Samstag, 21. Juli 2012

Marx’ copernicanische Wende der Geschichtsphilosophie

„Die Großen erscheinen uns nur groß, weil wir auf den Knien liegen. Erheben wir uns!“ („Revolutions de Paris“, 1789-94) von Otto Finger An das antifeudale Motto der revolutionär-demokratischen Zeitschrift aus der Zeit der Französischen Revolution von 1789–94 „Revolutions de Paris“ – Die Großen erscheinen uns nur groß, weil wir auf den Knien liegen. Erheben wir uns! – knüpft Marx jene Forderung, die als ein proletarisch-revolutionäres Leitmotiv der ganzen Phase der Entstehung des dialektischen und historischen Materialismus gelten kann. Karl Marx ergänzt und vollendet das zitierte Motto in der für die neue proletarische Weltanschauung ausschlaggebenden Weise. Es ist, wie wir in Abwandlung eines Leninwortes sagen können, die Ausdehnung des Materialismus auf das Gebiet der revolutionären Prozesse: „Aber um sich zu heben, genügt es nicht, sich in Gedanken zu heben und über dem wirklichen, sinnlichen Kopf das wirkliche, sinnliche Joch, das nicht mit Ideen wegzuspintisieren ist, schweben zu lassen.“ [1/35] - Was die junghegelianische Kritik der feudalabsolutistischen Zustände von Hegel, seiner idealistischen Phänomenologie der geschichtlichen Entwicklung, gelernt habe, sei die Kunst gewesen, objektive, außerhalb des Bewusstseins, außerhalb des „kritischen“ Subjekts existierende Ketten in bloß ideelle, subjektive, im Individuum liegende Ketten, damit aber die wirklichen geschichtlichen Kämpfe in reine Gedankenkämpfe zu verwandeln. Kant hatte einmal seinen erkenntnistheoretischen Grundstandpunkt als copernicanische Wende bezeichnet. Vor ihm habe die Vorstellung geherrscht, dass die Gedanken sich nach den Gegenständen richteten, ähnlich wie vor Copernicus die Anschauung herrschte, dass die Gestirne sich um die Erde bewegten. Die notwendige Wende der Erkenntnistheorie sei folgende: Man müsse davon ausgehen, dass nicht die Ideen sich nach den Dingen richteten, die Begriffe also eine Widerspiegelung der Gegenstände wären, sondern umgekehrt, die Gegenstände würden sich nach den Ideen richten. Die Realität wird hier aus dem Begriff erzeugt. [2/36] Die Marxsche Wende in der Philosophie überhaupt, speziell aber in der Sozialtheorie ist tatsächlich und im Unterschied zu Kant mit der Tat des Copernicus zu vergleichen: Marx vollzog die gründlichste und folgenreichste Revolution alles bisherigen weltanschaulichen Denkens. Es ist eine Revolution des Denkens, die auf eine Revolution des Handelns abzielt: den bewussten zielstrebigen Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie. - Und ein Angelpunkt jener theoretischen Umwälzung, die als wissenschaftlicher Ausdruck dieses praktisch-revolutionären Prozesses geschieht, ist in den eben erörterten Grundgedanken einbeschlossen. Marx und Engels haben diese copernicanische Wende des weltanschaulichen, politischen und ideologischen Denkens vollzogen: Geschichte wurde als nicht primär geistiger, sondern in erster Linie materieller gesellschaftlicher Prozess begriffen; historisch umwälzendes Handeln nicht als Tat einer geistigen Elite, oder gar nur des Geistes, sondern als das Werk der Volksmassen; die künftige, sozialistische Revolution nicht als Aktion dieser oder jener Gruppe der Masse, sondern der zahlreichsten, diszipliniertesten, organisiertesten Klasse aller geschichtlichen Entwicklung, der Arbeiterklasse. - Dieser Springpunkt aller Fortschritte der revolutionären Theorie, diese Vereinigung von materialistisch-dialektischem Begreifen von Geschichte als einer Geschichte der menschlichen Arbeit, der Werktätigen, der Produktion, von Erkenntnis des spezifisch gesellschaftlichen Grundcharakters geschichtlicher Vorgänge, der gesellschaftlichen Produktionstätigkeit, der materiellen, objektiv notwendigen Vergesellschaftung mit der daraus logisch folgenden Einsicht in die Rolle der Volksmassen in der Geschichte und schließlich der Begründung der weltgeschichtlichen Mission der Arbeiterklasse – dieser Springpunkt der revolutionären Theorie ist in der „Heiligen Familie“ als Fazit der Zerschlagung der subjektiv-idealistischen Geschichtsphilosophie der Junghegelianer deutlich ausgesprochen. Und für diesen Punkt trifft das Wort von der copernicanischen Wende zu: Vordem hatte sich in der Geschichtsphilosophie alles Wesentliche historischer Prozesse um den „Geist“, die Ideen, die Eliten gedreht. Vordem waren die Volksmassen zum „Material“, zum rohen Stoff der Aktivität solcher Eliten erniedrigt worden. Vordem betrachtete man – in idealistischen wie auch materialistischen philosophischen Systemen, bei Hegel ebenso wie bei Holbach – die werktätigen Volksmassen als das Objekt geschichtlichen Handelns. Genau diese ideologische Verkehrung – die Erniedrigung der wirklich schöpferischen, weil werktätigen Volksmassen zum passiven Objekt und die Erhebung der nicht arbeitenden Ausbeuter zum tätigen Subjekt – wird in der durch Marx und Engels begründeten, durch Lenin für unsere Epoche vollendeten materialistisch-dialektischen Revolutionstheorie beseitigt. - In dieser Weise formuliert Marx die Schlussfolgerung aus der Einsicht in das materielle Wesen der gesellschaftlichen Verhältnisse für das materielle, gegenständliche Wesen jener revolutionären Aktion, in der diese Verhältnisse umgewälzt werden müssen: „Die Feinde des Fortschritts außer der Masse sind eben die verselbständigten, mit eignem Leben begabten Produkte der Selbsterniedrigung, der Selbstverwerfung, der Selbstentäußerung, der Masse. Die Masse richtet sich daher gegen ihren eignen Mangel, indem sie sich gegen die selbständig existierenden Produkte ihrer Selbsterniedrigung richtet, wie der Mensch, indem er sich gegen das Dasein Gottes kehrt, sich gegen seine eigene Religiosität kehrt. Weil aber jene praktischen Selbstentäußerungen der Masse in der wirklichen Welt auf eine äußerliche Weise existieren, so muss sie dieselbe zugleich auf eine äußerliche Weise bekämpfen. Sie darf diese Produkte ihrer Selbstentäußerung keineswegs für nur ideale Phantasmagorien, für bloße Entäußerungen des Selbstbewusstseins halten und die materielle Entfremdung durch eine rein innerliche spiritualistische Aktion vernichten wollen.“ [3/37]« Anmerkungen 1/35 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S. 87. 2/36 Vgl. herzu I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Ausgabe. 3/37 Friedrich Engels und Karl Marx, Die heilige Familie, S. 86 f. Quelle: Philosophie der Revolution. VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1975. Studie von Otto Finger. Vgl.: 4.9. Marx’ copernicanische Wende der Geschichtsphilosophie, in: 4. Kapitel: Materialismus und revolutionäres Klassenbewusstsein contra subjektiven Idealismus (zur aktuellen weltanschaulichen Bedeutung der „Heiligen Familie“) 26.06.2012, Reinhold Schramm (Bereitstellung)

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