Freitag, 28. September 2012

BETRACHTUNGEN ZUM DEUTSCHSOWJETISCHEN NICHTANGRIFFSVERTRAG VON 1939 (1)

Von Kurt Gossweiler Quelle: Kurt Gossweiler – Politisches Archiv siehe auf Kommunisten-online am 26. September 2012 - 1. Persönliche Erfahrungen mit dem umstrittenen Nichtangriffsvertrag Als Historiker bin ich kein Spezialist für den Nichtangriffsvertrag, aber als Kommunist war und bin ich seit 1939 immer wieder gezwungen, mich mit ihm zu beschäftigen. Zum ersten Male nach seinem Abschluss, den ich als Jungkommunist, der in den faschistischen Arbeitsdienst gepresst war, erlebte. Wie für alle Kommunisten, so war auch für mich dieser Vertrag zwischen dem faschistischen Deutschland und der sozialistischen Sowjetunion das unerwartetste, vorher für ganz und gar unmöglich gehaltene Ereignis. Aber nachdem nun einmal das Unmögliche Wirklichkeit geworden war, erforderte es von jedem deutschen Kommunisten, sich dazu auch ohne eine Erläuterung „von oben”, allein oder gemeinsam mit den Genossen, zu denen Kontakt bestand, einen Standpunkt zu erarbeiten. Die Faschisten stellten in ihrer Propaganda die Sache so dar, als hätte die Sowjetunion mit ihnen einen Beistandspakt geschlossen. Das wäre in der Tat ein Verrat an unseren Idealengewesen, der es unmöglich gemacht hätte, der Sowjetunion länger zu vertrauen. Deshalb las ich den Wortlaut des Vertrages genau durch, verfolgte die faschistische Presse ganz genau daraufhin, ob sie irgendein Dokument vorweisen konnte, das die „Beistands und Bündnispropaganda” bestätigen würde. Zu meiner großen Erleichterung konnte sie das nicht. Selbst die argwöhnischste Prüfung konnte zu keinem anderen Ergebnis führen als dem: Die Sowjetunion hat mit dem faschistischen Deutschland keinen Vertrag geschlossen, der sie in einem künftigen Krieg zum Bundesgenossen Hitlerdeutschlands machen würde, sondern einen Nichtangriffsvertrag, der ihr für eine gewisse Zeit die Gewähr gibt, dass die faschistischen Kriegstreiber den Feldzug gegen Polen, zudem sie fest entschlossen waren und der – soviel war im August 1939ohne Schwierigkeiten zu erkennen – nicht mehr zu verhindern war, nicht zu einem Überfall auf die Sowjetunion ausweiten würden. Meine Stellung zum Nichtangriffsvertrag war – wie wohl die aller Genossen, die damals nach vielen Diskussionen und Überlegungen diesen Vertrag zu akzeptieren vermochten – zuallererst eine Sache des Vertrauens zur Sowjetunion, zur KPdSU und ihrer Führung. Und umgekehrt: bei denen, für die der Nichtangriffsvertrag der Anlass für den Bruch mit dem Kommunismus war, war die tiefste Ursache dafür sehr oft gar nicht der Vertrag, sondern eine innerliche Entfremdung gegenüber der Sache der Partei, die – bei dem einen aus diesen, bei dem anderen aus jenen Gründen – schon viel früher begonnen hatte. Aber mein und unser Vertrauen war nicht blind und grenzenlos; ein tatsächliches Bündnis der Sowjetunion mit dem Faschismus wäre jenseits der Grenzen dieses Vertrauens gewesen. Denn unser Vertrauen gründete sich auf die Überzeugung, dass die Sowjetunion die Hauptkraft im Kampf gegen den Faschismus war und blieb. Sie hat dieses Vertrauen nicht enttäuscht, sondern gerechtfertigt. Das Vertrauen in die Politik der Sowjetunion wurde dadurch bestärkt, dass wir ja hatten verfolgen können – auch die Nazipresse hatte auf ihre Art darüber berichtet – wie die Sowjetunion, bevor sie den Nichtangriffsvertrag mit Hitlerdeutschland schloss, bemüht war, mit den Westmächten zum Abschluss eines Bündnisvertrages gegen einen möglichen Aggressor, also gegen Nazideutschland, zu kommen. Das erleichterte eine Position, wie sie sicherlich nicht nur ich einnahm: Ich kenne sie zwar nicht und verstehe sie vorläufig auch noch nicht, aber die Sowjetunion wird gute Gründe dafür haben, Nazideutschland so weit entgegenzukommen. Und als wir dann erlebten, dass ganz offenbar als Auswirkung dieses Vertrages die deutschen Truppen Polen nicht bis an die sowjetische Grenze hin besetzten, sondern vorher Halt machten, und dass auch die baltischen Staaten von Hitlers Armeen nicht besetzt wurden, sondern umgekehrt die Rote Armee dort ihre Stützpunkteerrichtete und in den östlichen Teil Polens einrückte, da empfand ich darüber eine große Genugtuung, weil es der Sowjetunion ganz offensichtlich gelungen war, mit dem Nichtangriffsvertrag dem Expansionsdrang des deutschen Faschismus einen Riegel vorzuschieben. Dieses eigene Erleben und Empfinden beim Abschluss des Nichtangriffsvertrages war dann auch der Grund dafür, dass ich beim zweiten mal einer intensiven Beschäftigung mit ihm, die durch die wütenden Attacken der Westmächte gegen den „HitlerStalinPakt” – wie er von ihnen genannt wurde – schon zu Beginn des kalten Krieges erzwungen wurde, ohne Schwanken und aus vollster Überzeugung diesen Vertrag als den im Interesse der Verteidigung des ersten Arbeiter und BauernStaates einzig möglichen Schritt der sowjetischen Außenpolitik verteidigte; daran konnte auch die Veröffentlichung des so genannten geheimen Zusatzprotokolls durch westliche Publikationen und die damit verbundene hetzerische Verleumdung, mit ihm habe die Sowjetunion erst Hitler den Weg zum Überfall auf Polen freigegeben und gemeinsam mit ihm die „vierte Teilung Polens” durchgeführt, nichts ändern. Mit der Bekanntmachung des Zusatzabkommens hatte ich nur die vertragliche Grundlage kennen gelernt für jene Ereignisse, die ich als Kommunist begrüßt hatte – nämlich das Halt! für die deutsch faschistischen Armeen und die Vorverlegung der Grenzen der Sowjetunion nach Westen in einer Situation, die irgendwann mit Sicherheit doch den faschistischen Überfall