Immer auf die Kleinen
Muss erst das Grundgesetz geändert werden, um Kindern zu einem Platz in einer Kita zu verhelfen? Demonstration von Eltern und Erziehern am 26. Mai 2018 in Berlin
Foto: Carsten Koall/dpa
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Seit dem 1. August 2013 sichert der Paragraph 24 SGB VIII jedem Kind ab dem ersten Geburtstag einen Betreuungsplatz zu. Bei Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes im Jahr 2008 wurde der Bedarf auf 750.000 Kitaplätze für Kinder unter drei Jahren berechnet. Diese Zahl wurde erstmals 2017 erreicht. Der Bedarf ist unterdessen jedoch weiter stark angestiegen. Es fehlen derzeit etwa 300.000 Kitaplätze.
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Und so kommt es, dass mittlerweile Tausende Kinder in der Bundesrepublik zu Hause betreut werden müssen. Denn auch dann, wenn Eltern erfolgreich klagen, werden ihnen meist Kitaplätze weit weg von ihrem Wohnort zugewiesen. Also lehnen die Eltern ab und suchen weiter eigenständig nach Alternativen. »Man muss möglichst früh bei etwa zehn Kitas immer wieder und kontinuierlich vorstellig werden und Interesse zeigen, damit sie, wenn sie denn einen Platz frei haben, genau an dich denken! Ich kenne eine Kita, wo die interessierten Eltern zu jeder Veranstaltung rennen, um bei der Platzvergabe bedacht zu werden. Wer hat denn dafür Zeit?« fragt sich Betty* aus Berlin. Die 36 Jahre alte Promotionsstudentin hat eine zwei Jahre alte Tochter, die aktuell von einer Tagesmutter betreut wird.
Nach wie vor ist der Erzieherinnenberuf eine Domäne der Frauen. »Ihr Anteil beträgt 90 Prozent«, erzählt Vanessa*, Heilerzieherin aus Marburg. Die Nähe zu kleinen Kindern und die schlechte Entlohnung machten ihn zu einem »typischen Frauenberuf«. Dabei würden Männer in der Kita »total angehimmelt« – sowohl von Mädchen als auch von Jungen: »Gemischte Teams bringen da ganz tolle und neue Ideen ein«. Auch generationsübergreifende Teams sind laut Vanessa für die Wissensvermittlung und die Dynamik bei der Arbeit wichtig. Es sind alleinerziehende Frauen sowie Frauen, die erst kürzlich nach Deutschland migriert sind, die am häufigsten Betreuung für ihre Kinder benötigen, etwa um arbeiten gehen bzw. sich sprachlich weiterbilden zu können, um also überhaupt die Möglichkeit eines eigenen Einkommens zu haben. Sie leiden am meisten unter der aktuellen und noch anhaltenden Krise.
Verantwortlich ist zunächst die Bundesregierung, die den Rahmen setzt, in dem die Kommunen lokal die konkreten Maßnahmen treffen müssen. »Es reicht nicht aus, Rechtsansprüche auf Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern gesetzlich festzulegen. Gleichzeitig müssen Standards für diese formuliert und deren Finanzierung abgesichert werden«, so Elke Alsago, fachpolitische Gewerkschaftssekretärin für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit bei Verdi. »Überall herrscht Mangelverwaltung zu Lasten der Kinder, Eltern und Beschäftigten. Es werden mehr Kinder früher und länger unter schlechter werdenden Bedingungen betreut. Die Nachwuchsförderung reicht nicht aus, um den durch den Ausbau entstandenen Bedarf der Kitas an Fachkräften zu decken. Dies führt zu offenen Stellen, zur ›Ernennung‹ von Fachfremden zu Fachkräften und zur Anrechnung von Fachschülerinnen und Fachschülern auf den Fachkräfteschlüssel. Damit verschärfen sich die belastenden Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in den Kitas«, sagt Alsago. Deswegen fordere Verdi eine Grundgesetzänderung, die ermöglichen soll, dass der Bund an die Kommunen Mittel transferiert: »Diese müssen in einem Umfang bereitgestellt werden, welcher gewährleistet, dass die Kitabeschäftigten alle Kinder im Land zu gleichwertigen, guten, bedarfsgerechten Bedingungen dauerhaft bilden, erziehen und betreuen können.« Der aktuell berechnete Bedarf für Kinder von null bis sechs Jahren liegt laut Alsago bei mindestens acht Milliarden Euro jährlich. Für die Entlastung der Eltern komme noch ein Bedarf von 7,2 Milliarden Euro jährlich hinzu. Die Bundesregierung will jedoch insgesamt bis zum Jahr 2021 nur 3,5 Milliarden Euro in den Bereich der frühkindlichen Erziehung geben.
In vielen Städten haben sich in den vergangenen Monaten Bündnisse von Erzieherinnen, Erziehern und Eltern gebildet, die gemeinsam gegen die aktuelle Kitamisere vorgehen. Auch Katharina Mahrt, Mutter eines anderthalb Jahre alten Kindes und Studentin an der Humboldt-Universität Berlin, begann sich gegen die unhaltbare Situation zu wehren: »Der Katalysator, zu erkennen, dass es ein strukturelles Problem ist, war für mich das Medienecho, von anderen Eltern zu lesen, die auch klagen.« Mahrt schloss sich dem Bündnis »Kitakrise Berlin« an. »Es war eine Erlösung, sich nicht länger als Einzelkämpferin zu fühlen, sondern tolle andere Mütter und wenige Väter zu treffen, die eine Demo organisieren, um politischen Druck aufzubauen. Wir sind eine richtige Graswurzelbewegung geworden. Wir haben wichtige Partner mit der Landeselternvertretung und der GEW für die Demo am 26. Mai gehabt. Und auch die Expertise von Kitaträgern war hilfreich. Unser nächstes Ziel ist nun Hilfe von und für Eltern aufzubauen. Wir wollen andere Eltern beraten und ihnen ihre Möglichkeiten aufzeigen. Und: Wir wollen uns bundesweit vernetzen. Unter dem Twitter-Hashtag ›gutekitagesetz‹ diskutieren wir über den Soll-Zustand, denn die Kitas müssten mit mindestens zehn Milliarden Euro jährlich ausgestattet werden«, so die angehende Ethnologin. »Es wird viel über die Reform der Schulen und Universitäten gesprochen, jedoch nicht über grundlegende Veränderungen bezogen auf Kitas«, klagt Heilerzieherin Vanessa: »Das muss sich ändern.«
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