung kollektiver Formen der Organisation und der bloßen Zugehörigkeit begünstigt. Gleiches gilt für die Verschärfung des Landfriedensbruches. Dieser Straftatbestand ist von vornherein auf Menschenmengen zugeschnitten, deren TeilnehmerInnen sich schon strafbar machen können, wenn einige von ihnen Drohungen ausstoßen. Der Strafrahmen beträgt mindestens sechs Monate bis maximal zehn Jahre Haft.
Die Strafbarkeit des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ist bereits, wie aus einer Analyse [5] des Strafrechtsexperten Tommy Kujus hervorgeht, umfassend durch andere Paragraphen des Strafgesetzbuches gewährleistet. Vor dem Hintergrund des aggressiven Vorgehens der Polizei gegen die G20-GegnerInnen drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es im Kern darum geht, die Wirksamkeit sozialen Widerstands so zu schwächen, daß am Ende nur symbolpolitische Inszenierungen bürgerlichen Dissenses bleiben, die sich problemlos in die Tasche derjenigen wirtschaften lassen, die ihre Interessen in dieser Gesellschaft so oder so durchsetzen.
Auch das jüngst erweiterte Installieren staatlicher Spionagesoftware auf Computern und mobilen Endgeräten zur Überwachung von Kommunikation, die ansonsten durch Verschlüsselung gegen das Mitlesen Dritter geschützt wären, ist eine Folge von Antiterror-Maßnahmen. Wie so häufig war die Anwendung auch dieses weitreichenden Überwachungsinstrumentes, das sich Sicherheitslücken zunutze macht, um in fremde Rechner einzudringen, anfangs mit hohen Auflagen versehen und wurde nur für die Prävention terroristischer Anschläge eingesetzt. Jetzt können mit dem sogenannten Staatstrojaner auch Mobiltelefone und Computer von Menschen gehackt werden, die nicht im Verdacht stehen, Terroristen zu sein. Da das soziale und geschäftliche Leben auf den Smartphones vieler Menschen wie ein offenes Buch ausgebreitet ist und zudem alle Aktivitäten der Betroffenen in Echtzeit mitverfolgt werden können, dürfte sich dieses Ermittlungs- und Überwachungsinstrument beim BKA und in Zukunft womöglich auch anderen Polizeibehörden wachsender Beliebtheit erfreuen.
Die gar nicht so schleichend vonstatten gehende Verabschiedung des bürgerlichen Rechtstaates kann derzeit, wie von den United We Stand-AktivistInnen berichtet, im Freistaat Bayern bezeugt werden. Dort ist ein Polizeiaufgabengesetz in Arbeit, dessen Maßnahmenkatalog ausschließlich präventiven Zwecken dient und dabei so weitreichend ist, daß mehr als nur Kriminalität, nämlich politischer Protest jeder Art, verhindert wird. So soll die Polizei freie Hand beim Abfilmen von Demonstrationen bekommen und dabei auch Programme einsetzen dürfen, die mit Algorithmen zur Identifikation von personenspezifischen Bewegungsmustern und verdächtigem Verhalten ausgestattet sind. Hinzu soll die Vollmacht kommen, auf fremde Datenspeicher zuzugreifen inklusive auf die in der Cloud gespeicherten Informationen.
Von besonderem Interesse ist die geplante Erlaubnis, bei zu erwartender Gefährdung von Personen oder Sachen künftig Daten in fremden Speichern löschen oder verändern zu können. Zudem soll die Polizei Kommunikationsverbindungen für Sprache oder Daten präventiv kappen dürfen. Auch die alte Briefpost wird nicht ausgespart, sie soll im Falle besonderen Handlungsnotstandes ohne richterliche Genehmigung beschlagnahmt werden können. Die Weitergabe auf diese Weise erlangter Informationen an Geheimdienste in In- und Ausland soll erleichtert werden, was immer auch die Möglichkeit beinhaltet, bei Auslandsreisen unverhofft verhaftet zu werden. Künftig sollen bayerische PolizistInnen falsche Identitäten benutzen können, um im Internet als Verdeckte Ermittler zu arbeiten. Die Administrativhaft für sogenannte Gefährder muß zwar alle drei Monate erneuert werden, das aber womöglich ohne Ende. Guantanamo in Bayern - unbefristete Freiheitsberaubung aufgrund bloßer Mutmaßungen galt bis zu dem Zeitpunkt, als die US-Regierung Menschen vor aller Welt willkürlich verschleppte, folterte und inhaftierte, als Merkmal ausgemachter Diktaturen.
Mit der Übertragung derartiger Vollmachten an eine Länderpolizei würde ein Präzedenzfall geschaffen, der Schule machen dürfte. Das zeigt bereits eine parallele Entwicklung im grünschwarz regierten Baden-Württemberg und ist bei auf Länderebene beschlossenen Verschärfungen staatlicher Repression ohnehin fast die Regel. Da der künftige Bundesinnenminister Horst Seehofer heißen wird, sind entsprechende Schritte auch unter seiner Zuständigkeit zu erwarten. Intelligente Videoüberwachung, mehr Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Polizei, mehr Überwachung bei der Abwehr von Terrorismus und Extremismus auch ohne unmittelbaren Gewaltbezug durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Vereinheitlichung föderaler Sicherheitsstrukturen durch die Erarbeitung eines Musterpolizeigesetzes sind einige unter der Überschrift "Ein handlungsfähiger und starker Staat für eine freie Gesellschaft" dem Koalitionsvertrag zu entnehmende Projekte. Relevant für politische Prozesse ist auch die Absicht, angeblich mißbräuchliche Befangenheits- und Beweisanträge vor Gericht einfacher ablehnen und die erweiterte, die Farbe der Haare, Augen und Haut eines Probanden enthüllende DNA-Analyse bundesweit verwenden zu können.