auf die Sowjetunion bringen würde. Den Beweis dafür, dass diese Position richtig war, erbrachte damals eine Reihe von Veröffentlichungen, deren Argumentation so fundiert und stichhaltig war, dass ich mir damals nicht vorstellen konnte, es könnte einmal Kommunisten geben – und noch dazu sowjetische –, die den Nichtangriffspaktattackieren und die Westmächte gar als seine Opfer darstellen würden. Es waren dies solche Publikationen wie die sowjetische“Geschichte der Diplomatie” (1948), die Publikation des sowjetischen Außenministeriums „Geschichtsfälscher” (1955) und die Memoiren des sowjetischen Botschafters in London I. M. Maiski (1961). Waren die dort vorgebrachten Fakten schon völlig ausreichend als Beweis dafür, Betrachtungen zum deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrag 169dass angesichts der Haltung der Westmächte der Sowjetunion gar nichts anderes übrig blieb, als auf das Angebot der Berliner Regierung auf Abschluss eines Nichtangriffsvertrages einzugehen, so wurde das durch noch viel beweiskräftigere Dokumente untermauert, nachdem in den siebziger Jahren einige bis dahin noch unter Verschluss liegende britische Dokumente über die Haltung der Londoner Regierung publik wurden. Auf der Grundlage dieser Dokumente entstand die überzeugende Arbeit des sowjetischen Historikers V. J. Sipols „Die Vorgeschichte des deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrages” (deutsch: Köln 1981). In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sah ich mich zum dritten mal gezwungen, mich intensiv mit dem Nichtangriffsvertrag zu beschäftigen. Der antisowjetische Rummel, der in BRDMedien aus Anlass des50. Jahrestages des Überfalls des faschistischen Deutschlands auf Polen um diesen Vertrag aufgezogen wurde, stellte alles bisher dazu Dagewesene in den Schatten. Die Entstellungen und Verleumdungen konnten gar nicht bösartig genug sein, um breit kolportiert zu werden. Leider wurde dabei den imperialistischen Ideologen manche Schützenhilfe zuteil, mit der sie bis dahin noch nie rechnen konnten, nämlich durch Darstellungen sowjetischer Publizisten. Es war also gegen Entstellungen aufzutreten, die nicht nur vom politischen Gegner kamen. In der großen Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion, über deren Notwendigkeit es überhaupt keinen Streit geben kann, macht sich neben der Tendenz, durch neue Forschungen bislang vernachlässigte Problemfelder zu bearbeiten und noch nicht beachtete oder auch verschwiegene Tatsachen zutage zu fördern und damit das Geschichtsbild durch neue Forschungsergebnisse zu vervollkommnen, auch marktschreierisch lärmend eine andere Tendenz breit, deren Vertretern es überhaupt nicht um die historischen Tatsachen geht. Diese Publizisten verzichten im Gegenteil darauf, längst bekannte Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie nicht in das von ihnen verfertigte „neue Geschichtsbild” passen. Natürlich wurden und werden derartig verantwortungslose Schreibereien von ernsthaften sowjetischen Historikern und von allen Persönlichkeiten, die aus eigenem Erleben die Fakten kennen, zurückgewiesen. Valentin Bereskov, ehemaliger sowjetischer Diplomat und Dolmetscher bei den Verhandlungen in Moskau zwischen Rippentrop und Molotow im August 1939, sagte in einer Rede über „Europa am Vorabend des zweiten Weltkrieges” in Düsseldorf am 22. April 1989: „Die Franzosen hatten schon 1938 einen Nichtangriffspakt mit Deutschland;1938 nach München jubelten nicht nur die Franzosen, sondern auch die Engländer, als Chamberlain nach London zurückkam und sagte, er habe den Frieden für Generationen mitgebracht durch die Vereinbarung mit Hitler. Also nicht nur die Sowjetunion, nicht nur die Bolschewiken wollten einen Nichtangriffspakt. Ich denke, dass es keine Alternative zum Abschluss des Nichtangriffsvertrages gab ... in der Situation im August 1939.” (2) Ein anderer Sowjetdiplomat, Valentin Falin, von 1971 bis 1978Botschafter in Bonn, seit Oktober 1988 Leiter der Abteilung internationale Beziehungen im Zentralkomitee der KPdSU, charakterisierte die“Geschichtsschreibung” der zweitgenannten Tendenz wie folgt:“Aus bestimmter (einiger durchaus nicht nur hausbackenen Politologen oder Politikaster) Ecke kam sogar die Hypothese, Stalin trage Mitschuld daran, dass Hitler vom BiertischDemagogen zum Reichskanzleraufstieg. ... Entfesselte Phantasien veranlassen manchen Publizisten zu der Behauptung, Stalin trage auch persönliche Verantwortung für die nazistische Expansion.” Indem er die Haltung solcher Schreiber zu den Tatsachen geißelt, schreibt Falin: „Um so schlimmer für die Tatsachen, wenn sie jenen Ideologen nicht ins Konzept passen, die der Geschichte die Funktion eines Rückspiegels der gegenwärtigen Politikzuweisen.” (3) Was solche Ideologen betreiben, ist umgestülpter Personenkult. Aberwissenschaftliche Geschichtsschreibung ist mit Verteufelung genauso wenig vereinbar wie mit Vergötterung. Inzwischen hat eine sowjetischpolnische Historikerkommission eine gemeinsame Erklärung zum Nichtangriffsvertrag verfasst, deren Wortlaut auch im „Neuen Deutschland” vom27./28. Mai 1989 veröffentlicht wurde. In dieser gemeinsamen Erklärung wird erneut bekräftigt, dass in der damaligen Situation die Sowjetunion zum Abschluss des Nichtangriffsvertrages gezwungen war und es für sie dazu keine Alternative gab. Zugleich wird jedoch gesagt, dass verschiedene Akte der sowjetischen Politik und Reden sowjetischer Politiker in der zweiten Hälfte des September 1939 das Völkerrechtverletzten und Polen beleidigten. Man sollte meinen, dass damit unter den Streit um die Berechtigung des Nichtangriffspaktes einschließlich des geheimen Zusatzabkommensein Schlussstrich gezogen werden könnte. Dem ist jedoch nicht so, wie die anhaltenden unsachlichen und verleumderischen Diskussionen und Wortmeldungen in Medien der BRD zeigen. Auch die auf Antrag von Vertretern der baltischen Sowjetrepubliken vom 1. Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion beschlossene Bildung einer weiteren Kommission zur Untersuchung der Rechtmäßigkeit dieses Vertragesmacht deutlich, dass die Diskussionen weitergehen. (4) Ich möchte deshalb meine Gedanken zu diesem Fragenkomplexdarlegen und durch einige nicht unbedingt neue, aber in der Diskussion wenig oder gar nicht beachtete Fakten untermauern. 2. Die Leninschen Grundsätze und der Nichtangriffsvertrag V. Falin stellt in seinem bereits zitierten Artikel die Frage, wann und warum Stalin die Leninschen Grundsätze der Außenpolitik ad acta gelegt habe. Die Frage ist wichtig, aber bevor man sie beantworten kann, muss geklärt werden, worin die Leninschen Grundsätze für den Selbstbehauptungskampf des einzigen sozialistischen Landes in der feindlichenimperialistischen Umkreisung bestanden. Lenin hat solche Grundsätze in der ihm eigenen bildhaften und eindeutigen, keinerlei widersprüchliche Auslegungen duldenden Sprache in einem Vortrag vor den Zellensekretären der Moskauer Organisation der KPR(B) am26. November 1920 dargelegt: „Vorläufig sitzen die Imperialisten da und warten auf einen günstigen Augenblick, um die Bolschewiki zu vernichten. Wir aber schieben diesen Augenblick hinaus. ... Noch mehr würde uns der Umstand retten, wenn die imperialistischen Mächte sich in einen Krieg verwickelten. Wenn wir gezwungen sind, solche Lumpen wie die kapitalistischen Diebe zu dulden, von denen jeder das Messer gegen uns wetzt, so ist es unsere direkte Pflicht, diese Messer gegeneinander zu richten. Wenn zwei Diebe streiten, so gewinnen dabei die ehrlichen Leute.” (5) Man wird kaum sagen können, dass der Nichtangriffsvertrag diesen von Lenin formulierten Grundsätzen widersprach. 3. Der VII. Weltkongress der KI über die Prinzipien des Kampfes um den Frieden Seit der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland war die Sowjetunion bemüht, alle an der Erhaltung des Friedens interessierten Staaten für ein gemeinsames Vorgehen gegen einen etwaigen Aggressor zu gewinnen. Das wurde ganz deutlich auf dem XVII. Parteitag der KPdSU(B) vom Januar 1934. Im Rechenschaftsbericht, der von Stalin vorgetragen wurde, wurden die Aggressoren deutlich kenntlich gemacht:“Der Chauvinismus und die Kriegsvorbereitung als Hauptelement der Außenpolitik, die Niederhaltung der Arbeiterklasse und der Terror auf dem Gebiete der Innenpolitik als notwendiges Mittel zur Stärkung des Hinterlandes der künftigen Kriegsfronten – das ist es, was die heutigenimperialistischen Politiker besonders beschäftigt. Kein Wunder, dass der Faschismus jetzt zum gangbarsten Modeartikel unter den kriegslüsternenbürgerlichen Politikern geworden ist. ... Die einen meinen, man müsse einen Krieg gegen eine der Großmächte organisieren. Sie gedenken,... ihre eigene Lage auf Kosten dieser Großmacht zu verbessern. ...Andere meinen, man müsse den Krieg gegen eines der militärischschwachen ... Länder organisieren, z.B. gegen China. ... Die dritten meinen, dass eine ‚höhere Rasse‘ ... den Krieg gegen eine ‚niedere Rasse‘... organisieren müsse. ... Und schließlich meinen die vierten, dass der Krieg gegen die Sowjetunion organisiert werden müsse.” An die Westmächte appellierte der Parteitag, gemeinsam mit der Sowjetunion den Aggressoren den Weg zu verlegen: „Inmitten dieser Vorkriegsraserei ... kämpfte (die Sowjetunion) gegen die Kriegsgefahr..., kam sie den Ländern entgegen, die in dieser oder jener Weise für die Erhaltung des Friedens eintreten, entlarvte sie diejenigen, die den Krieg vorbereiten und provozieren. ... Worauf stützte sich die Sowjetunion in diesem schwierigen und komplizierten Kampf für den Frieden? ... c) auf die Einsicht derjenigen Länder, die aus diesen oder jenen Motiven nicht an der Störung des Friedens interessiert sind. ...” Schließlich wurde der Entschlossenheit der Sowjetunion, in jedem Falle und unter allen Bedingungen jedem Aggressor eine vernichtende Abfuhr zu erteilen, mit den bekannten drastischen Worten Ausdruck verliehen: „Wir fürchten keine Drohungen und sind bereit, auf einen Schlag der Kriegshetzer mit einem Gegenschlag zu antworten. ... Denjenigen, die versuchen sollten, unser Land zu überfallen, wird eine vernichtende Abfuhr zuteil werden, damit ihnen in Zukunft die Lust vergehe, ihre Schweineschnauze in unseren Sowjetgarten zu stecken.” (6) Die Außenpolitik der Sowjetunion folgte exakt dieser Linie. Nachdem das faschistische Deutschland im Oktober 1933 den Völkerbundverlassen hatte, trat die Sowjetunion diesem Gremium am 18. September1934 bei. Am 2. Mai 1935 schloss sie einen Bündnisvertrag! – mit Frankreich ab, wenig später, am 16. Mai, einen ebensolchen Vertrag mit der Tschechoslowakei. Es war dies für alle Kommunisten ein einschneidendes Ereignis: zum ersten Male schloss der proletarische Staat Sowjetunion mit imperialistischen Staaten nicht nur einen Vertrag guter Nachbarschaft, wie es etwa der RappalloVertrag gewesen war, sondern ein Militärbündnis! Bereits damals wurde von Kommunisten – vor allem französischen und tschechoslowakischen – die Frage gestellt, ob ein solcher Vertragsabschluss mit den Prinzipien sozialistischer Außenpolitik überhauptvereinbar sei. Aus diesem Grunde räumte Palmiro Togliatti diesen Fragen in seinem Referat auf dem VII. Weltkongress – das, nebenbei bemerkt, sehr zu Unrecht weniger beachtet wurde und wird als das Referat Georgi Dimitroffs, enthält es doch die kommunistischen Grundsätze des Friedenskampfes, die gerade heute von aktuellster Bedeutung sind, – einen breiten Raum ein. Zunächst kennzeichnete er die damals noch deutlich unterschiedliche Politik Englands und Frankreichs gegenüber dem faschistischen Deutschland: „Es ist nicht schwer zu begreifen, dass die Unterstützung, die dem deutschen Faschismus durch die reaktionärsten Kreise der englischen Bourgeoisie gewährt wird, nichts anderes darstellt als eine Unterstützung – eine direkte oder indirekte – zur Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion. ... Anders ist die Rolle, die Frankreichgegenwärtig spielt.” Dann ging Togliatti konkret auf einige Einwände aus den eigenen Reihen gegen die Änderungen in der sowjetischen Außenpolitik ein: „Ihre (der Friedenspolitik der Sowjetunion) konkreten Formen müssen entsprechend den Wandlungen in der gesamten internationalen Lage geändert werden. Das haben ... alle jene nicht verstanden, die ihrer Verwunderung über die Änderung der Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Völkerbund Ausdruck gaben. ... Der Eintritt der Sowjetunion in den Völkerbund hat den Massen gezeigt, dass die Führer der Sowjetunion keine Doktrinäre sind, sondern Marxisten, die ... es verstehen, jegliche, auch die kleinste Möglichkeit auszunutzen, um ihre Tätigkeit, die auf die Verteidigung des Friedens gerichtet ist, im Interesse der Revolution zu erweitern. ... Es wundert uns, ... wieso es einigen merkwürdig erscheinen konnte, dass der Abschluss des Vertrages mit Frankreich über gegenseitige Hilfe durch eine Erklärung des Genossen Stalin begleitet wurde, in der er sein volles Verständnis und seine Zustimmung zur Politik der Landesverteidigung zum Ausdruck brachte, die von Frankreich zum Zwecke der Erhaltung seiner bewaffneten Streitkräfte auf einem Niveau, das den Bedürfnissen seiner Sicherheit entspricht, verfolgt wird. Ich glaube, dass es eher merkwürdig gewesen wäre, wenn eine solche Erklärung nicht erfolgt wäre, da die Unterlassung einer solchen unzweideutigen Stellungnahme dem Vertrag über gegenseitige Hilfe seine ganze Wirksamkeit als Instrument einer positiven Friedenspolitik genommen hätte.” An anderer Stelle folgten dann Ausführungen, die sowohl in der damaligen Situation größte Beachtung verdienten, die aber im Rückblickgerade zu wie auf die Situation nach Abschluss des Nichtangriffsvertrages gemünzt erscheinen: „Die Stellungnahme der Bolschewiki in dieser Frage ist also völlig klar. Ohne an den Grundlagen der Sowjetmacht zu rühren, sondern sie vielmehr festigend, unternehmen sie alles Nötige, um sich nicht einem geschlossenen Block kapitalistischer Staaten gegenübergestellt zu sehen.” Und: „Es ist für uns durchaus unbestreitbar, dass die Ziele der Friedenspolitik der Sowjetunion und die Ziele der Politik der Arbeiterklasse sowie der kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder völlig identisch sind. ... Aber diese Identität der Ziele bedeutet keineswegs, dass in jedem gegebenen Moment, bei allen Aktionen und in allen Fragen ein völliges Zusammenfallenvorhanden sein muss zwischen der Taktik des Proletariatsund der kommunistischen Parteien, die noch um die Macht kämpfen, und den konkreten taktischen Maßnahmen des Sowjetproletariats und der KPdSU(B), die in der Sowjetunion die Macht bereits in den Händen halten.” (7) 4. Vom Militärbündnis mit Frankreich zum Nichtangriffsvertrag mit Deutschland Dreieinhalb Jahre nach dem VII. Weltkongress, im März 1939, fand der XVIII. Parteitag der KPdSU(B) statt. Zwischen diesen beiden Kongressen hatte sich die Weltlage in gefährlicher Weise verändert: Infolge der schändlichen Verratspolitik der Westmächte an der von den faschistischen Achsenmächten Italien und Deutschland im Verein mit ihrem spanischen Handlanger Franco überfallenen Spanischen Republik –heuchlerisch als „Nichteinmischungspolitik” deklariert –, konnte auch die Hilfe der Internationalen Brigaden und der sowjetischen Freiwilligen für das heldenmütig kämpfende spanische Volk den Triumph des Faschismus in Spanien nicht verhindern. Nach Spanien kam die Auslieferung Österreichs an Deutschland im März 1938 und der Verrat an der Tschechoslowakischen Republik durch das infame Münchener Abkommen der Westmächte mit Hitler im September 1938, durch das auch faktisch die Beistandspakte der Sowjetunion mit Frankreich und der CSR gegenstandslos wurden. Es folgte schließlich als Höhepunkt der so genannten „Appeasement”Politik – die in Wahrheit keine Beschwichtigungspolitik, sondern eine Politik der Ermunterung des Aggressors war, seine Vorstöße nach Ostenfortzusetzen – die widerstandslose Hinnahme des Auslöschens der RestTschechoslowakei im März 1939. Die bereits von Togliatti 1935 konstatierte Absicht Englands, Deutschland zum Krieg gegen die Sowjetunion zu ermuntern, war nun überdeutlich geworden. Zur selben Zeit ließ im Fernen Osten das militärfaschistische Japan mit seinen Angriffen auf mongolisches und sowjetisches Gebiet seine Absichten erkennen, bei günstiger Gelegenheit seinem Expansionsdrang auf Kosten der Sowjetunion die Zügel schießen zulassen. Die Einschätzung der internationalen Lage und der Aufgaben der UdSSR durch den XVIII. Parteitag der KPdSU(B) konnte unter diesen Umständen nicht einfach in einer Wiederholung der Feststellungen des XVII. Parteitages bestehen. Der Parteitag ließ zwar nach wie vor keinen Zweifel darüber, wer die AggressorenMächte waren: „Japan sucht seine aggressiven Handlungen damit zu rechtfertigen, dass man es beim Abschluss des Neunmächtevertragesübervorteilt ... habe. ... Italien besann sich darauf, dass man es bei der Teilung der Beute nach dem ersten imperialistischen Kriegübervorteilt habe und dass es sich auf Kosten der Einflusssphäre Englands und Frankreichs entschädigen müsse. Deutschland ... schloss sich Japan und Italien an und forderte die Vergrößerung seines Territoriums in Europa und die Rückgabe der Kolonien, die ihm die Sieger im ersten imperialistischen Krieg weggenommen hatten. So begann sich der Block der aggressiven Staaten zu bilden. Die Frage der Neuaufteilung der Welt durch den Krieg wurde auf die Tagesordnung gesetzt.” Zugleich aber sprach er die hinterhältigen Absichten der Westmächte an, Deutschland und die Sowjetunion gegeneinander zu hetzen und als lachende Dritte die alleinigen Gewinner zu sein. Er warnte sie ein dringlich davor, dass ein solches Spiel für sie üble Folgen haben könnte: „In Wirklichkeit bedeutet jedoch die Politik der Nichteinmischung eine Begünstigung der Aggression. ... Der Gedanke liegt nahe, man habe den Deutschen Gebiete der Tschechoslowakei als Kaufpreis für die Verpflichtung gegeben, den Krieg gegen die Sowjetunion zu beginnen. ... Es ist jedoch notwendig zu bemerken, dass das große und gefährliche politische Spiel, das die Anhänger der Nichteinmischungspolitik begonnen haben, für sie mit einem ernsten Fiasko enden kann.” Von dieser Einschätzung ausgehend, wurde der sowjetischen Außenpolitik unter anderem die Aufgabe gestellt: „Vorsicht zu beobachten und den Kriegsprovokateuren, die es gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, nicht die Möglichkeit zugeben, unser Land in Konflikte hineinzuziehen.” Der XVIII. Parteitag warnte aber nicht nur, sondern bot erneut allen an der Erhaltung des Friedens interessierten Mächten Zusammenarbeit an: „In ihrer Außenpolitik stützt sich die Sowjetunion ... 7. auf die Einsicht der Länder, die aus diesen oder jenen Gründen an einer Verletzung des Friedens nicht interessiert sind.” (8) Nach der Annexion der RestTschechoslowakei machte sich bei den Regierungen der Westmächte, nicht zuletzt dank dem immer stärkeren Drängen ihrer Völker, Anzeichen zur Bereitschaft bemerkbar, mit der Sowjetunion in Verhandlungen zu treten. Aber hinter dieser Bereitschaft steckte nichts anderes als die Absicht, vor der auf dem Parteitaggewarnt worden war, nämlich, die Sowjetunion auf bindende Verpflichtungen zu militärischem Eingreifen gegen Hitlerdeutschland festzulegen, sich selbst aber die Hände frei zu halten. Für diese Haltung gibt es unzählige dokumentarische Beweise, die zum größten Teil auch schon veröffentlicht wurden. Hier sollen nur ganz wenige vorgelegt werden, die noch nicht allzu bekannt sind. Der sowjetische Historiker V.J. Sipols zitiert aus dem Tagebuch des damaligen USAInnenministers H. Ickes folgende Einschätzung der Haltung Großbritanniens bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion:“Großbritannien hätte längst eine Vereinbarung mit der Sowjetunionerzielen können, es ‚wiegte sich aber in der Hoffnung, Russland und Deutschland gegeneinander aufzubringen und auf diese Weise selber mit heiler Haut davonzukommen‘.” (9) Besonderes Interesse verdienen Berichte des polnischen Botschafters in Washington, Graf Jerzy Potocki, an seinen Außenminister in Warschau über seine Unterredung mit dem gerade in Washington befindlichen USABotschafter in Paris, William Bullit. In seinem Bericht übereine Unterredung am 21. November 1938 gibt Potocki Bullits Meinungsäußerungen wie folgt wieder: „Es würde der Wunsch der demokratischen Staaten sein, dass es dort im Osten zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen Reich und Russland komme. Da das Kräftepotential der Sowjetunion bisher nicht bekannt sei, könne es sein, dass sich Deutschland zu weit von seiner Basis entferne und zu einem langen und schwächenden Krieg verurteilt werde. Dann erst würden die demokratischen Staaten, wie Bullit meint, Deutschlandattackieren und es zu einer Kapitulation zwingen.” (10) Aus dem Bericht Potockis über eine Unterredung mit Bullit am 16.Januar 1939: „Bullit antwortete, dass die demokratischen Staaten ein für allemal alle imaginären bewaffneten Interventionen zum Schutze irgend eines Staates, der zum Opfer eines deutschen Angriffes werden sollte, aufgegeben hätten.” (11) Damit war der polnischen Regierung klar und brutal gesagt worden, dass sie alleingelassen würde, falls Polen von Hitlerdeutschland überfallen würde. Dennoch war gerade sie es, die alles in ihren Kräften Stehende tat, um ein Militärbündnis Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion zu verhindern und somit die einzige Chance für die Erhaltung des Friedens und der Existenz Polens ausschlug. Größer als die Sorge der damaligen polnischen Regierung um den Bestand Polens war ihr hasserfüllter, selbstmörderischer Antisowjetismus. In dem bereits erwähnten Artikel führt auch Valentin Falin einige Beispiele zur Illustration der hinterhältigen Verhandlungsführung der Westmächte an, von denen nur die Ausführungen des damaligen britischen Schatzkanzlers Lord Simon in der Kabinettssitzung der Londoner Regierung am 10. Juli 1939 zitiert werden sollen. Lord Simonerklärte zum Ziel der britischen Verhandlungsführung: „Wichtig ist, dass wir uns freie Hand sichern, damit wir gegenüber Russland erklären können, wir seien nicht verpflichtet, in einen Krieg einzutreten, weil wir der Auslegung der Tatsachen nicht zustimmen.” Dazu Falins treffender Kommentar: „Das ist wohl schlimmer als Doppelzüngigkeit. London suchte nach