Sonntag, 15. Juli 2012
Unbestimmt in den Syrien-Krieg?
IMI-Standpunkt 2012/033
Rückendeckung der NATO für die türkische Eskalationsstrategie
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 27. Juni 2012
Nach Angaben aus Ankara ist das türkische Kampflugzeug F-4 Phantom mit einer Flughöhe von 60 Metern in den syrischen Luftraum eingedrungen und kurz darauf, 1.6km außerhalb des syrischen Luftraums über internationalen Gewässern abgeschossen worden. Anderen Berichten zur Folge wurden in dieser Distanz Wrackteile im Meer gefunden.
Welt.de bezeichnete die Reaktion der Türkei als „zunächst zurückhaltend“ erst nach Telefonaten des türkischen Außenministers Davutoglu mit seinen Verbündeten in Europa, den USA und auf der Arabischen Halbinsel – darunter auch Guido Westerwelle und die EU-Außenbeauftragte Ashton – habe sich der Ton deutlich verschärft (1). Die Türkei wandte sich an die NATO und die Vereinten Nationen, gegenüber den UN stufte sie den Vorfall als „ernste Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region“ ein – eine Übernahme dieser Einschätzung durch die UN wäre die formale Voraussetzung eines Mandates nach Kap. VII der UN-Charta dar. Bei der Einberufung des Nordatlantikrates war von türkischer Seite zwischenzeitlich sogar von Artikel 5 des NATO-Vertrages die Rede, wonach ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat eine militärische Reaktion aller Mitgliedsstaaten auslöst. Tatsächlich fanden die Beratungen jedoch nach Maßgabe des Artikels 4 statt, der auf Antrag ein Treffen vorsieht, wenn Mitgliedsstaat seine Sicherheit bedroht sieht, der Verweis auf Artikel 5 wurde als Versprecher zurückgenommen.
Während der deutsche Außenminister Westerwelle vor dem Treffen des Nordatlantikrates einer militärischen Intervention eine erfreulich klare Absage erteilt hatte, kamen aus den USA und Großbritannien deutlich schärfere Töne. Diese haben sich letztendlich durchgesetzt. NATO-Generalsekretär Rasmussen erklärte zwar nach dem NATO-Gipfel, das Bündnis plane keine „Militäraktion“ gegen Syrien, zeigte sich aber besorgt und kündigte an, die NATO „verfolge die Entwicklung genau und mit großer Sorge“. Die dpa zitierte Rasmussen mit den Worten: „Sollte irgendetwas passieren, werden sich die Verbündeten mit der Entwicklung befassen. Wir beobachten die Lage genau. Und nötigenfalls werden wir beraten, was sonst getan werden könnte“ (2). In der offiziellen Erklärung zum Treffen des Nordatlantikrates wird außerdem darauf verwiesen, dass es sich hierbei um die „südöstliche Grenze der NATO“ handele und „die Sicherheit der Allianz unteilbar“ sei. „Wir stehen an der Seite der Türkei im Geiste einer starken Solidarität“, heißt es daran anschließend. Außerdem wird der Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs als „weiteres Beispiel für die Missachtung der internationalen Normen, des Friedens, der Sicherheit und des Menschenlebens durch das syrische Regime“ und als „inakzeptabel“ bewertet (3). Die Beteiligung der Türkei an der Destabilisierung Syriens durch die Duldung von Waffenlieferungen und Bereitstellung von Rückzugsräumen für die Freie Syrische Armee wird darin hingegen ebenso wenig gerügt, wie das Eindringen eines türkischen Kampfflugzeuges mit hoher Geschwindigkeit und niedriger Flughöhe in den syrischen Luftraum.
Derart bestätigt verschärfte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unmittelbar den Ton gegenüber Syrien, rief zum Sturz Assads auf und kündigte dabei Unterstützung „mit allen nötigen Mitteln“ an: „Die Türkei unterstützt das syrische Volk mit allen nötigen Mitteln, bis es von Unterdrückung, Massakern, diesem blutdürstigen Diktator und seiner Clique befreit ist“. Außerdem habe man die Einsatzregeln für die türkischen Soldaten geändert: „Jedes militärische Element, das sich von Syrien aus der türkischen Grenze nähert und ein Sicherheitsrisiko und eine Gefahr darstellt, wird als Bedrohung und als militärisches Ziel betrachtet“ (4). Von einer Überschreitung der Grenze, wie sie durch das türkische Kampfflugzeug erfolgte, ist dabei erst gar nicht mehr die Rede.
Mit ihrer Erklärung hat sich die NATO hinter diese doppelten Standards gestellt. Das ist weder ungewöhnlich noch überraschend, offenbart hier aber besonders deutlich die damit einhergehenden Gefahren. Während die völkerrechtswidrige Einmischung der Türkei in den syrischen Bürgerkrieg und das Eindringen in den syrischen Luftraum nicht gerügt wird, droht die NATO Syrien im Falle eines weiteren Zwischenfalls indirekt mit einer NATO-Intervention. Dass ein solcher Zwischenfall jedoch nahezu unausweichlich stattfinden wird, liegt angesichts der türkischen Drohungen auf der Hand. Letztlich hat die NATO der Türkei ein Recht eingeräumt, in syrisches Hoheitsgebiet einzudringen, während sie Syrien das Recht abspricht, sich hiergegen zu wehren. Der Truppenaufmarsch der Türkei an der syrischen Grenze wird nun verstärkt und ein weiterer Zwischenfall kann somit jederzeit provoziert und damit möglicherweise auch der Bündnisfall ausgerufen werden. Um genau solche Situationen zu verhindern, sind die Souveränitätsrechte von Staaten recht eindeutig geklärt worden. Die doppelten Standards und die vielfältigen Bemühungen der NATO-Staaten, diese Souveränitätsrechte durch Sanktionen, völkerrechtliche Pseudo-Normen wie die Schutzverantwortung, die Unterstützung bewaffneter Aufstände usw. zu unterlaufen, destabilisieren dieses System und erhöhen die Gefahr einer zwischenstaatlichen Eskalation und auch einer neuen Blockkonfrontation.
