Später, dafür mehr?
»Wartete auf die Pension«: Protest gegen die geplante Anhebung des Ruhestandsalter in St. Petersburg (19.7.2018)
Foto: Anton Vaganov/REUTERS
|
Die russische Staatsduma hat am Donnerstag in erster Lesung die von der Regierung vorgelegte Änderung der Rente verabschiedet. Dafür stimmten 328 Abgeordnete der Regierungspartei »Einiges Russland«; die Oppositionsparteien votierten geschlossen dagegen. Der Plan sieht vor, das Renteneintrittsalter in Russland vom nächsten Jahr an in halbjährigen Schritten anzuheben: für Männer von 60 auf 65 Jahre bis 2028, für Frauen bis 2034 von 55 auf 63 Jahre.
Die Regierung argumentierte für die Anhebung des Rentenalters mit den üblichen neoliberalen Gründen: der Überalterung der Gesellschaft sowie dem Umstand, dass das jetzige Rentenalter kurz nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegt worden sei, als die Lebenserwartung noch deutlich geringer gewesen sei, die Menschen also ihre Bezüge für kürzere Zeit bezogen hätten.
Arbeitsminister Maxim Topilin beteuerte in der Parlamentsdebatte, jeder eingesparte Rubel werde der aktuellen Rentnergeneration in Gestalt einer Erhöhung zurückgegeben. Die Regierung versprach Erhöhungen um 1.000 Rubel (13 Euro) monatlich pro Kopf. Aufs Jahr gerechnet mache das rechnerisch eine 13. Rente aus, da die russische Durchschnittsrente nur 14.000 Rubel beträgt. Faktisch dürfte es der Regierung darum gehen, durch die Reform zwei Trillionen Rubel (26 Milliarden Euro) zu sparen; das ist etwa ein Viertel der Summe, die Präsident Wladimir Putin für sein Programm zur Modernisierung der Wirtschaft veranschlagt hat. Der Zuschuss zum Rentensystem ist heute der größte einzelne Haushaltsposten.
Die Opposition ist von der Reform ebensowenig überzeugt wie große Teile der Bevölkerung. »Volksfeindlich« nannte die Kommunistische Partei die Pläne, die Gewerkschaften starteten eine Onlinepetition dagegen, die innerhalb weniger Wochen rund 2,8 Millionen Menschen unterzeichnet haben. Auch Alexej Nawalny, der Liebling der westlichen Medien, mochte nicht abseits stehen, sprach von einem »Verbrechen«, das die Reform darstelle und rief seine Anhänger auf, dagegen zu demonstrieren.
Das wichtigste Argument derer, die gegen die Reform auf die Straße gehen, lautet, dass bei der allgemein niedrigen Lebenserwartung – bei Männern nur 67 Jahre, bei Frauen 75 – insbesondere dem männlichen Teil der Rentnerschaft kaum noch Lebenszeit bleibe, in der sie die Rente »genießen« könnten. Die Kritik geht freilich an der tatsächlichen Finanzstruktur des Rentensystems vorbei, denn es ist wie in Deutschland eine Mischung aus Umlagesystem und Staatszuschuss. Faktisch ist die Rente für große Teile der älteren Generation ohnehin nur ein Zusatzeinkommen. Viele russische Rentner arbeiten weiter, teils an ihren alten Arbeitsstellen mit reduzierter Arbeitszeit, teils in einem spezifischen Niedriglohnsektor für Ältere.
Demonstrationen gegen die Rentenreform hat es in den vergangenen Wochen schon in verschiedenen Städten des Landes gegeben. Besonders massenhaft besucht waren sie bisher nicht, was auch daran gelegen haben kann, dass während der Fußballweltmeisterschaft in den größten Städten Russlands Demonstrationsverbote galten. Sie werden nächste Woche wieder aufgehoben.
Eines steht jetzt schon fest: Die Debatte um die Rentenreform hat die Umfragewerte der Regierung und auch von Präsident Wladimir Putin in den Keller getrieben. Statt der 77 Prozent, die er noch im März bei seiner Wiederwahl erhielt, erklärten nun in einer Umfrage des staatlichen WZIOM-Instituts nur noch 37 Prozent ihr Vertrauen für den Staatschef. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Putin einstweilen jede öffentliche Stellungnahme zu der Rentenreform vermieden hat. Nicht auszuschließen ist, dass er sich angesichts der Unpopularität der Pläne bei der noch ausstehenden Klärung von Detailfragen als jemand profilieren will, der die »größten Härten verhindert«. An sein Wahlversprechen von 2005, solange er Präsident sei, werde am Rentensystem nichts geändert, möchte Putin heute jedenfalls nicht mehr erinnert werden. Sein Sprecher sagte auf eine entsprechende Journalistenfrage, das sei ja nun schon 13 Jahre her und nicht mehr aktuell.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen