Freitag, 28. September 2012
Die Zeit für schöne Worte ist vorbei
Quelle: junge Welt / Julian Assange 28.09.12
Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange hat sich am späten Mittwoch abend per Videoübertragung an die Teilnehmer der UN-Vollversammlung in New York gewandt. Zu der Diskussionsveranstaltung mit Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño im Gebäude der Vereinten Nationen war Assange aus der Botschaft des südamerikanischen Landes in London zugeschaltet worden, in der er sich seit Mitte Juni aufhält. jW dokumentiert seine Rede im Wortlaut.
Sehr geehrte Delegierte, meine Damen und Herren, guten Tag,
ich spreche heute als freier Mann zu Ihnen, denn obwohl ich seit 659 Tagen festgenommen bin, bin ich im wichtigsten und grundlegendsten Sinne frei. Ich bin frei zu sagen, was ich denke.
Diese Freiheit gibt es, weil die Nation Ecuador mit diplomatisches Asyl gewährt hat. Und andere Nationen hatten den Willen, diese Entscheidung zu unterstützen. Es ist der Artikel 19 der Universellen Erklärung der Menschenrechte der UNO, dank dem Wikileaks in der Lage war, Informationen und Ideen jeder Art zu empfangen und zu verbreiten, ohne Grenzen beachten zu müssen. Und es ist der Artikel 40.1 der Universellen Erklärung der Menschenrechte, der das Recht festschreibt, Asyl vor Verfolgung zu suchen, und die Konvention 1951 über den Status der Flüchtlinge sowie andere von den Vereinten Nationen entwickelte Konventionen, durch die ich ebenso wie andere vor politischer Verfolgung geschützt werden kann.
Dank der Vereinten Nationen kann ich in meinem Fall mein unveräußerliches Recht wahrnehmen, Schutz vor der Repression zu suchen, die einige Regierungen gegen mich sowie gegen die Angestellten und Anhänger meiner Organisation unternehmen. Dank des absoluten Verbots der Folter, das im Völkerrecht und in der UN-Antifolterkonvention verankert ist, werden wir weiter standhaft Folter und Kriegsverbrechen anklagen, ohne uns dafür zu interessieren, wer die Täter sind. Ich möchte der Regierung von Ecuador für die Großzügigkeit danken, mir die Gelegenheit zu verschaffen, noch einmal vor der UNO zu sprechen – unter sehr anderen Bedingungen als diejenigen, die ich während der »Universal Periodic Review« 2010 in Genf hatte.
Vor fast zwei Jahren habe ich vor der UNO über unsere Arbeit, die Folterung und Ermordung von fast 100 000 Bürgern im Irak aufzudecken. Heute möchte ich Ihnen jedoch eine Geschichte aus den USA erzählen. Ich möchte Ihnen die Geschichte eines jungen US-Soldaten im Irak erzählen. Der Soldat wurde in Oklahoma geboren, als Sohn einer walisischen Mutter und eines Vaters aus der US-Marine. Seine Eltern verliebten sich. Sein Vater wurde auf eine US-Militärbasis in Wales geschickt. Seit seiner Kindheit schien dieser Soldat eine sehr vielversprechende Zukunft zu haben. Er gewann drei Jahre in Folge mehrere Hauptpreise bei den örtlichen Wissenschaftsmessen. Er glaubte an die Wahrheit und er möchte uns alle. Er haßte die Verlogenheit.
Verteidiger von Werten
Er glaubte an die Freiheit und an das Recht von uns allen, nach Glück zu streben. Er glaubte an die Werte, die das unabhängige Land Vereinigte Staaten begründeten. Er glaubte an Madison, an Jefferson, er glaubte an Paine. Wie viele Heranwachsende war er sich unsicher, was er mit seinem Leben machen sollte, aber er wußte, daß er sein Land verteidigen wollte, und er wußte, daß er die Welt kennenlernen wollte. Er trat in die US-Armee ein und wurde wie sein Vater ein Analyst im Nachrichtendienst.
Ende 2009, als er 21 Jahre alt war, wurde er in den Irak geschickt. Dort soll er gesehen haben, daß die US-Armee nicht gerade den Gesetzen gehorchte, sondern tatsächlich in Morde verwickelt war und die politische Korruption unterstützte. Man sagt, daß er aus Bagdad 2010 an Wikileaks, an mich und tatsächlich an die ganze Welt, die Details geschickt hat, die die Folterung von Irakern, die Ermordung von Journalisten und die Informationsbänder über die Ermordung von mehr als 120 000 Zivilisten im Irak und in Afghanistan enthielten. Er ist angeklagt, Wikileaks 251 000 diplomatische Depeschen der USA übergeben zu haben, mit deren Hilfe der »Arabische Frühling« entfacht wurde. Der Name dieses jungen Soldaten ist Bradley Manning.
