Montag, 5. März 2018

Unterwegs  (Lothar Zieske)


Unterwegs zu sein, wird je nach Perspektive unterschiedlich bewertet: Was für den braven Bürger Herumtreiberei ist, bedeutet für junge Leute, Abenteurer, Hippies, Lebenskünstler lebendig zu sein. »On the road« von Jack Kerouac ist der Prototyp einer solchen Sichtweise; die »Roadmovies« zehren von diesem Mythos. Was von den einen wegen unterstellter Ziellosigkeit abgelehnt wird, fasziniert die anderen gerade deswegen, weil ein Ziel nicht vorgegeben, sondern selbst gesetzt ist.

Bewegung ist nach Aristoteles das Merkmal des Lebendigen. Eine Form des Glücks, das Glück in der »vita activa«, besteht darin, sich seiner Lebendigkeit, seiner Fähigkeiten zu vergewissern, indem man sie ausübt. Das kann in der körperlichen Bewegung geschehen, aber vor allem in der Bewegung des Geistes (»vita contemplativa«).

Völlig anders legitimieren sich das »Unterwegs-Sein« und die Bewegung aus christlicher Sicht: Die Ansicht, dass das Leben den Aufenthalt in einem »irdischen Jammertal« bedeutet, durchzieht schon das Mittelalter. Auf Erden unterwegs zu sein, kann dem Leben einen zusätzlichen Sinn geben, wenn mit dieser Wanderschaft gottwohlgefällige Aktivitäten, zum Beispiel Pilgerfahrten, verbunden sind.

Demnach gibt es verschiedene Arten, den Begriff »unterwegs« zumindest subjektiv sinnvoll zu verwenden: Die Sektionszeitschrift des Alpenvereins Tübingen heißt unterwegs (https://www.dav-tuebingen.de). Hier geht es um »vita activa«. Die Seite »Kleine Klimaforscher unterwegs« beginnt: »Früh übt sich, wer eine Klimaforscherin/ein Klimaforscher werden will« auf der Website der Fachhochschule Lübeck (https://www.fh-luebeck.de) beginnt: »Früh übt sich, wer eine Klimaforscherin/ein Klimaforscher werden will« und fällt in den Bereich »vita contemplativa«.

Pilgerreisen sind das Thema des Arbeitskreises »Ökumenisch unterwegs«; er bietet regelmäßige Fahrten nach Taizé an (https://oeku-unterwegs.kirche-bamberg.de/). Gerade dieses Motiv wird in kirchlichen Kreisen allerdings teilweise überreizt. Beispielsweise wenn www.dein-jahr-unterwegs.de verspricht: »unterwegs hilft dir, Orientierung zu finden«, oder wenn der Oldenbourg-Verlag ein Religionsbuch für den katholischen Religionsunterricht in Bayern »Unterwegs – Religion begegnen« nennt, ist die Grenze zum unfreiwilligen Humor zumindest erreicht.

Neuerdings ist ein grassierender unterwegs-Gebrauch zu beobachten, der nur vor dem Hintergrund der neoliberalen Leistungsideologie zu verstehen ist: Jeder und jede stehen im Konkurrenzkampf; stehen zu bleiben, bedeutet Rückschritt. Also gilt es, Bewegung um jeden Preis zu signalisieren.

Wie hohl die entsprechenden Aussagen sind, enthüllt sich, wenn man sie in Umgangsdeutsch übersetzt: So betont Volker Kauder: »Ich bin seit vielen Jahren in Sachen Religionsfreiheit unterwegs.« (NDR-info, 11.9.2017) Hätte er nur gesagt, er bemühe sich seit vielen Jahren, Religionsfreiheit durchzusetzen, wäre nicht deutlich geworden, dass er sich »Tag und Nacht« hierum bemüht. Annegret Kramp-Karrenbauer behauptet in Anne Wills Talkshow: »Ich bin da ja sehr kritisch unterwegs in der Pflege.« (ARD, Wdh. 11.10.2017) Und das angesichts der Tatsache, dass das Thema »Pflege« bis in die letzten Tage des Wahlkampfs, als ein Pflege-Azubi der Bundeskanzlerin die Leviten las, so gut wie keine Rolle gespielt hat! Fazit: Kramp-Karrenbauer hat sich unablässig bemüht, und niemand hat es bemerkt.

Stephan Genth vom Handelsverband Deutschland spricht von »Lagen [gemeint sind Geschäftsstandorte; L. Z.], die schwächer unterwegs sind.« (»Mittagsecho« auf NDR-info, 19.9.2017) Hier ist zwar keine Bewegung zu erkennen, sie wird aber behauptet. Stutzen lässt schließlich auch ein Konjunkturbericht: »Wirtschaft ist mit überhöhter Drehzahl unterwegs« (www.faz.net).

Fazit: Skepsis, wenn jemand von sich behauptet, er sei in irgendeiner Sache »unterwegs«!

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