Mittwoch, 4. Juli 2012

Mexiko: Im Namen der Verbrechensbekämpfung

Freitag, 29. Juni 2012 | Von: Bettina Hoyer | Mexiko | Die Amts­zeit von Cal­derón geht 2012 zu Ende. Welche Aus­wir­kungen hat die Stra­tegie eines „Krieges gegen das Ver­bre­chen“, den der frisch gewählte Prä­si­dent 2006 aus­rief, auf Miss­hand­lungen und Folter durch Sicherheitskräfte? Folter ist weit ver­brei­tete Praxis Dieser Frage geht eine kürz­lich ver­öf­fent­lichte 70-​seitige Studie nach, die von der fran­zö­si­schen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion ACAT-​France gemeinsam mit den mexi­ka­ni­schen Orga­ni­sa­tionen „Kol­lektiv gegen Folter und Straf­lo­sig­keit“ (CCTI), dem „Men­schen­rechts­zen­trum Miguel Agustín Pro Juárez“ (Centro Prodh), dem „Men­schen­rechts­zen­trum Fray Bar­tho­lome de las Casas“ (Centro Frayba) und dem „Inte­gralen Komitee zur Ver­tei­di­gung der Men­schen­rechte“ (Código DH) ver­öf­fent­licht wurde. Die Studie wurde mit finan­zi­eller Unter­stüt­zung der EU erstellt. Der Krieg gegen das Ver­bre­chen, so kon­sta­tiert die Unter­su­chung, betreibe einen Dis­kurs der Nor­ma­li­sie­rung der Ver­let­zung der Grund­rechte und Men­schen­rechte der mexi­ka­ni­schen Bürger und eine Legi­ti­mie­rung des recht­li­chen Aus­nah­me­zu­standes. Und, um es vorweg zu nehmen: Die Unter­su­chung kommt zu dem Schluss, dass „man bestä­tigen kann, dass diese Praxis [Folter] leider wei­terhin sehr ver­breitet ist“. Gesetze schützen nicht aus­rei­chend vor Folter Wie viele Men­schen tat­säch­lich gefol­tert werden, sei schwer ein­zu­schätzen, da die meisten Opfer wäh­rend der Folter bedroht werden, dass sie, unter Andro­hung wei­terer Gewalt, über das Erlebte zu schweigen hätten. Die Orga­ni­sa­tion CCTI geht davon aus, dass nur 10 Pro­zent der Fol­ter­opfer über­haupt eine Anzeige erstatten. Zudem kri­ti­siert die Studie, dass es weder eine bun­des­weites Register gibt, noch eine ein­heit­liche Defi­ni­tionen von Folter in den ein­zelnen Bun­des­staaten bzw. im föde­ralen Bun­des­recht. Des­halb seien die ver­füg­baren Daten über­haupt nicht vergleichbar. Zudem müssten die Opfer ihre Anzeige bei Ange­stellten des Innen­mi­nis­te­riums machen, also bei Funk­tio­nären jener Behörde, die von den Opfern der Folter beschul­digt werden. Aus den oben genannten Gründen könnten die­je­nigen, die eine Anzeige auf­nehmen, den Tat­be­stand der Folter in den Akten ver­harm­losen indem ein Fall ledig­lich als „Amts­miss­brauch“, oder „Kör­per­ver­let­zung“ auf­ge­nommen wird. Zunahme in Cal­deróns Amtszeit Trotz dieser Schwie­rig­keiten bei der quan­ti­ta­tiven Ein­schät­zung von Folter hat die Natio­nale Men­schen­rechts­kom­mis­sion CNDH jedoch eine exor­bi­tante und ste­tige Zunahme von Folter seit 2006 fest­ge­stellt. Im ersten Jahr von Cal­deróns Amts­zeit habe es die Kom­mis­sion nur 6 Anzeigen erhalten und dar­aufhin eine ein­zige Emp­feh­lung aus­ge­spro­chen. Im Jahr 2011 waren es 42 Fälle. In ganz Mexiko regis­trierte die CNDH zwi­schen 2007 und Februar 2012 ins­ge­samt 251 Fälle von Folter. Die Zahl der Emp­feh­lungen der Kom­mis­sion wegen „unmensch­li­cher Behand­lung, Bru­ta­lität und ent­wür­di­gender Behand­lung“ stieg von 330 im Jahr 2006 auf 1.161 Emp­feh­lungen im Jahr 2010 an – und diesen Zahlen lägen, so die Autoren, ver­gleich­bare Daten zugrund. Beson­ders junge Männer würden, so die Studie, im Namen des Krieges gegen das Ver­bre­chen