Maßnahmen der Liberalisierung oder des Zurückfahrens von Überwachungs- und Strafrechtsverschärfungen sucht man im Koalitionsvertrag vergebens. In Anbetracht der Kriminalisierung politischer Gruppen unter dem Titel eines Vereinsverbotes, wie im Fall von Indymedia linksunten geschehen [6], als auch der Strafverfolgung der migrantischen Linken ohne Inlandsbezug, wie im Fall von Musa Asoglu und anderer türkischer wie kurdischer AktivistInnen, besteht über den Widerstand gegen die Repression beim G20-Gipfel und in seiner Folge hinaus viel Anlaß zu Antirepressionsarbeit. Neben regelmäßigen Kundgebungen zu den jeweiligen Verhandlungsterminen vor den Gerichten, an denen gegen G20-Gefangene verhandelt wird, bietet sich, wie die United We Stand-AktivistInnen ankündigten, dazu am 17. März die Gelegenheit, in Hamburg an einer großen Antirepressions-Demo [7] teilzunehmen. Sie findet unter dem Motto "United we stand! Gemeinsam gegen Repression und autoritäre Formierung!" am Vortag zum 18. März, dem Tag der politischen Gefangenen, statt und soll vor allem, aber nicht nur der Solidarität mit den G20-Gefangenen gewidmet sein.
Öffentlichkeitsarbeit sei um so wichtiger, betonten die AktivistInnen, da es seit 15 bis 20 Jahren keine liberale Öffentlichkeit mehr gebe, die sich aus prinzipiellen Gründen gegen den Abbau demokratischer Grundrechte stellt. Dies müsse durch die linke Bewegung aufgefangen werden, wiewohl diese selbst nicht stärker wird. Die Frage, wie man wieder eigene Themen setzen und linksliberale Kritik in der Gesellschaft wiederbeleben könne, betrifft denn auch das grundsätzliche Dilemma einer Vergesellschaftung, die so sehr dem Marktprimat unterliegt, daß sozialdarwinistischer Konkurrenz weit mehr Vorschub geleistet wird als emanzipatorischen Zielen. Zu bedenken gaben die AktivistInnen auch, daß die Frage, wie mit der Repression nach den G20-Protesten umzugehen sei, bei der Mobilisierung zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Daß die Verteidigung verbliebener Handlungsmöglichkeiten und Freiräume in Anbetracht zunehmender Unterdrückung sozialer und insbesondere linker Bewegungen eine naheliegende Option darstellt, könnte Analyse und Kritik der Auswirkungen kapitalistischen Krisenmanagements auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft regelrecht beflügeln.
Hamburger Untersuchungsgefängnis
Entgrenzte Staatlichkeit, eingemauerte Wirklichkeit
Auf der Internationalen Konferenz des Freiheitskomitees für Musa Asoglu wurden Fragen zur Bedeutung einer Staatlichkeit aufgeworfen, die, indem sie politische Gefangene produziert, ihren Anspruch an demokratische Werte und rechtstaatliche Verfahren konterkariert. So greift die Bundesrepublik, indem ihre Strafverfolgungsbehörden zur gewaltsamen Durchsetzung der Politik des Erdogan-Regimes gegen die türkische und kurdische Linke beitragen, auf der Seite Ankaras in die sozialen Konflikte der Türkei ein. Sie leistet sich ein politisch bestimmtes Strafrecht, das außenpolitischen Interessen unterworfen ist und die Rechtsbindung der Justiz ad absurdum führt. Sie führt im Rahmen der EU Terrorlisten, die die davon betroffenen Personen und Organisationen aufgrund undurchsichtiger geheimdienstlicher Informationen und ohne Einschaltung von Gerichten grundlegender Rechte enthebt. Sie liefert politische Gefangene an die USA aus, deren Behörden insbesondere im Bereich der Terrorismusbekämpfung rigideste Formen der Bestrafung praktizieren.
Herrschaftstechnisch betrachtet maßt sich der Staat mit der Auflösung konventioneller Strafrechtsnormen durch die Präventiv- und Kollektivverfahren der Terrorismusbekämpfung eine Form von Souveränität an, die den nominellen Anspruch der Volkssouveränität auf den Kopf stellt. Etabliert wird eine administrative Verfahrenslogik, die den Primat des Marktes und seine bevölkerungspolitische Regulation zeitnah und zugriffseffizient durchsetzt. Was im Bekenntnis zu dieser Staatsmacht nicht aufgeht, wie etwa die Opposition gegen den G20-Gipfel, stellt sich außerhalb der herrschenden Ordnung und hat damit seinen Anspruch auf legale Teilhabe verwirkt. Die Anwendung des Landfriedensparagraphen gegen Aktivisten wie Fabio und andere, die wegen ihrer bloße Anwesenheit auf einer Demonstration mit bis zu zehn Jahren Haft bedroht werden, ist Ausdruck des politischen Charakters einer Justiz, die nichts dem Zufall oder besseren Argumenten der Beklagten überlassen will.
Während die Grenzen Deutschlands und der EU nach außen abgeschottet werden und bei der Abwehr flüchtender Menschen zu Selektionsinstrumenten mutieren, werden sie von innen heraus mit militärischen, ökonomischen und rechtlichen Mitteln nach Belieben überschritten, um die Interessen eigener Unternehmen und Investoren durchzusetzen. In der Totalität eines globaladministrativen Anspruchs, wie ihn vor allem die US-Regierung erhebt, gibt es gar kein Außen mehr, gegen das man sich zu verteidigen hätte. In der waffentechnischen Full Spectrum Dominance der US-Streitkräfte und der erklärten Absicht, überall in der Welt Menschen per Knopfdruck durch Drohnenangriffe hinrichten zu können, tritt der rechtliche Ausnahmezustand in Reinkultur hervor. Der Imperialismus Deutschlands und der EU ist zwar noch nicht ganz so weit, zieht aber nicht minder die Kommandogewalt über Menschen und Ressourcen auf allen Erdteilen an sich.
Sich in seinen expansiven Interessen nicht auf den eigenen Nationalstaat beschränken zu müssen, diesen aber zugleich zur Festung eigener Hegemonie und Zentrale industrieller wie finanzieller Weltmarktdominanz zu machen, um in der globalen Krisenkonkurrenz bestehen zu können, ist kein Widerspruch in sich, sondern Ausdruck des Versuches, Krisenmanagement und Global Governance unter einen Hut mit der Stabilisierung innerer Verhältnisse zu bringen. Daß dies nicht mit Garantien des bürgerlichen Rechtsstaates vereinbar ist, mit Hilfe derer die immanenten Widersprüche angegriffen werden könnten, liegt auf der Hand. Eine Strafnorm wie der Paragraph 129b, der die Zugehörigkeit zu einer Organisation kriminalisiert, die aus Gründen verboten wurde, die nichts mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik zu tun haben, und die darüberhinaus bloße Zugehörigkeit und Gesinnung bestraft, sind Ausdruck des entgrenzten Zugriffes staatlicher Exekutiven auf eine Welt, die weiterhin in imperialistischer Manier bewirtschaftet werden soll.
Die Proteste gegen den G20-Gipfel waren auch gegen die Beliebigkeit und Willkür gerichtet, mit der Staaten Grenzen zum Mittel ihrer Machtprojektion und Interessenpolitik machen. Die Bekämpfung sozialer Bewegungen, wie etwa mit Einreiseverboten vor dem G20-Gipfel vollzogen, nimmt mit diesen transnational durchgesetzten Formen der Kontrolle, Überwachung und Restriktion die Konturen einer globaladministrativen Exekutive an. Darin, antikapitalistische Proteste und antiimperialistische Bewegungen zu unterdrücken, sind sich die Regierungen der G20-Staaten allemal einig.
Einschüchterung und Abschreckung sind nicht die einzigen Auswirkungen massiver Repression auf Menschen, die sich mit den herrschenden Bedingungen nicht zufriedengeben und eine andere Welt erkämpfen wollen. Ihnen wird auf diese Weise auch etwas über die Triftigkeit ihres Verdachtes mitgeteilt, in kapitalistischen Gesellschaften zugleich offenkundigen wie unterschwelligen Gewaltverhältnissen ausgesetzt zu sein. In der Anwendung physischer Zwangsmittel tritt der kapitalistische Staat auf eine Weise in Erscheinung, von der viele Menschen lieber nichts wissen wollen, mit denen sie aber dennoch konfrontiert werden können, wenn sie sozial absteigen oder die politischen Verhältnisse sich ändern. Sich im Vorwege damit auseinanderzusetzen, daß Reichtum und Privilegien stets auf dem Rücken anderer erwirtschaftet werden und die soziale Hackordnung in ihrer Grausamkeit tödlich sein kann, könnte auch dazu führen, staatliche Zwangsverhältnisse zu antizipieren, bevor ihre überwältigende Qualität nicht mehr zu kontern ist.