Er soll in Bagdad festgenommen worden sein, nachdem er von einem Informanten verraten wurde. Zuerst wurde er in Kuwait eingesperrt und später nach Virginia gebracht, wo er neun Monate in Isolationshaft festgehalten wurde und schwere Mißhandlungen erleiden mußte. Diese Mißhandlungen hat der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über die Folter, Juan Méndez, untersucht und gegenüber den USA angeprangert. Ein Sprecher von Hillary Clinton hat diese Vorwürfe zurückgewiesen.
Bradley Manning, der Star der Wirtschaftsmessen, Soldat und Patriot war – wurde durch seine eigene Regierung gedemütigt, mißhandelt und psychisch gefoltert. Er wurde Straftaten angeklagt. All dies geschah, weil die Regierung der USA versuchte, seinen Willen zu brechen und ihn dazu zu zwingen, gegen Wikileaks und gegen mich auszusagen.
Bradley Manning ist seit 856 Tagen ohne Prozeß inhaftiert. Die rechtlich erlaubte Höchstdauer dafür beträgt in der US-Armee 120 Tage.
Im Visier des FBI
Die nordamerikanische Regierung versucht, ein hermetisch abgeschottetes nationales Regime aufzubauen. Ein nationales Regime der Verdunkelung. Ein Regime, in dem jeder Regierungsangestellte, der vertrauliche Informationen an ein Medium weitergibt, gemeinsam mit den Journalisten dieses Mediums zum Tode, zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder wegen Spionage verurteilt werden kann.
Wir sollten die Ermittlungen des FBI gegen Wikileaks nicht unterschätzen. Ich würde nichts lieber sagen als daß Bradley Manning das einzige Opfer dieser Situation wäre, aber der Überfall auf Wikileaks im Zusammenhang mit dieser und anderen Angelegenheiten hat zu einer Untersuchung geführt, die ein australischer Diplomat als von ihrer Natur her »beispiellos« genannt hat. Daß ist es, was die US-Regierung die »ganze Regierungsuntersuchung« genannt hat. Die bekannten Nachrichtendienste, die in diese Ermittlungen einbezogen wurden, sind der Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums, die nachrichtendienstliche Division gegen Delikte der US-Armee, die verbündeten Kräfte im Irak, die 1. Armeedivision, die Ermittlungseinheit der Armee gegen Cyberkriminalität (CCIU), das 2. Cyberkommando der Armee.
Im Rahmen dieser drei laufenden Ermittlungsverfahren gibt es eines vom Justizministerium, das das bedeutendste ist, und das des US-Geschworenengerichts in Alexandria, Virginia. Das FBI hat, nach Aussagen im Gericht, ein Archiv von 42 135 Seiten über Wikileaks erarbeitet. Von diesen beschäftigen sich fast 8 000 Seiten mit Bradley Manning. Das State Department und die diplomatischen Nachrichtendienste führen ihre eigenen Ermittlungen. Außerdem wurden wir vom Büro des Director of National Intelligence verfolgt, vom Regierungsbüro für Spionageabwehr, von der CIA, von der Homeland Security sowie vom United States Intelligence Community, das überinstitutionelle nachrichtendienstliche Komitee sowie dem auslandsnachrichtendienstlichen Beraterstab des Präsidenten.
Der Sprecher des Justizministeriums, Dean Boyd, bestätigte im Juli 2012, daß die Ermittlungen seines Büros gegen Wikileaks weitergehen. Barack Obama hat gestern viele schöne Worte gesagt. Aber es ist gerade seine Administration, die auf ihrer Wahlkampfseite mehr Raum der Kriminalisierung der Meinungsfreiheit einräumt als alle Präsidenten zuvor.
Rolle der USA
Ich erinnere an den Satz über die Kühnheit der Hoffnung. Wer könnte sagen, daß der Präsident der USA nicht kühn wäre? War es nicht ein kühner Schritt der nordamerikanischen Regierung, sich den Fortschritt der vergangenen zwei Jahren auf die Fahnen zu schreiben? War es nicht kühn von ihm, am Dienstag zu erklären, daß die USA die Kräfte der Veränderung während des »Arabischen Frühlings« unterstützt hätten? Die Geschichte Tunesiens begann nicht im Dezember 2010, und Mohammed Bouazizi hat sich nicht angezündet, damit Barack Obama die Möglichkeit hat, wiedergewählt zu werden. Sein Tod war das Ergebnis der Hoffnungslosigkeit, die er unter dem Regime von Ben Ali und seiner Regierung erlebt hat, die ihrerseits viele Jahre lang von der Indifferenz oder sogar der Unterstützung durch die USA profitierten, die sich der dortigen Verbrechen und Ausschreitungen bewußt waren. So dürfte es für die Tunesier eine Überraschung gewesen sein zu erfahren, daß die USA die Kräfte der Veränderung in ihrem Land unterstützt haben. Und es dürfte eine Überraschung für die jungen Ägypter, die sich das nordamerikanische Tränengas aus ihren Augen waschen mußten, gewesen sein, daß die US-Administration die Veränderungsprozesse in Ägypten unterstützt hat.
Das müßte auch eine Überraschung für diejenigen gewesen sein, die gehört haben, wie Hillary Clinton darauf beharrte, daß das Regime Mubarak »stabil« sei, und daß, als für alle klar war, daß dies nicht so war, sie verlangte, daß der verhaßte Geheimdienstchef Suleiman – über den wir bewiesen haben, daß die USA wußten, daß er ein Folterknecht war – das Amt übernehmen solle. Das müßte eine Überraschung für alle Ägypter gewesen sein, die von Vizepräsident Joseph Biden gehört haben, daß Hosni Mubarak ein Demokrat und Julian Assange ein Informatikterrorist sind. Es ist respektlos für die Toten und Eingesperrten der Rebellion in Bahrain, die von den USA »Unterstützung für die Kräfte der Veränderung« verlangen.
Tatsächlich ist dies gewagt. Wer könnte sagen, daß es nicht gewagt wäre, daß der Präsident versucht, im Rückblick als Führer dieser großen Veränderungen zu erscheinen, die von den Menschen ausgingen und die er hinterher auf seine Weise beschreiben will? Aber wir hier können auch Mut schöpfen, denn das bedeutet, daß das Weiße Haus gesehen hat, daß dieser Fortschritt unvermeidlich ist. In dieser 'Zeit der Fortschritte' hat der Präsident erkannt, wohin der Wind weht. Und nun muß er so tun, als ob seine Administration in angefacht hat. Sehr gut, das ist besser als die Alternative: Sie in die Bedeutungslosigkeit zu begeben, während die Welt vorangeht. Uns hier muß klar sein: Die USA sind nicht der Feind. Ihre Regierung ist nicht einheitlich. In einigen Fällen unterstützen gute Leute in den USA die Kräfte der Veränderung. Und vielleicht war Barack Obama persönlich einer von ihnen. Aber in anderen Fällen, und in den meisten der jüngsten Vergangenheit, stellten sie sich aktiv dagegen. Das ist ein historisches Problem, und es ist weder gerecht noch angemessen für den Präsidenten, diese Frage zu verzerren, um daraus politischen Nutzen zu ziehen oder schöne Worte sagen zu können.
Worthülsen
Und was schöne Worte angeht: Es sind nur schöne Worte. Wir begrüßen sie und wir sind mit diesen Worten einverstanden. Wir sind mit dem einverstanden, was Präsident Obama gestern darüber gesagt hat, daß die Menschen ihre Differenzen friedlich lösen können. Wir sind damit einverstanden, daß dies eine unabhängige Welt ist. Wir sind damit einverstanden, daß Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen nicht nur westliche oder US-amerikanische Werte, sondern universelle Werte sind. Wir sind mit dem Präsidenten einverstanden, wenn er sagt, daß wir ehrlich sein müssen, wenn wir diese Ideale ernst nehmen. Aber die schönen Worte gehen nicht mit entsprechenden Aktionen einher. Präsident Obama hat sich standhaft für die Meinungsfreiheit ausgesprochen. »Diejenigen, die an der Macht sind«, sagte er, »müssen der Versuchung widerstehen, die Dissidenten zu unterdrücken«.
Es gibt Zeiten für Worte und es gibt Zeiten für Aktionen. Die Zeit der Worte ist abgelaufen. Es ist an der Zeit, daß die USA die Verfolgung von Wikileaks, die Verfolgung unserer Leute und anderer Quellen beenden. Es ist an der Zeit, daß Präsident Obama das Richtige tut und sich den Veränderungen in der Welt nicht mit schönen Worten, sondern mit guten Taten anschließt.
Übersetzung aus dem Spanischen: André Scheer
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