Montag, 17. September 2012
Hunderttausende bei Demonstrationen in Portugal und Spanien
17.09.12 - Am Samstag fanden in Portugal die größten Proteste seit der "Nelkenrevolution" von 1974 statt. In 40 Städten gingen bis zu einer Million Menschen - jeder zehnte Einwohner - auf die Straße. Sie protestierten gegen das von der Troika aus IWF, EU und EZB diktierte erneute Krisenprogramm. Es sieht unter anderem die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeiter und Angestellten von 11 auf 18 Prozent der Löhne und Gehälter vor, wodurch die Nettolöhne um weitere 7 Prozent gekürzt werden. Gleichzeitig soll der Anteil der Unternehmerbeiträge von bisher 23,75 auf 18 Prozent sinken. In Lissabon stand auf dem Haupttransparent: "Zum Teufel mit der Troika - Wir wollen unser Leben!"
Eine Kundgebung wurde bewusst auf dem Spanien-Platz in Lissabon abgehalten, um den gemeinsamen länderübergreifenden Kampf zu betonen. Eine ältere Frau inmitten der riesigen Menschenmenge rief immer wieder: "Wir haben Hunger, Hunger!" Sie berichtete, dass sie ihre zwei arbeitslosen Söhne ernähren müsse, obwohl ihre Rente bereits auf 420 Euro gekürzt worden sei. Die offizielle Arbeitslosenrate schnellte in zehn Jahren von 4 auf 15,7 Prozent hoch. Von den 655.000 registrierten Arbeitssuchenden bekamen im August nach Behördenangaben nur 55 Prozent irgendeine finanzielle Unterstützung, die in den meisten Fällen gerade mal zwischen 300 und 550 Euro liegt.
Auch in Spanien demonstrierten Hunderttausende, 600.000 allein beim "Marsch auf Madrid", zu dem rund 150 Organisationen aufgerufen hatten. In acht Sternmärschen zog eine unübersehbare Menschenmenge in das Zentrum. Erneut spielten die Bergleute eine wichtige Rolle. Im Zentrum der Kritik stand die Regierung Rajoy mit ihrem Krisenprogramm. Immer wieder wurde gerufen: "Wir wollen nicht den großen Betrug der Banken bezahlen!" Aus Deutschland nahm eine Delegation der überparteilichen Bergarbeiterbewegung "Kumpel für AUF" teil.
Bereits vor den Sommerferien hatte es in beiden Ländern sowie in Griechenland wachsende Massenproteste gegeben, mit den Bergarbeitern in Spanien und den Stahlarbeitern in Griechenland an der Spitze. Aufgrund der traditionellen Ferienzeit gingen sie erst mal zeitweilig zurück. Jetzt regt sich eine neue Welle der Proteste gegen die Regierungen, bei denen in Spanien die Industriearbeiter eine zentrale Rolle spielen. In Portugal haben vor allem Basisorganisationen, Bürgerinitiativen, Gruppen von "Empörten", linke Parteien und revolutionäre Kräfte dazu mobilisiert. Die Gewerkschaften haben zwar ihre Unterstützung erklärt. Vor allem in Spanien verbinden sie das aber mit der reformistischen Stoßrichtung, alles von der Forderung einer "Volksabstimmung" abhängig zu machen.
In Lissabon bewarfen die Teilnehmer am Samstag die Vertretung des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit Tomaten und Böllern und forderten den Rücktritt der konservativen Koalition von Pedro Coelho. Noch bis nach Mitternacht protestierten viele vor dem Parlamentsgebäude. Bereits im März 2011 musste die sozialdemokratische Regierung unter José Socrates zurücktreten, weil sie das damals geplante Krisenprogramm nicht gegen Massenproteste durchsetzen konnte (siehe "rf-news"-Bericht vom 24.3.11).
Die ihr folgende Coelho-Regierung wurde für ihre knallharte Durchsetzung der mit einem 78-Milliarden-Kredit verknüpften Auflagen von den führenden EU-Staaten und dem allein herrschenden internationalen Finanzkapital schon als "Musterschüler" gehandelt. Jetzt steht sie selbst vor dem Scherbenhaufen dieser Politik. Aufgrund der Krisenprogramme wird Portugals Wirtschaft dieses Jahr um weitere 3,3 Prozent schrumpfen. 2011 waren es noch 2,3 Prozent.
Die Investitionen gingen im zweiten Quartal diesen Jahres um 19 Prozent zurück, der Massenkonsum um 5,9 Prozent und die gesamte Inlandsnachfrage um 7,6 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres. Damit ist aber auch die Einhaltung der Troika-Auflagen in Frage gestellt. Aufgrund der ebenfalls sinkenden Steuereinnahmen wird das staatliche Defizit voraussichtlich von 4,5 auf 5,5 Prozent bis Ende des Jahres steigen. Damit droht erneut wie in Griechenland der offene Staatsbankrott.
Die Regierung befindet sich nun in der Zwickmühle, da aufgrund der Massenproteste auch die Durchsetzung des Krisenprogramms zunehmend schwieriger wird. Die in der parlamentarischen Opposition befindliche Sozialistische Partei hat der Regierung bereits ihre Unterstützung aufgekündigt.
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