Fußnoten:
[1] Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats. Demokratie im Ausnahmezustand. Zürich 2005, S. 225
[2] http://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-cdu-sonderparteitag-eine-partei-im-umbruch.724.de.html?dram:article_id=411651
[3] https://www.youtube.com/watch?v=eBWNqPMSCZQ
[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0300.html
[5] https://www.kujus-strafverteidigung.de/blog/die-neuregelung-des-§-113-stgb/#Die_neue_Gesetzesfassung_ab_dem_30052017
[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0298.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0299.html
[7] http://www.18maerz.de/web/index.php/component/eventlist/details/15136-united-we-stand-gemeinsam-gegen-repression-und-autoritaere-formierung
Berichte und Interviews zur Konferenz "Freiheit für Musa Asoglu" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT
BERICHT/306: Politische Gefangenschaft - gegen wirkliche Kritik ... (SB)
BERICHT/305: Politische Gefangenschaft - am Beispiel Musa Asoglu ... (SB)
INTERVIEW/398: Politische Gefangenschaft - ungleich im Namen des Rechts ... Apo im Gespräch (SB)
2. März 2018
Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT
Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats [1]
Warum ist die solidarische Unterstützung politischer Gefangener auch für den Fall, daß sie eine revolutionäre Strömung repräsentieren, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen mag, unerläßlich? Weil sich politische Arbeit ohne den Unterbau verläßlicher Strukturen, die auch die weniger erfreulichen Aufgaben des gemeinsamen Kämpfens erfüllen, nicht wirksam entfalten kann. Weil die Auseinandersetzung um gesellschaftliche Hegemonie und die Entwicklung eines Klassenbewußtseins, daß sich nicht mit den Häppchen sozialdemokratischer Umverteilung zufriedengibt, auf die Überwindung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse abzielt, die alle Menschen ihrer Deutungs- und Handlungsmacht unterwerfen. Weil der Umbau des bürgerlichen Rechtsstaats in einen autoritären Sicherheitsstaat die Freiheit aller bedroht. Und nicht zuletzt ... weil tätige Solidarität ein bereits verwirklichtes Stück jener Zukunft einer nicht in Isolation und Konkurrenz, in Not und Gewalt zerfallenen Gesellschaft darstellt, die zu verwirklichen das Ziel emanzipatorischer und revolutionärer Kräfte ist.
28 Jahre nach der Implosion der realsozialistischen Staatenwelt und dem Anschluß der DDR an die BRD befindet sich die verbliebene linke Opposition und Bewegung hierzulande in einer Schwächephase, in der sie Gefahr läuft, in einer Abwärtspirale aus Resignation und Regression jede politische Bedeutung zu verlieren. Den reaktionären Geist der Zeit brachte unlängst der kommende Mann der CDU, Jens Spahn, auf den Punkt eines Triumphes, der AfD und Konsorten Lügen straft, wenn sie nach wie vor eine linke Hegemonie in Kultur und Gesellschaft beklagen: "Dieses Land ist so wenig links wie lange nicht. (...) Dieses Multi-Kulti, 'alles-ist-doch-irgendwie-egal' der Achtundsechziger, das ist durch. Das haben die Menschen satt!" [2]
Die neue Hegemonie nationalistischer und sozialchauvinistischer Imperative zeigt sich auch in der massenmedial propagierten Zustimmung zu einer Politik der politischen Repression, mit der die gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg gerichteten Proteste im Nachhinein diskreditiert und kriminalisiert werden. Die dabei angewendeten Mittel der Strafverfolgung von AktivistInnen, denen keine Gewalttat angelastet werden kann und die dennoch monatelang in Untersuchungshaft bleiben müssen, der Verhängung langer Zeitstrafen für geringfügige Delikte, der öffentlichen Anprangerung von DemonstrantInnen im Internet und in Zeitungen, während die vielen Fälle belegter Polizeibrutalität ausgeblendet werden - all das geht weit über das Statuieren eines bloßen Exempels hinaus, mit dem die Proteste gegen den G20-Gipfel delegitimiert werden sollen.
In Hamburg versucht der Staat sich mit Mitteln durchzusetzen, die den klassischen rechtstaatlichen Anspruch, lediglich zu bestrafen, was sich juristisch als Vergehen beweisen läßt, zugunsten administrativer Ausnahmeverfahren fallenläßt. Wesentliches Merkmal dessen ist das zusehends autonome Vorgehen der Polizei. Ihr wird mit dem politischen Auftrag präventiver Unterdrückung sozialer Proteste und der Verfolgung virtueller Straftaten wie derjenigen, sich in einer Masse angeblich gewaltbereiter DemonstrantInnen befunden oder Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte schon durch den Versuch, sich ihrem Zugriff zu entziehen, begangen zu haben, weitgehend freie Hand gelassen. Dies wiederum wird politisch gedeckt durch Stellungnahmen des SPD-Bürgermeisters Olaf Scholz, der sich jede Kritik an der Polizei verbietet und ihr Vorgehen rundheraus als korrekt und heldenhaft feiert.
Schon im Vorfeld der G20-Proteste wurden Bedrohungsszenarios aufgebaut, die sich nach der massiven Anwendung von Polizeigewalt in selbsterfüllende Prophezeiungen zu verwandeln schienen. Der präventive Charakter des Vollzuges exekutiver Gewalt und die Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens durch Politik, Medien und Justiz zeigen, wie weit die Kriminalisierung des sozialen und politischen Kampfes bereits gediehen ist. An fast keiner Stelle fand eine öffentliche Debatte um das Für und Wider des Gipfels statt, die politischen Ziele der DemonstrantInnen wurden von den Medien kaum kommuniziert, anstelle dessen werden sie mit populistischer Demagogie als Kriminelle und Krawallmacher angeprangert. Das massive Auftreten von über 30.000 PolizistInnen, der bereitwillige Vollzug exekutiver Interessen durch die Gerichte und die ungebrochene Karriere des hauptverantwortlichen Politikers Olaf Scholz lassen erkennen, wie hoch die Schwelle wirksamer außerparlamentarischer Intervention inzwischen gelegt wurde.