in Arrest genommen und zu Fol­ter­op­fern. Der Dis­kurs der Regie­rung sei dabei dis­kri­mi­nie­rend gegen­über männ­li­chen Jugend­li­chen aus den Armen­vier­teln. Zudem ver­suche man sei­tens der Behörden den Ein­druck zu erwe­cken, diese jungen Männer aus ein­fa­chen oder armen Ver­hält­nissen und Straf­täter seien dasselbe. Recht­li­cher Aus­nah­me­zu­stand als Regel Vor allem Ange­hö­rige des Mili­tärs und der Bun­des­po­lizei werden der Folter beschul­digt. Sie sind es auch, die seit 2006 in großer Zahl im Krieg gegen das Ver­bre­chen ein­ge­setzt werden und deren Methoden der Repres­sion unan­ge­messen ange­sichts ihrer Auf­gabe seien, die öffent­liche Ord­nung zu wahren und die Bevöl­ke­rung zu schützen. Zwi­schen 2006 und 2009 hat di CNDH eine Zunahme der Anzeigen aus der Bevöl­ke­rung gegen das Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium um 1.000 Pro­zent registriert. Folter finde meist zu Beginn einer Ver­haf­tung statt. Des­halb sei dies die bedroh­lichste Phase. Für die Außen­welt sei eine Person prak­tisch „ver­schwunden“, wäh­rend Sicher­heits­kräfte unter Folter ver­suchten, Geständ­nisse und Infor­ma­tionen von den Fest­ge­setzten zu erzwingen. Danach würden die Behörden die Folter ver­tu­schen oder sogar fort­setzen. Fälle, in denen die Richter den Anschul­di­gungen von Fol­ter­op­fern Gehör schenkten, seien eher die Aus­nahme, so die Studie. Die Ein­satz­kräfte stünden unter Druck, Ergeb­nisse zu lie­fern, kri­ti­sieren die Autoren. Auch sei es gra­vie­rend, dass in Mexiko die Form der vor­sorg­li­chen Fest­nahme sehr weit gefasst sei. Opfer­be­richt: Fünf Tage Folter Ein Bei­spiel aus dem Bericht: „Am 11. August 2010 ver­ließen Noé Fuentes Cha­vira, Rogelio Amaya Mar­tínez, Víctor Mar­tínez Ren­teria, Ricardo Fernández Lomeli und Gus­tavo Mar­tínez Ren­teria das Haus der ehe­ma­ligen Part­nerin des Letzt­ge­nannten (…), als sie unter Anwen­dung von Gewalt ver­haftet und in die Ein­rich­tungen der Prä­ven­tiv­ein­heit der Bun­des­po­lizei in Ciudad Juárez ver­bracht wurden. Die Fami­lien suchten diese Poli­zei­ein­heit auf, die Poli­zisten ver­neinten jedoch, dass die Gesuchten dort inhaf­tiert seien. Erst am 13. August 2010 wurden die Fami­lien durch einen Fern­seh­bei­trag darauf auf­merksam, dass die vier Männer beschul­digt wurden, zum Kar­tell „La Línea“ zu gehören und ein Attentat mit einer Auto­bombe begangen zu haben. Zu diesem Zeit­punkt waren die Beschul­digten bereits zur Spe­zi­ellen Unter­staats­an­walt­schaft für Orga­ni­siertes Ver­bre­chen (SIEDO) nach Mexiko-​Stadt über­stellt worden. Noé, Rogelio, Ricardo, Víctor und Gus­tavo beschreiben fünf Tage dau­ernde Folter, u. a. mit sexu­ellen Angriffen, Simu­la­tion des Ersti­ckens mit einer über­ge­stülpten Plas­tik­tüte, Unter­tau­chen in Wasser und Elek­tro­schocks mit dem Ziel, dass sie ihre Betei­li­gung an Ver­bre­chen wie Waffen– und Dro­gen­handel bestä­tigen sollten. Anschlie­ßend blieben sie in Präventivhaft“. Über­flüssig anzu­merken, dass die Autoren der Studie ihren Bericht mit vie­lerlei Emp­feh­lungen abschließen, dar­unter auch die For­de­rung nach der Ver­ein­heit­li­chung der Gesetze. Vor allem aber müssten die Aus­nah­me­re­ge­lungen im Zuge des „Krieges gegen das orga­ni­sierte Ver­bre­chen“ wieder zurück­ge­nommen werden. URL: http://womblog.de/mexiko-im-namen-der-verbrechensbekmpfung

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