einer Möglichkeit, die Energien des Aggressors ohne Gefahren für sich zur Entladung zu bringen – wohl wissend, dass die ‚Operation (Deutschlands) gegen Polen bis Ende August oder Anfang September beginnen konnte‘. ... Was die britische Führung brauchte, war politisches Theater, jedoch keine militärische Zusammenarbeit mit uns.” Auch Falins Fazit lautet wie das Bereskovs: „Am 23. August hatte die Sowjetunion keine andere Wahl.” Er fügte dem aber hinzu, dies treffe“im großen und ganzen” bis Mitte September 1939 zu, „also für die Zeit, in der sich die Sowjetunion neutral verhielt”12, nicht aber für die Zeit danach; er trifft damit die gleiche Aussage wie die gemeinsame sowjetischpolnische Historikererklärung. Mit diesen Ausführungen sagt Falin implizit, dass auch hinsichtlich des so heiß und kontrovers diskutierten Zusatzabkommens zum Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 die Sowjetunion keine andere Wahl hatte. Ein Zweifel an der Existenz dieses Dokuments ist angesichts sowohl der dokumentarischen Belege13 als auch der nachfolgenden Ereignisse nicht möglich. Die Frage nach den Originaldokumenten ist deshalb von ganz untergeordneter Bedeutung. Das Zusatzabkommen regelte „für den Fall einer territorialpolitischen Umgestaltung” in Polen und der Region der baltischen Staaten die „Abgrenzung der Interessensphären” zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion.14 Aus der Sprache traditioneller dynastischer und imperialistischer Machtpolitik in die Sprache des Ringens des ersten sozialistischen Staates um die Sicherung seiner Existenz übertragen, bestand der Inhalt des Zusatzabkommens darin, dass die Sowjetunion –nachdem alle ihre Bemühungen gescheitert waren, dem Aggressorgemeinsam mit England und Frankreich eine Zwangsjacke anzulegen und nachdem die polnische Regierung das Hilfeleistungsangebot der Sowjetunion in verblendeter Arroganz ausgeschlagen hatte – sich Zeit und Raum zur besseren Vorbereitung auf den nur aufgeschobenen Überfall verschaffte, indem sie in den Verhandlungen durchsetzte, dass der Teil Polens östlich Warschaus und die baltischen Staaten Estland und Lettland sowie Finnland zu ihrer „Interessensphäre” gehörten; das besagte, dass dem Vordringen der deutschen Armeen bereits weit vor der Staatsgrenze der Sowjetunion Halt geboten wurde. Nach meiner Ansicht gibt es keinen Anlass, gegen die Sowjetführung wegen dieser Bestimmungen des Zusatzabkommens einen Vorwurf zu erheben, weder aus moralischen noch völkerrechtlichen Gründen. Umgekehrt: Man hätte gegen sie schwerste Vorwürfe erheben müssen wegen grober Vernachlässigung der Sicherheitsinteressen des sozialistischen Staates, wenn sie es nur bei dem Abkommen über Nichtangriffbelassen und dem deutschen Faschismus ganz Osteuropa westlich der eigenen Staatsgrenze überlassen hätte. Welche Bedeutung die „Abgrenzung der Interessensphäre” vom strategischen Standpunkt aus hatte, hat niemand deutlicher ausgesprochen als der britische Premierminister Churchill, der in einer Rundfunkrede vom 1. Oktober 1939 – also nach dem Abschluss des noch zu behandelnden“Freundschafts und Grenzabkommens” zwischen Deutschland und der Sowjetunion – folgendes ausführte: „Dass die russischen Armeen auf dieser Linie stehen, ist für die Sicherheit Russlands gegen die deutsche Gefahr absolut notwendig. Jedenfalls sind die Stellungen bezogen und die Ostfront ist geschaffen, die anzugreifen das nazistische Deutschland nicht wagt. Als Herr von Ribbentrop in der vorigen Woche nach Moskau gerufen wurde, da geschah das, damit er von der Tatsache erfahre und Notiz nehme, dass den Absichten der Nazis auf die baltischen Staaten und die Ukraine ein Ende gesetzt werden muss.” (15) Der eingefleischte Feind der Sowjetmacht Churchill bewies damit einen bemerkenswerten Scharfblick, den die modernen Kritiker des Nichtangriffsvertrages bei ihrem Rückblick auf die Geschichte entschieden vermissen lassen. Vom Standpunkt nationaler und historischer Gerechtigkeit aus bedeutete die „Abgrenzung der Interessensphären” die Wiedergutmachung der 1920 begangenen gewaltsamen Annexion fremden ukrainischen und belorussischen Gebietes durch PilsudskiPolen, denn die endgültige Abgrenzungslinie von 1939 verlief ziemlich exakt auf der Linie, die der damalige britische Außenminister Curzon bei den Friedensverhandlungen von 1919 unter Berücksichtigung ethnischer Gesichtspunkte als östliche Grenze des wiedererrichteten polnischen Staates vorgeschlagen hatte. Das Vorgehen Polens 1920 gegen das durch Krieg und Bürgerkrieggeschwächte Sowjetrussland charakterisierte Bereskov in seiner bereits zitierten Rede so: „Aber dann kam 1920 der Krieg zwischen Polen und Sowjetrussland. In diesem Krieg kamen die Polen nach Kiew und in andere Gebiete, haben einen großen Teil der Ukraine besetzt. Die Sowjetmacht war in der Zeit so schwach, dass sie die Bedingungen annehmen musste. Es gab auch eine Bedrohung durch die weißen Generäle, vor allem im Süden, und wir waren gezwungen, 1921 den Rigaer Vertrag zu unterschreiben, der die Grenze willkürlich nach Osten verschob und große Teile Belorusslands und der Ukraine zum polnischen Gebiet machte. Hier muss man vielleicht auch von einer Teilung der Ukraine und Belorusslands sprechen, die zuerst kam, und dann kam erst die Teilung Polens, weil diese Linie, die im ersten Protokoll und dann im zweiten Protokoll 1939 festgelegt worden ist, mehr oder weniger entlang der CurzonLinie verlief, also dieselbe Linie, die die Alliierten vorgeschlagen hatten und die später auch Churchill in Teheran vorgeschlagen hat, dass nämlich nach dem Krieg die CurzonLinie, vielleicht mit einigen Korrekturen, wiederhergestellt werden sollte.” (16) Was die baltischen Staaten betrifft: auch hier machte die „Abgrenzung der Interessensphären” den Weg frei für die Liquidierung der Folgen historischer Gewaltakte, nämlich der deutschen und alliierten Intervention von 1918/19, durch welche die junge Sowjetmacht in den baltischen Staaten erwürgt wurde. Die „Abgrenzung der Interessensphären” war aber auch vom antifaschistischdemokratischen Standpunkt aus nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten; denn sie bewahrte Millionen Menschen, die ohne diese Abgrenzung schon 1939 den faschistischen Okkupanten ausgeliefert worden wären, für einen im voraus nicht absehbaren Zeitraum vor diesem Schicksal, und bedeutete die Schaffung günstigerer Ausgangspositionen für einen künftigen Kampf gegen das faschistische Deutschland. Vor allem aber – und für mich war das bereits 1939 der entscheidende Gesichtspunkt – war dieser Schritt der Sowjetunion vom Klassenstandpunkt aus nicht nur berechtigt, sondern kühn und revolutionär. Er durchkreuzte nicht nur – wie sich bald zeigte – imperialistische Intrigen, sondern drängte mit dem Einflussgebiet des deutschen Faschismus auch zugleich das des Imperialismus zurück und dehnte das des Sozialismus aus, sprengte damit den „cordon sanitaire”, den der Imperialismus vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer um den Sowjetstaat gelegt hatte, und holte aus dem imperialistischen Herrschaftsbereich alle Gebiete zurück, die nach dem ersten Weltkrieg unter Ausnutzung der Schwäche der jungen Sowjetmacht dieser gewaltsam entrissen worden waren. Im Zusatzabkommen befindet sich auch folgender Passus: „Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigenpolnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden.” (17) Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Anspruch, über das Schicksal eines anderen Staates zu bestimmen, in diesem Fall wie auch in dem des Münchener Abkommens, vom völkerrechtlichen Standpunkt aus unhaltbar ist und daher zu Recht als Verletzung des Völkerrechtsbeurteilt wird. Für eine politische Beurteilung dieser Passage des Zusatzabkommens reicht eine solche Feststellung indessen nicht aus. Für sie wäre zusätzlich notwendig zu wissen, wie, unter welchen Umständen ein solcher Passus zustande kam. Es wäre z.B. möglich, dass eine der beiden Seiten schon damals in das Dokument einen Passus des Inhalts eingefügt sehen wollte, keine der beiden Seiten sei daran interessiert, dass ein unabhängiger polnischer Staat erhalten bleibe. In einem solche Falle stellte der oben zitierte Passus des Zusatzabkommens eine Ablehnung des Vorschlages der endgültigen Aufteilung Polens zwischen diesen beiden Staaten in einer Form dar, die unter den damals gegebenen Verhältnissen die einzige mögliche war, um das Hauptziel des Vertrages zu erreichen. Es wäre sehr wünschenswert, dass die Einzelheiten der damaligen Verhandlungen der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. 5. Das „Freundschafts und Grenzabkommen” vom 28. September 1939 Vielfach ist zu lesen, dass der Einmarsch der Roten Armee in die polnischen Gebiete östlich der Demarkationslinie (am 17. September1939) eine Verletzung der Neutralität bedeutet habe, also eine Parteinahme für Deutschland in dessen Krieg gegen Polen. Bei genauerer Betrachtung der Tatsachen scheint mir das aber eine sehr vereinfachte Betrachtungsweise zu sein. Denn wenn man die Demarkationslinie an der CurzonLinie gezogen hätte, ohne eigenes „Interessengebiet” militärisch zu sichern, also die wieder gewonnenen Gebiete WestBelorusslands und der Westukraine nicht von der Roten Armee schützen zulassen, dann wäre das nicht einer Einhaltung der Neutralität, sondern einer Einladung an die Wehrmacht gleichgekommen, die Demarkationslinie zu überschreiten. Die Besetzung dieser rechtmäßig zur Sowjetuniongehörigen Gebiete kann ich nicht als Bruch der Neutralität betrachten, allerdings unter einer Voraussetzung: dass sich die Rote Armee nicht an der Zerschlagung des polnischen Staates beteiligte, sondern erst nach dessen faktischem Zusammenbruch diese Gebiete besetzte, sie also nicht der polnischen Regierung entriss, sondern dem faschistischen Aggressor vorenthielt. So einfach und klar dieser Unterschied gedanklich zu machen ist, so schwierig war er es in der Wirklichkeit der Septembertage 1939. Die deutschen Faschisten drängten vom ersten Tage ihres Überfalls auf Polen die Sowjetunion, die Rote Armee möge doch in den zu ihrer“Interessensphäre” gehörenden Teil Polens einmarschieren. Die sowjetische Seite wartete mit dieser Aktion jedoch so lange, bis die deutschen Truppen die Demarkationslinie erreicht und teilweise bereits weit überschritten hatten und der polnische Staat faktisch zusammengebrochen war. Dieses Hinauszögern ihrer eigenen Truppenbewegungen fiel angesichts des deutschen Drängens nicht leicht, wovon der Telegrammwechsel zwischen Berlin und Moskau aufschlussreiches Zeugnis ablegte. Hier sei dieser Telegrammwechsel auszugsweise vorgeführt. (18) Am 3. September 1939 schickt der deutsche Außenminister Ribbentrop an den deutschen Botschafter in Moskau, Schulenburg, folgendes Telegramm: „Erwarten bestimmt, polnische Armee in einigen Wochen entscheidend geschlagen zu haben. ... Natürlich müssten wir aus militärischen Gründen auch weiter gegen diejenigen polnischen Streitkräfte vorgehen, die zu dieser Zeit in dem zur russischen Interessensphäregehörigen polnischen Gebiet stehen. Bitte dies mit Molotow sofort zu besprechen und dabei feststellen, ob es nicht von der Sowjetunion für