Um zu erfahren, wie im Schutze des staatlichen Gewaltmonopols Tatsachen geschaffen wurden, die vom willkürlichen Entzug bürgerlicher Freiheiten wie dem des Versammlungsrechtes bis zur aktiven Gewaltanwendung und erniedrigenden Behandlung von DemonstrantInnen reichen, ohne daß diese verfassungsrechtlich zumindest fragwürdigen Vorgehensweisen der Polizei bislang juristische oder disziplinatorische Konsequenzen gehabt hätten, muß auf unabhängige und alternative Medien zurückgegriffen werden. So lassen die Anwältinnen Ulrike Donat und Gabriele Heinecke in der halbstündigen Videodokumentation "Aussage gegen Aussage" [3] diverse frappante Übergriffe und Manipulationen der Polizei Revue passieren. Was hier mit stichhaltigen rechtlichen Argumenten beanstandet wird, läßt in der Massivität der Durchsetzung staatlicher Direktiven zur Unterdrückung der G20-Proteste erkennen, wie sehr sich Menschen in der Defensive befinden, wenn sie sich nur auf Recht und Gesetz berufen. Zwar wird versucht, die Gerichte einzuschalten, doch macht die materielle wie institutionelle Übermacht des Staates als auch der ideologische Gegenwind, der den G20-GegnerInnen in Gesicht bläst, dies zu einem äußerst mühsamen und bestenfalls langfristig erfolgreichen Unterfangen [4].
Um wieder in die Offensive legitimer Gesellschaftsveränderung zu kommen und die Behauptung des Staates, das Politische sei allein auf dem Verhandlungsweg zu verwirklichen, was alle anderen Mittel der Willensbekundung für illegal erklärt, als ahistorische und zweckrationale Suggestion zu entlarven, empfiehlt sich, ein Blick auf die politischen Beweggründe anwachsender Repression zu werfen. So muß kein Aufstand stattfinden, um den Aufbau einer schwerbewaffneten Aufstandsbekämpfung voranzutreiben. Um auch in Zukunft sicherzustellen, daß die Marktsubjekte an nichts anderes denken als arbeiten und einkaufen, wird der Möglichkeit vorgegriffen, daß es anders kommen könnte. Die auf breiter Ebene vollzogene Verlagerung polizeilicher Eingriffsgewalt in den Bereich der Prävention, sprich Kriminalisierung nicht erfolgter Straftaten, und die Verpolizeilichung des Strafrechts durch die Übertragung der Judikative zugehöriger Kompetenzen an die Exekutivorgane sind Entwicklungen, die von einer qualitativen Veränderung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft künden. Vorvollzogen wurde dies im Bereich der Antiterror-Maßnahmen, die als zentrale Begründung für die Beseitigung grundrechtlichen Freiheitsschutzes wie etwa des Trennungsgebotes von Polizei und Geheimdiensten, des Verbotes von Kollektivstrafen und Gesinnungsjustiz oder der Gewährleistung von vertraulicher Kommunikation fungieren.
Gegen die Unterdrückung sozialen Protests und Widerstands
Auf der Internationalen Konferenz, zu der das Freiheitskomitee für Musa Asoglu am 10. und 11. Februar ins Hamburger Centro Sociale geladen hatte, waren auch zwei AktivistInnen von United We Stand, der Solidaritätskampagne für die G20-Gefangenen, zugegen. Sie berichteten vor allem über aktuelle Strafrechtsverschärfungen wie die unmittelbar vor dem G20-Gipfel in Kraft getretene Neuregelung der Paragraphen 113 StGB "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" und 114 StGB "Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte". Letzteres wird seitdem mit einer obligatorischen Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten geahndet, wobei der Sachverhalt eines tätlichen Angriffes schon bei einer versuchten Körperverletzung erfüllt ist, die ohne physische Folgen bleibt. Einem tätlichen Angriff auf Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr muß keine Vollstreckungshandlung mehr vorausgehen, es reicht nun aus, wenn sie gerade eine Diensthandlung vollziehen, sprich sich im Dienst befinden.
Hier ist im konkreten Fall einer Auseinandersetzung während einer Demonstration viel vorstellbar, das Menschen in den Knast bringen kann, die in keiner Weise die Absicht hatten, jemanden körperlich zu attackieren. Der Strafrahmen zwischen drei Monaten und fünf Jahren könnte viele Menschen davon abhalten, sich überhaupt an Protesten zu beteiligen, wenn auch nur die vage Chance besteht, auf folgenschwere Weise mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. So wird das bloße Mitführen einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeuges als besonders schwerer Fall mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten geahndet. Die zuvor noch nachzuweisende Bedingung, den Schlagstock oder das Pfefferspray verwenden zu wollen, entfällt. Ein besonders schwerer Fall liegt auch bei einer gemeinschaftlich begangenen Tat vor, was die Bestrafung kollektiver Formen der Organisation und der bloßen Zugehörigkeit begünstigt. Gleiches gilt für die Verschärfung des Landfriedensbruches. Dieser Straftatbestand ist von vornherein auf Menschenmengen zugeschnitten, deren TeilnehmerInnen sich schon strafbar machen können, wenn einige von ihnen Drohungen ausstoßen. Der Strafrahmen beträgt mindestens sechs Monate bis maximal zehn Jahre Haft.