Dabei ist es schwer, die Triebfedern „der NATO“ einerseits und „der Türkei“ andererseits zu bestimmen. Ist es tatsächlich die Türkei, welche die NATO in einen Krieg zerren möchte oder ist es andererseits „die NATO“, welche die Türkei als Kettenhund vorausschickt, um einen Bündnisfall zu provozieren, wo offensichtlich kein Mandat des Sicherheitsrates möglich ist. Die markigen Sprüche, die bereits vor dem Gipfel aus London und Washington zu hören waren, lassen diese Vermutung zumindest zu. Zugleich jedoch ist es schwieriger denn je, überhaupt von „der NATO“ zu sprechen, denn das Bündnis entwickelt sich in seiner strategischen Unbestimmtheit immer mehr zu einer reinen militärischen Infrastruktur, die zwar nicht nach Belieben von einzelnen Mitgliedsstaaten aktiviert werden kann, deren Schwelle zum Eingreifen jedoch kontinuierlich sinkt. So wurde etwa auf dem vergangenen NATO-Gipfel die Intervention in Libyen trotz ihrer unklaren Zielsetzung und fatalen Ergebnisse als Erfolg und vorbildlich gepriesen und ein weiterer Ausbau des Systems flexibler Partnerschaften – insbesondere mit den Staaten des Golf-Kooperationsrates, die maßgeblich an der Destablilisierung Syriens beteiligt sind – angemahnt. In einer Analyse des Chicagoer Gipfeldokumentes durch die Informationsstelle Militarisierung wurde etwa darauf hingewiesen, dass die NATO jede ansatzweise Beschränkung auf die Bündnisverteidigung oder definierte Einflusszonen aufgegeben hat, zugleich auf jegliche Kriterien für eine Intervention verzichtet und ihre Protagonisten versuchen, sich jeglicher Kontrolle und Einhegung zu entledigen (5). Offensichtlich wird die Kritik an der strategischen Unbestimmtheit und der damit verbundenen Gefahren auch außerhalb antimilitaristischer Kreise geteilt. So zitierte die NDR-Sendung „Streitkräfte und Strategien“ in ihrer Ausgabe vom 16.6.2012 den ersten Chef des Planungsstabes im BMVg, Theo Sommer, mit der Feststellung: „seit 1989/90, seit der großen Zeitwende gleicht die Organisation einem Hammer, auf der Suche nach Nägeln. Ein Militärbündnis, das nicht mehr ganz genau weiß, oder noch nicht ganz genau wieder weiß, was denn seine Rolle ist oder sein soll.“ Zwar habe es seit 1989 „viele Interventionen der NATO gegeben – vom Balkan, über Afghanistan bis Libyen. Doch die meisten Eingriffe sind nicht erfolgreich gewesen“ (6).
Die offizielle Bilanz der NATO sieht freilich anders aus, hier wird jede Intervention mehr oder weniger als Erfolg verbucht. Das ist aber nur ein Grund, warum das Bündnis offenbar mehr denn je bereit ist, sich auf Abenteuer einzulassen. Ein weiterer besteht – das mag zunächst widersprüchlich klingen – darin, dass für die NATO selbst und ihre Mitglieder nicht viel auf dem Spiel steht. „Es gibt keine existenzielle Bedrohung. Und damit fällt die kittende Wirkung [der Bedrohung] zu einem guten Teil weg“, so Theo Sommer. Mehrere NATO-Staaten haben sich längst weitgehend aus Afghanistan verabschiedet, über den Balkan will die NATO gar nicht mehr sprechen und am Libyen-Krieg hat sich u.a. Deutschland nur marginal beteiligt. Es sind gerade die geringen Risiken für die Mitgliedstaaten, die Vetos gegen Interventionen zunehmend unwahrscheinlich machen, sodass Einsätzen im Zweifelsfalle allein deshalb zugestimmt wird, um die militärischen Fähigkeiten und die Partnerschaften weiter zu entwickeln. In Syrien jedoch sind die Risiken enorm, das Unterstrich der Abschuss des türkischen Kampfflugzeuges (wahrscheinlich durch eine russisches System zur Flugabwehr). Hoffentlich kann sich diese Erkenntnis noch in der NATO durchsetzen. Die jüngste Sitzung des Nordatlantikrates lässt jedoch anderes befürchten.
Anmerkungen:
(1) „Riskieren die Türken eine Intervention in Syrien?“, welt.de vom 24.6.2012.
(2) „Nato warnt Syrien – Abschuss von türkischem Flugzeug verurteilt“, dpa-Meldung vom 26.6.2012.
(3) NAC Statement on the shooting down of a Turkish aircraft by Syria, Pressemitteilung (85/2012) vom 26.6.2012.
(4) „Türkei will ‘militärisch’ auf weitere Aggression reagieren, faz.net vom 26.6.2012.
(5) Christoph Marischka: Weder „Smart“ noch „Defense“, sondern ein Wunschkonzert als Strategie, IMI-Analyse 2012/008 – in: AUSDRUCK (Juni 2012).
(6) NDR Sendemanuskript „Streitkräfte und Strategien“ vom 16.06.2012 (19.20-19.50 Uhr), abrufbar unter: http://www.ndr.de/info/programm/sendungen/streitkraefte_und_strategien/streitkraeftesendemanuskript359.pdf
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen