Montag, 16. Juli 2012
Sanktionen bei Hartz IV: unbedingt verfassungswidrig!
Isabel Erdem und Wolfgang Neškovic
Am 26. April 2012 hat eine Mehrheit der Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Deutschen Bundestags gegen die
Abschaffung von Leistungskürzungen bei Hartz IV und bei der Sozialhilfe gestimmt. Diese Mehrheit irrt. Sanktionen bei
Grundsicherungsleistungen sind verfassungswidrig. Sie verletzen das Recht auf Zusicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums, das sich aus der Menschenwürdegarantie selbst ergibt. Gemäß unserer Verfassung gelten bürgerli-
che Freiheiten und soziale Sicherheit gleichrangig neben- und miteinander. Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz lautet: «Die
Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat». Doch in der Praxis steht es schlecht um
unseren «Sozialstaat». Die Bedrohung geht vom Staat aus. Der Verfassungsbruch ist ständige Praxis der Jobcenter. Er ist
Gesetzestext. Auf Grundlage verfassungswidriger Normen im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) werden Hartz IV-Emp-
fängerinnen und Hartz IV-Empfängern bis zu 100 Prozent des ohnehin kaum ausreichenden Regelbedarfs und der Kosten
für Unterkunft und Heizung gestrichen. Mehr als 912 000 solcher Sanktionen verhängten die Jobcenter im Jahr 2011. Das
sind täglich etwa 2500 «legale» Eingriffe in das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Es ist unwürdig, dass in einem der reichsten Länder der Welt eine solche Praxis existiert. Sie gehört gestoppt.
Staatliche Existenzsicherung
als individuelles Grundrecht
Das physische und psychische Überleben der Bürgerinnen
und Bürger ist Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung
aller freiheitlichen und sozialen Grund- und Teilhaberech-
te. Wird diese Grundlage nicht garantiert, sind alle übrigen
Rechte für die Betroffenen kaum das Papier wert, auf dem sie
stehen. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit erlaubt sonst
nichts weiter als die eigene Arbeitskraft zu schlimmsten Be-
dingungen zu verkaufen oder betteln zu gehen. Die Freizügig-
keit wird zum Recht, unter Brücken zu schlafen. Ein Staat, der
allen Gesellschaftsmitgliedern nicht nur gleiche Rechte ein-
räumt, sondern sie tatsächlich verwirklicht sehen will, muss
zuerst die von Not und Leid freie Existenz seiner Bürgerinnen
und Bürger sicherstellen. Deswegen gehört zu einem funkti-
onierenden Rechtsstaat auch ein funktionierender Sozialstaat
mit einem entsprechend gut ausgebauten Sozialsystem.
Bereits in der jakobinischen Verfassung von 1793 heißt es
in Art. 21: «Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist
eine heilige Verpflichtung. Die Gesellschaft übernimmt den
Unterhalt der ins Unglück geratenen Bürger, sei es nun, dass
sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig
sind, die Mittel ihres Unterhalts zusichert.» Im Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland fehlt ein vergleichbarer Ar-
tikel. Dafür haben wir zwölf Sozialgesetzbücher, nach denen
in einer persönlichen Notlage unterschiedliche Geld- und
Sachleistungen gewährt werden können.
Der falsche Grundsatz
vom «Fördern und Fordern»
m deutschen Sozialrecht herrscht der Grundsatz des «För-
derns und Forderns». Er koppelt die Gewährung staatlicher
Leistungen für Hilfebedürftige an deren Mitwirkung, sozusa-
gen als Gegenleistung.1 Sein Ausdruck sind unter anderem
die Sanktionsnormen der §§ 31 a, 32 SGB II, die es erlauben,
Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfängern in bestimmten
Fällen Leistungen zu streichen. Im vergangenen Jahr wur-
den über 912 000 Sanktionen verhängt, mehr als je zuvor.2
Grund für die Leistungskürzung ist eine angebliche «Pflicht-
verletzung». Pflicht ist dabei die Meldung beim Jobcenter,
wobei das Jobcenter entscheidet, wann man sich zu melden
hat. Pflicht ist die Annahme jeder zumutbaren Arbeit, «zu-
mutbar» ist fast alles. Pflicht ist auch die Erfüllung einer «Ein-
gliederungsvereinbarung», die aus freiem Willen niemand
abschließen würde. Kommen mehrere Pflichtversäumnisse
zusammen, wird die gesamte Leistung gekürzt. 100 Prozent
Kürzung von 374 Euro zuzüglich 100 Prozent Kürzung der
Kosten für Unterkunft und Heizung macht 0,00 Euro pro Mo-
nat. Wer rechtzeitig einen Antrag stellt und Glück hat, erhält
1 Nach Ansicht der Bundesregierung verlangt dieser Grundsatz, dass eine Person, die mit
dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt werde, im «Gegenzug» alles
unternehmen muss, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen, BT-Drucks.
17/3404, S. 110. 2 Bericht der Bundesagentur für Arbeit, zit.n. http://www.tagesschau.de/
inland/hartzvier212.html (4.4.2012). Zu detaillierten Zahlen von 2010, aus denen auch
100%-Kürzungen (5.870 Fälle) hervorgehen vgl. BT-Drucks. 17/6833 S. 9–11.
zum Ausgleich Sachleistungen. Das macht 0,00 Euro plus
das Gutdünken des Jobcenters. Durch das Prinzip des «För-
derns und Forderns» wird eine Art Vertragsverhältnis zwi-
schen Staat und Bürger, d. h. zwei völlig ungleichen Partnern,
vorgegaukelt: Der Bürger soll sich sein «unverfügbares»
Grundrecht durch regelgerechtes Verhalten verdienen. Um
sein Recht zu bekommen, muss er eine Gegenleistung ablie-
fern. Dem liegt ein Menschenbild zu Grunde, das von Faul-
heit und Betrug ausgeht und weder dem realen Menschen
noch unserer Verfassung entspricht. Dieses Prinzip führt da-
zu, dass die grundrechtlich geschützte Wahrnehmung von
Freiheitsrechten wie Berufsfreiheit und Selbstbestimmung
plötzlich Bestrafung erfährt. Es führt dazu, dass in einem der
reichsten Länder der Welt Menschen im Müll nach Pfand-
flaschen suchen oder in Suppenküchen um Nahrungsmittel
betteln. Der Grundsatz des «Förderns und Forderns» ist sozi-
alstaatsfeindlich und mit der Vorstellung allgemeiner Men-
schenrechte nicht vereinbar.
Das menschenwürdige Existenzmini-
mum des Bundesverfassungsgerichts
Seit Jahrzehnten geht das Bundesverfassungsgericht da-
von aus, dass sich aus der Menschenwürdegarantie und
dem Sozialstaatsgebot ein die Existenz sicherndes Gewähr-
leistungsrecht ergibt.3 Bereits 1954 hat das Bundesverwal-
tungsgericht ausgeführt, die Würde des Menschen verbie-
te es, «ihn lediglich als Gegenstand staatlichen Handelns zu
betrachten, soweit es sich um die Sicherung des «notwen-
digen Lebensbedarfs» (§ 1 der Reichsgrundsätze), also sei-
nes Daseins überhaupt, handelt.»4 Die Fürsorge für Hilfs-
bedürftige gehört nach dem Bundesverfassungsgericht zu
den «selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates»; die
staatliche Gemeinschaft müsse ihnen «jedenfalls die Min-
destvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein si-
chern und sich darüber hinaus bemühen, sie soweit möglich
in die Gesellschaft einzugliedern».5 Am 9.2.2010 hat das Ge-
richt schließlich ein unmittelbares verfassungsrechtliches Ge-
währleistungsrecht auf Zusicherung eines menschenwürdi-
gen Existenzminimums hergeleitet. Es erstreckt sich auf alle
Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen
Daseins unbedingt erforderlich sind. Dazu gehört nicht nur
die physische Existenz des Menschen, sondern auch auch
seine Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Bezie-
hungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesell-
schaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Recht
auf Zusicherung des Existenzminimums ist «dem Grunde
nach unverfügbar und muss eingelöst werden»; der gesetz-
liche Leistungsanspruch muss stets den gesamten existenz-
notwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers
decken.6
Unverfügbares Grundrecht
mit unbestimmtem Inhalt
Zwar wird das menschenwürdige Existenzminimum in Ge-
richtsentscheidungen häufig erwähnt, aber sein genauer In-
halt bleibt im Dunkeln. Das höchste deutsche Gericht, Hü-
ter der Verfassung und des darin enthaltenen Sozialstaats,
hat bisher nicht die Bereitschaft erkennen lassen, einen kon-
kreten Leistungsumfang für das Existenzminimum festzule-
gen. Es hat ein Grundrecht konstruiert, dessen Inhalt es nicht
genau überprüfen kann. Es räumt dem Parlament nämlich
einen politischen Spielraum ein: Nicht Aufgabe von Gerich-
ten, sondern des Gesetzgebers sei es, einen exakten Geld-
betrag oder Sachleistungen festzulegen. Entsprechend kann
danach in erster Linie das Berechnungsverfahren gerichtlich
überprüft werden, nicht aber die konkrete Höhe der Leistun-
gen. Diese kann durch das Gericht angeblich nicht berech-
net werden und wird deshalb nur einer «Evidenzkontrolle»
unterzogen. Evident unterschritten ist das Existenzminimum
offenbar nur, wenn die physische Existenz gefährdet ist. Ob-
wohl das Grundrecht sich ja gerade auch auf die soziale, poli-
tische und kulturelle Teilhabe bezieht.
Die Auffassung des Bundesverfassungsgericht ist unver-
ständlich. Denn sie widerspricht der Annahme eines Leis-
tungsgrundrechts. Es entspricht der Natur eines solchen
Grundrechts, eine bestimmte Leistung zum Inhalt zu haben.
Ein «unverfügbares» Leistungsgrundrecht, das keine be-
stimmte Leistung beinhaltet, ist wie eine Garantie ohne die
Festlegung ihres Gegenstands. Zwar sind nicht alle Grund-
rechte im Einzelnen konkretisiert. Doch hat das Bundesver-
fassungsgericht bei anderen wichtigen Grundrechten (z. B.
beim Eigentumsrecht) zumindest den unberührbaren We-
sensgehalt exakt ausdifferenziert. Nicht so beim Recht auf
Existenzminimum. Dabei ergibt sich dieses aus der Men-
schenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, zwei Verfassungs-
sätzen, die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zum unverzichtbaren
Kern des Grundgesetzes gehören. Es muss daher in vollem
Umfang unberührbar und auch überprüfbar sein.7
Pflicht des Parlaments
zur Bestimmung/Berechnung
Jedenfalls kann das Bundesverfassungsgericht seiner Mei-
nung nach nicht über den Umfang des Existenzminimums
entscheiden. Es weist jedoch dem Parlament den Auftrag zu,
es näher auszugestalten und in jedem Einzelfall zu garantie-
ren. Dieser Auftrag ist zwingend, d. h. das Parlament kann
sich ihm nicht entziehen. Dabei hat der Gesetzgeber bei der
Einschätzung des notwendigen Bedarfs einen Gestaltungs-
spielraum. Allerdings muss er den zum physischen Überle-
ben und zur sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe er-
forderlichen Bedarf nachvollziehbar berechnen. Erst durch
eine solche Bedarfberechnung wird das Grundrecht konkre-
tisiert und erhält einen bestimmten Inhalt, der dann unmit-
telbar verfassungsrechtlich geschützt ist. Kommt das Parla-
ment dieser Pflicht nicht nach, verstößt es selbst gegen das
Grundrecht auf Zusicherung eines menschenwürdigen Exis-
tenzminimums. So verhielt es sich bei den alten Hartz IV- Be-
stimmungen im SGB II. Das Bundesverfassungsgericht hat
2010 ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt und mit einem
nicht nachvollziehbaren Berechnungsverfahren begründet.
Bei der Berechnung der Regelleistungen waren willkürlich
Ausgabepositionen im Verhältnis zu den Referenzhaushalten
weggekürzt worden. Dazu führte das Gericht aus: «Schät-
zungen «ins Blaue hinein» laufen [...] einem Verfahren rea-
litätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb
gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaats-
prinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.»8
Die Höhe des in einer Gesellschaft benötigten «Existenz-
minimums» leitet sich also – man möchte meinen: logischer-
3 V.a. BVerfG v. 29.5.1990 – BVerfGE 82, 60 und BVerfG vom 12.5.2005 – 1 BvR 569/05.
4 BVerwG v. 24.6.1954 – V C 78.54, juris Rn. 28. 5 BVerfG v. 18.6.1975 – 1 BvL 4/74, juris
Rn. 44. 6 Vgl. BVerfG Urteil v. 9.2.2010, Rn. 135 ff. 7 Allgemein zur Zurückhaltung
Deutschlands bei der Umsetzung sozialer Grundrechte s. u. a. Arbeitsdokument des Euro-
päischen Parlaments zu Sozialen Grundrechten in Europa, PE 168.629, S. 12 f., 40 f. Zu die-
sem Themenkomplex s. auch Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur Auf-
nahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz, BT-Drucks. 16/13791. 8 BVerfG Urteil v.
9.2.2010, Rn. 171.
weise – unmittelbar aus dem existenznotwendigen Bedarf
der Bürgerinnen und Bürger in dieser Gesellschaft ab. Und
zwar nur aus diesem. Dieser Bedarf steht nicht unverändert
fest, sondern ist Schwankungen unterworfen. Er muss regel-
mäßig anhand statistischer Daten berechnet oder zumindest
begründet geschätzt werden.
Sanktionsnormen berechnen
keinen Bedarf
Die Kürzungsnormen im SGB II und SGB XII sind ganz of-
fensichtlich keine auf einer Bedarfberechnung beruhenden,
das Grundrecht in diesem Sinne ausgestaltende Normen.
Eine Sanktion führt nämlich zum Schwinden des «unver-
fügbaren» Existenzminimums, einzig zum Zwecke der Be-
strafung. Es fehlt jeglicher Zusammenhang der nach einer
Kürzung verbleibenden Leistungshöhe mit dem existenznot-
wendigen Bedarf der Betroffenen. Bereits deshalb sind die-
se Regelungen verfassungswidrig. Die Voraussetzung für die
Gewährung des Existenzminimums kann nämlich nur die
gegenwärtige Bedürftigkeit, d. h. die objektive Notwendig-
keit sein. Der Gesetzgeber hat mit den Sanktionsnormen die
volle Erbringung der Leistungen zur Deckung des Existenz-
minimums stattdessen an ein regelkonformes Verhalten der
Betroffenen geknüpft.9 Im Moment der Kürzung spielt über-
haupt keine Rolle, was zum Überleben benötigt wird.
Diese Auffassung ist auch nach der Logik des Bundes-
verfassungsgerichts zwingend: Wenn bereits Gesetzesvor-
schriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung
(aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen
das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums ver-
stoßen, gilt dies erst recht für Normen, die die Höhe der Leis-
tung überhaupt nicht an den aktuellen Bedarf, sondern an ein
bestimmtes Verhalten der Bedürftigen knüpfen.
Sofern die neuen Hartz IV-Leistungsvorschriften in den
Augen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt ver-
fassungsgemäß sein sollten (was zweifelhaft ist10), hat der
Gesetzgeber das Grundrecht auf Zusicherung eines men-
schenwürdigen Existenzminimums inhaltlich bestimmt.
Den damit festgelegten Bedarf muss er in jedem Einzelfall
absolut gewähren. Jede Kürzung (nach SGB II oder SGB XII)
oder Unterschreitung des gesetzlichen Leistungsanspruchs
(z. B. durch das Asylbewerberleistungsgesetz) ist dann ver-
fassungswidrig, ganz gleich ob sie ihrerseits durch Gesetz,
Verwaltungs- oder Realakt vorgenommen wird. Das einmal
durch Gesetz ausgestaltete Grundrecht ist «unverfügbar»11.
Der Staat darf dieses Recht niemals verletzen. Selbst die ein-
zelnen Personen können über dieses Recht nicht verfügen,
indem sie etwa darauf verzichten oder es an andere abtreten.
Fazit und Überlegungen
zum Sozialstaat
Ein Staat, der für das Überleben von Hilfebedürftigen im Ge-
genzug ein bestimmtes Verhalten der Betroffenen fordert, ist
kein Sozialstaat. Nicht nur freiheitliche, sondern auch soziale
Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar. Das
Prinzip des «Förderns und Forderns» ist mit der Idee allge-
meiner Menschenrechte unvereinbar. Das Recht auf staat-
liche Sicherung des Existenzminimums entspringt der Men-
schenwürde selbst und ist unantastbar. Seine unbedingte
Einhaltung ist für den Sozialstaat konstitutiv. Sie ist zudem Vo-
raussetzung für einen funktionierenden Rechtsstaat.