Die Strafbarkeit des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ist bereits, wie aus einer Analyse [5] des Strafrechtsexperten Tommy Kujus hervorgeht, umfassend durch andere Paragraphen des Strafgesetzbuches gewährleistet. Vor dem Hintergrund des aggressiven Vorgehens der Polizei gegen die G20-GegnerInnen drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es im Kern darum geht, die Wirksamkeit sozialen Widerstands so zu schwächen, daß am Ende nur symbolpolitische Inszenierungen bürgerlichen Dissenses bleiben, die sich problemlos in die Tasche derjenigen wirtschaften lassen, die ihre Interessen in dieser Gesellschaft so oder so durchsetzen.
Auch das jüngst erweiterte Installieren staatlicher Spionagesoftware auf Computern und mobilen Endgeräten zur Überwachung von Kommunikation, die ansonsten durch Verschlüsselung gegen das Mitlesen Dritter geschützt wären, ist eine Folge von Antiterror-Maßnahmen. Wie so häufig war die Anwendung auch dieses weitreichenden Überwachungsinstrumentes, das sich Sicherheitslücken zunutze macht, um in fremde Rechner einzudringen, anfangs mit hohen Auflagen versehen und wurde nur für die Prävention terroristischer Anschläge eingesetzt. Jetzt können mit dem sogenannten Staatstrojaner auch Mobiltelefone und Computer von Menschen gehackt werden, die nicht im Verdacht stehen, Terroristen zu sein. Da das soziale und geschäftliche Leben auf den Smartphones vieler Menschen wie ein offenes Buch ausgebreitet ist und zudem alle Aktivitäten der Betroffenen in Echtzeit mitverfolgt werden können, dürfte sich dieses Ermittlungs- und Überwachungsinstrument beim BKA und in Zukunft womöglich auch anderen Polizeibehörden wachsender Beliebtheit erfreuen.
Die gar nicht so schleichend vonstatten gehende Verabschiedung des bürgerlichen Rechtstaates kann derzeit, wie von den United We Stand-AktivistInnen berichtet, im Freistaat Bayern bezeugt werden. Dort ist ein Polizeiaufgabengesetz in Arbeit, dessen Maßnahmenkatalog ausschließlich präventiven Zwecken dient und dabei so weitreichend ist, daß mehr als nur Kriminalität, nämlich politischer Protest jeder Art, verhindert wird. So soll die Polizei freie Hand beim Abfilmen von Demonstrationen bekommen und dabei auch Programme einsetzen dürfen, die mit Algorithmen zur Identifikation von personenspezifischen Bewegungsmustern und verdächtigem Verhalten ausgestattet sind. Hinzu soll die Vollmacht kommen, auf fremde Datenspeicher zuzugreifen inklusive auf die in der Cloud gespeicherten Informationen.
Von besonderem Interesse ist die geplante Erlaubnis, bei zu erwartender Gefährdung von Personen oder Sachen künftig Daten in fremden Speichern löschen oder verändern zu können. Zudem soll die Polizei Kommunikationsverbindungen für Sprache oder Daten präventiv kappen dürfen. Auch die alte Briefpost wird nicht ausgespart, sie soll im Falle besonderen Handlungsnotstandes ohne richterliche Genehmigung beschlagnahmt werden können. Die Weitergabe auf diese Weise erlangter Informationen an Geheimdienste in In- und Ausland soll erleichtert werden, was immer auch die Möglichkeit beinhaltet, bei Auslandsreisen unverhofft verhaftet zu werden. Künftig sollen bayerische PolizistInnen falsche Identitäten benutzen können, um im Internet als Verdeckte Ermittler zu arbeiten. Die Administrativhaft für sogenannte Gefährder muß zwar alle drei Monate erneuert werden, das aber womöglich ohne Ende. Guantanamo in Bayern - unbefristete Freiheitsberaubung aufgrund bloßer Mutmaßungen galt bis zu dem Zeitpunkt, als die US-Regierung Menschen vor aller Welt willkürlich verschleppte, folterte und inhaftierte, als Merkmal ausgemachter Diktaturen.
Mit der Übertragung derartiger Vollmachten an eine Länderpolizei würde ein Präzedenzfall geschaffen, der Schule machen dürfte. Das zeigt bereits eine parallele Entwicklung im grünschwarz regierten Baden-Württemberg und ist bei auf Länderebene beschlossenen Verschärfungen staatlicher Repression ohnehin fast die Regel. Da der künftige Bundesinnenminister Horst Seehofer heißen wird, sind entsprechende Schritte auch unter seiner Zuständigkeit zu erwarten. Intelligente Videoüberwachung, mehr Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Polizei, mehr Überwachung bei der Abwehr von Terrorismus und Extremismus auch ohne unmittelbaren Gewaltbezug durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Vereinheitlichung föderaler Sicherheitsstrukturen durch die Erarbeitung eines Musterpolizeigesetzes sind einige unter der Überschrift "Ein handlungsfähiger und starker Staat für eine freie Gesellschaft" dem Koalitionsvertrag zu entnehmende Projekte. Relevant für politische Prozesse ist auch die Absicht, angeblich mißbräuchliche Befangenheits- und Beweisanträge vor Gericht einfacher ablehnen und die erweiterte, die Farbe der Haare, Augen und Haut eines Probanden enthüllende DNA-Analyse bundesweit verwenden zu können.
Maßnahmen der Liberalisierung oder des Zurückfahrens von Überwachungs- und Strafrechtsverschärfungen sucht man im Koalitionsvertrag vergebens. In Anbetracht der Kriminalisierung politischer Gruppen unter dem Titel eines Vereinsverbotes, wie im Fall von Indymedia linksunten geschehen [6], als auch der Strafverfolgung der migrantischen Linken ohne Inlandsbezug, wie im Fall von Musa Asoglu und anderer türkischer wie kurdischer AktivistInnen, besteht über den Widerstand gegen die Repression beim G20-Gipfel und in seiner Folge hinaus viel Anlaß zu Antirepressionsarbeit. Neben regelmäßigen Kundgebungen zu den jeweiligen Verhandlungsterminen vor den Gerichten, an denen gegen G20-Gefangene verhandelt wird, bietet sich, wie die United We Stand-AktivistInnen ankündigten, dazu am 17. März die Gelegenheit, in Hamburg an einer großen Antirepressions-Demo [7] teilzunehmen. Sie findet unter dem Motto "United we stand! Gemeinsam gegen Repression und autoritäre Formierung!" am Vortag zum 18. März, dem Tag der politischen Gefangenen, statt und soll vor allem, aber nicht nur der Solidarität mit den G20-Gefangenen gewidmet sein.
Öffentlichkeitsarbeit sei um so wichtiger, betonten die AktivistInnen, da es seit 15 bis 20 Jahren keine liberale Öffentlichkeit mehr gebe, die sich aus prinzipiellen Gründen gegen den Abbau demokratischer Grundrechte stellt. Dies müsse durch die linke Bewegung aufgefangen werden, wiewohl diese selbst nicht stärker wird. Die Frage, wie man wieder eigene Themen setzen und linksliberale Kritik in der Gesellschaft wiederbeleben könne, betrifft denn auch das grundsätzliche Dilemma einer Vergesellschaftung, die so sehr dem Marktprimat unterliegt, daß sozialdarwinistischer Konkurrenz weit mehr Vorschub geleistet wird als emanzipatorischen Zielen. Zu bedenken gaben die AktivistInnen auch, daß die Frage, wie mit der Repression nach den G20-Protesten umzugehen sei, bei der Mobilisierung zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Daß die Verteidigung verbliebener Handlungsmöglichkeiten und Freiräume in Anbetracht zunehmender Unterdrückung sozialer und insbesondere linker Bewegungen eine naheliegende Option darstellt, könnte Analyse und Kritik der Auswirkungen kapitalistischen Krisenmanagements auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft regelrecht beflügeln.
Hamburger Untersuchungsgefängnis
Entgrenzte Staatlichkeit, eingemauerte Wirklichkeit
Auf der Internationalen Konferenz des Freiheitskomitees für Musa Asoglu wurden Fragen zur Bedeutung einer Staatlichkeit aufgeworfen, die, indem sie politische Gefangene produziert, ihren Anspruch an demokratische Werte und rechtstaatliche Verfahren konterkariert. So greift die Bundesrepublik, indem ihre Strafverfolgungsbehörden zur gewaltsamen Durchsetzung der Politik des Erdogan-Regimes gegen die türkische und kurdische Linke beitragen, auf der Seite Ankaras in die sozialen Konflikte der Türkei ein. Sie leistet sich ein politisch bestimmtes Strafrecht, das außenpolitischen Interessen unterworfen ist und die Rechtsbindung der Justiz ad absurdum führt. Sie führt im Rahmen der EU Terrorlisten, die die davon betroffenen Personen und Organisationen aufgrund undurchsichtiger geheimdienstlicher Informationen und ohne Einschaltung von Gerichten grundlegender Rechte enthebt. Sie liefert politische Gefangene an die USA aus, deren Behörden insbesondere im Bereich der Terrorismusbekämpfung rigideste Formen der Bestrafung praktizieren.
Herrschaftstechnisch betrachtet maßt sich der Staat mit der Auflösung konventioneller Strafrechtsnormen durch die Präventiv- und Kollektivverfahren der Terrorismusbekämpfung eine Form von Souveränität an, die den nominellen Anspruch der Volkssouveränität auf den Kopf stellt. Etabliert wird eine administrative Verfahrenslogik, die den Primat des Marktes und seine bevölkerungspolitische Regulation zeitnah und zugriffseffizient durchsetzt. Was im Bekenntnis zu dieser Staatsmacht nicht aufgeht, wie etwa die Opposition gegen den G20-Gipfel, stellt sich außerhalb der herrschenden Ordnung und hat damit seinen Anspruch auf legale Teilhabe verwirkt. Die Anwendung des Landfriedensparagraphen gegen Aktivisten wie Fabio und andere, die wegen ihrer bloße Anwesenheit auf einer Demonstration mit bis zu zehn Jahren Haft bedroht werden, ist Ausdruck des politischen Charakters einer Justiz, die nichts dem Zufall oder besseren Argumenten der Beklagten überlassen will.