Durch Leistungskürzungen wie Sanktionen bei Hartz IV
wird dieses Menschenrecht tagtäglich verletzt. Die Mehrheit
der im Bundestag vertretenen Parteien verteidigt den Verfas-
sungsbruch. Deutsche Behörden führen ihn aus. Auch die
Sozialgerichte haben bisher nicht das Bundesverfassungs-
gericht angerufen, um die Sanktionspraxis zu stoppen. 12
In der Wissenschaft und in der juristischen Literatur, in der
Rechtsprechung und in der öffentlichen Meinung dominiert
der Gedanke, dass Menschen etwas tun müssen, bevor der
Staat ihnen Geld auszahlt. Bisher gelingt es uns Linken nicht,
diesem politischen und verfassungsrechtlichen Irrglauben
wirkungsvoll entgegenzutreten. Es ist an der Zeit, auch sozi-
ale Grundrechte offensiv einzufordern. Hiervon wird es ent-
scheidend abhängen, ob der Sozialstaat Tinte bleibt oder ge-
sellschaftliche Wirklichkeit wird.
Der Bund der Geächteten schrieb 1834 in einer Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte (Art. 1 ff.): «Der Zweck der
Gesellschaft ist das Glück aller ihrer Glieder. [...] Um dieses
Glück zu sichern, muß die Gesellschaft einem jeden verbür-
gen: Sicherheit der Person; die Mittel, sich auf eine leichte
Weise ein Auskommen zu verschaffen, welches ihm nicht nur
die Bedürfnisse des Lebens, sondern auch eine des Menschen
würdige Stellung in der Gesellschaft sichert; Entwicklung sei-
ner Anlagen; Freiheit; Widerstand gegen Unterdrückung. [...]
Da alle Bürger, wie groß immer die Verschiedenheit ihrer Kräf-
te sein mag, ein gleiches Recht auf diese Zusicherung haben,
so ist Gleichheit das Grundgesetz dieser Gesellschaft.»
Dieser Text steht unter der Creative Commons Namensnennung
3.0 Deutschland Lizenz, https://creativecommons.org/licenses/
by/3.0/de/.
Literaturhinweise
Ausführlich zum Thema Verfassungswidrigkeit von Sanktio-
nen bei Hartz IV: Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrig-
keit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am
Bundesverfassungsgericht, in: Die Sozialgerichtsbarkeit
03.12, S. 134 – 140.
Zur Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgeset-
zes aus ähnlichen Gründen: Classen/Kanalan, Verfassungs-
mäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, in: info also
06/2010, S. 243 – 249.
Antrag der Fraktion DIE LINKE auf Abschaffung aller Leis-
tungskürzungen, BT-Drucks. 17/5174:
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf
Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion DIE LINKE zur Auf-
nahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz, BT-Drucks.
16/1379:
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/137/1613791.pdf
Isabel Erdem ist juristische Assessorin, ehemalige Studien
stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und aktiv im stipen
diatischen Arbeitskreis Rechtspolitik & Menschenrechte
Wolfgang Neškovic ist Richter am Bundesgerichtshof a. D.,
́
Mitglied des Deutschen Bundestags und Justiziar
der Fraktion DIE LINKE
9 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 17/3404, S. 110, 112, Vorb. zu den §§ 31 bis
32. 10 Am 25.04.2012 rief eine Kammer des Berliner Sozialgerichts das Bundesverfas-
sungsgericht an, weil es auch die Neuregelung für verfassungswidrig und die Höhe der Re-
gelbedarfsleistungen für ungenügend hielt, s. http://www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/sg/
presse/archiv/20120425.1035.369249.html. Vgl. auch Gutachten für die Hans-Böckler-
Stiftung zur Bedarfsberechnung, August 2011, http://www.boeckler.de/pdf/pm_
wsi_2011_09_05.pdf. 11 BVerfG v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a., Rn. 133. 12 Bisher hat noch
kein Sozialgericht die Sanktionsnormen dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt – im Ge-
gensatz zu den Normen zur Leistungshöhe, s. Fn. 10.
Impressum
Standpunkte wird herausgegeben
von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig
V. i. S. d. P.: Marion Schütrumpf-Kunze
Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · Tel. 030 44310-127 · Fax -122
m.schuetrumpf@rosalux.de · www.rosalux.de
ISSN 1867-3163 (Print), ISSN 1867-3171 (Internet)
Redaktionsschluss: Mai 2012
30/2011
Andreas Diers
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