Während die Grenzen Deutschlands und der EU nach außen abgeschottet werden und bei der Abwehr flüchtender Menschen zu Selektionsinstrumenten mutieren, werden sie von innen heraus mit militärischen, ökonomischen und rechtlichen Mitteln nach Belieben überschritten, um die Interessen eigener Unternehmen und Investoren durchzusetzen. In der Totalität eines globaladministrativen Anspruchs, wie ihn vor allem die US-Regierung erhebt, gibt es gar kein Außen mehr, gegen das man sich zu verteidigen hätte. In der waffentechnischen Full Spectrum Dominance der US-Streitkräfte und der erklärten Absicht, überall in der Welt Menschen per Knopfdruck durch Drohnenangriffe hinrichten zu können, tritt der rechtliche Ausnahmezustand in Reinkultur hervor. Der Imperialismus Deutschlands und der EU ist zwar noch nicht ganz so weit, zieht aber nicht minder die Kommandogewalt über Menschen und Ressourcen auf allen Erdteilen an sich.
Sich in seinen expansiven Interessen nicht auf den eigenen Nationalstaat beschränken zu müssen, diesen aber zugleich zur Festung eigener Hegemonie und Zentrale industrieller wie finanzieller Weltmarktdominanz zu machen, um in der globalen Krisenkonkurrenz bestehen zu können, ist kein Widerspruch in sich, sondern Ausdruck des Versuches, Krisenmanagement und Global Governance unter einen Hut mit der Stabilisierung innerer Verhältnisse zu bringen. Daß dies nicht mit Garantien des bürgerlichen Rechtsstaates vereinbar ist, mit Hilfe derer die immanenten Widersprüche angegriffen werden könnten, liegt auf der Hand. Eine Strafnorm wie der Paragraph 129b, der die Zugehörigkeit zu einer Organisation kriminalisiert, die aus Gründen verboten wurde, die nichts mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik zu tun haben, und die darüberhinaus bloße Zugehörigkeit und Gesinnung bestraft, sind Ausdruck des entgrenzten Zugriffes staatlicher Exekutiven auf eine Welt, die weiterhin in imperialistischer Manier bewirtschaftet werden soll.
Die Proteste gegen den G20-Gipfel waren auch gegen die Beliebigkeit und Willkür gerichtet, mit der Staaten Grenzen zum Mittel ihrer Machtprojektion und Interessenpolitik machen. Die Bekämpfung sozialer Bewegungen, wie etwa mit Einreiseverboten vor dem G20-Gipfel vollzogen, nimmt mit diesen transnational durchgesetzten Formen der Kontrolle, Überwachung und Restriktion die Konturen einer globaladministrativen Exekutive an. Darin, antikapitalistische Proteste und antiimperialistische Bewegungen zu unterdrücken, sind sich die Regierungen der G20-Staaten allemal einig.
Einschüchterung und Abschreckung sind nicht die einzigen Auswirkungen massiver Repression auf Menschen, die sich mit den herrschenden Bedingungen nicht zufriedengeben und eine andere Welt erkämpfen wollen. Ihnen wird auf diese Weise auch etwas über die Triftigkeit ihres Verdachtes mitgeteilt, in kapitalistischen Gesellschaften zugleich offenkundigen wie unterschwelligen Gewaltverhältnissen ausgesetzt zu sein. In der Anwendung physischer Zwangsmittel tritt der kapitalistische Staat auf eine Weise in Erscheinung, von der viele Menschen lieber nichts wissen wollen, mit denen sie aber dennoch konfrontiert werden können, wenn sie sozial absteigen oder die politischen Verhältnisse sich ändern. Sich im Vorwege damit auseinanderzusetzen, daß Reichtum und Privilegien stets auf dem Rücken anderer erwirtschaftet werden und die soziale Hackordnung in ihrer Grausamkeit tödlich sein kann, könnte auch dazu führen, staatliche Zwangsverhältnisse zu antizipieren, bevor ihre überwältigende Qualität nicht mehr zu kontern ist.
Fußnoten:
[1] Jean-Claude Paye: Das Ende des Rechtsstaats. Demokratie im Ausnahmezustand. Zürich 2005, S. 225
[2] http://www.deutschlandfunk.de/vor-dem-cdu-sonderparteitag-eine-partei-im-umbruch.724.de.html?dram:article_id=411651
[3] https://www.youtube.com/watch?v=eBWNqPMSCZQ
[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0300.html
[5] https://www.kujus-strafverteidigung.de/blog/die-neuregelung-des-§-113-stgb/#Die_neue_Gesetzesfassung_ab_dem_30052017
[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0298.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0299.html
[7] http://www.18maerz.de/web/index.php/component/eventlist/details/15136-united-we-stand-gemeinsam-gegen-repression-und-autoritaere-formierung
Berichte und Interviews zur Konferenz "Freiheit für Musa Asoglu" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT
BERICHT/306: Politische Gefangenschaft - gegen wirkliche Kritik ... (SB)
BERICHT/305: Politische Gefangenschaft - am Beispiel Musa Asoglu ... (SB)
INTERVIEW/398: Politische Gefangenschaft - ungleich im Namen des Rechts ... Apo im Gespräch (SB)
2. März 2018
Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REPORT
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