geboten gehalten wird, dass russische Streitkräfte sich in russischer Interessensphäre in Bewegung setzen und dieses Gebiet ihrerseits in Besitz nehmen.” Die deutsche Seite drängte also darauf, die Sowjetunion möge zu einem möglichst frühen Zeitpunkt die Rote Armee in die zu ihrer Interessensphäre gehörenden Gebiete einmarschieren lassen, also darauf, dass sich die Sowjetunion zum Komplizen Deutschlands im Krieg gegen Polen mache. Darauf antwortete Molotow am 5. September: „Wir stimmen darin überein, dass wir zu einem geeigneten Zeitpunkt unbedingt genötigt sein werden, konkrete Handlungen zu beginnen. Wir sind aber der Ansicht, dass dieser Zeitpunkt noch nicht herangereift ist.” Am 9. September gibt Ribbentrop dem deutschen Botschafter in Moskau erneut die Anweisung, die sowjetische Seite zum baldigen Handeln aufzufordern:“Polnische Armee befindet sich allen Anzeichen nach mehr oder weniger im Zustand der Auflösung. Unter diesen Umständen halte ich Eile geboten, dass Sie das Gespräch mit Molotow über militärische Absichten der Sowjetregierung wieder aufnehmen. ...Ich bitte Sie deshalb, Molotow erneut in geeigneter Weise auf dieses Thema anzusprechen. ...” Dieses Drängen zwang die Sowjetregierung zu diplomatischen Manövern. Aus ihrer prinzipiellen Haltung ergab sich, dass sie sich jeder Handlung zu enthalten hatte, die den eindeutigen Tatbestand verwischen konnte, dass allein Hitlerdeutschland den Überfall auf Polen begangen und die polnische Armee und den polnischen Staat zerschlagen hatte. Andererseits war für sie die durch den Nichtangriffsvertraggewonnene Atempause so notwendig und wertvoll, dass ihr dringend daran gelegen sein musste, der deutschen Seite keinen Anlass zu bieten, die Vertragstreue der Sowjetunion in Zweifel zu ziehen oder einen Vorwand für deutsche Vorwürfe in dieser Richtung zu liefern. Die sowjetische Seite unternahm daher – nachträglich deutlich erkennbar –vom 9. September an einige diplomatische Manöver, die nur ein Ziel hatten: die eigenen militärischen Schritte so lange wie möglich hinauszuzögern, dies jedoch auf eine Weise, die auf deutscher Seite keine Handhabe zu Vorwürfen bot. Über die erste Reaktion der Sowjetregierung auf Ribbentrops Vorstoß vom 9. September teilte der deutsche Botschafter nach Berlin telegrafisch mit: „Molotow erklärte mir heute um 15 Uhr, dass eine sowjetische militärische Aktion noch in diesen Tagen erfolgen würde.” Doch bereits am nächsten Tage musste Schulenburg telegrafieren: „In heutiger Besprechung um 16 Uhr einschränkte Molotow seine gestrige Erklärung indem er sagte, dass Sowjetregierung durch unerwartete schnelledeutsche militärische Erfolge völlig überrumpelt worden sei. Rote Armeehabe gemäß unserer ersten Mitteilung mit einigen Wochen gerechnet, die jetzt auf wenige Tage zusammengeschrumpft wären. Sowjetische Militärs seien daher in schwierige Lage geraten, da sie bei hiesigen Verhältnissen für ihre Vorbereitungen noch 23 Wochen brauchen. ...Ich habe M. nachdrücklich auseinandergesetzt, wie entscheidend in der gegenwärtigen Lage ein schnelles Handeln der Roten Armee ist. M. wiederholte, dass alles zur Beschleunigung geschehe, was möglich ist. Ich hatte den Eindruck, dass M. gestern mehr versprochen hat als Rote Armee halten kann. Dann kam M. auf die politische Seite der Angelegenheit und erklärte, dass Sowjetregierung beabsichtigt hätte, das weitere Vordringen deutscher Truppen zum Anlass zu nehmen, um zu erklären, dass Polen auseinander falle und Sowjetunion infolgedessen genötigt sei, den von Deutschland ‚bedrohten‘ Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe zu kommen.” Um diese ganz zweifellos ernst gemeinte, die deutsche Seite aber brüskierende Motivierung gegenüber dem Vertragspartner zu „entschärfen”, fügte Molotow hinzu: „Mit dieser Begründung solle den Massen das Eingreifen der Sowjetunion plausibel gemacht werden und gleichzeitig vermieden werden, dass die Sowjetunion als Angreifer erscheint.” An diese Erklärung fügte Molotow eine Feststellung an, deren Zweck –wie der weitere Verlauf der Dinge zeigte – darin bestand, die Begründung für ein weiteres Hinauszögern militärischer Aktionen der Sowjetseite zu schaffen. „Dieser Weg”, so Molotow, „sei der Sowjetregierung durch eine gestrige DNBMeldung versperrt worden, wonach gemäß einer Erklärung des Generalobersten Brauchitsch Kriegshandlungen an deutscher Ostgrenze nicht mehr notwendig seien. Diese Meldung erwecke den Eindruck, dass deutschpolnischer Waffenstillstand unmittelbar bevorstehe. Schließe aber Deutschland einen Waffenstillstand, so könne Sowjetunion nicht einen ‚neuen Krieg‘ beginnen. Ich erklärte, dass mir diese Meldung, die den Tatsachen völlig widerspreche, unbekannt sei. Ich würde sofort Erkundigungen einziehen.” Die nachfolgende Erklärung Ribbentrops vom 13. September, die Schulenburg an Molotow weiterzugeben hatte, lässt keinen Zweifel daran, dass Molotow die Erklärung Brauchitschs absichtlich „missverstanden” hatte. In der Erklärung Ribbentrops für Molotow heißt es:“Schon jetzt bitte ich Herrn Molotow aber zu sagen, dass seine Äußerung über die Erklärung des Generalobersten Brauchitsch auf einem völligen Missverständnis beruhe. Diese Erklärung beziehe sich ausschließlich auf die vor Einleitung der deutschen Aktion gegen Polengeregelte Ausübung der vollziehenden Gewalt im alten Reichsgebiet und hat mit einer Begrenzung unserer militärischen Operationen nach Osten hin auf dem bisherigen polnischen Staatsgebiet gar nichts zu tun. Von einem bevorstehenden Abschluss eines Waffenstillstandes mit Polen kann keine Rede sein.” Um nicht zu ausführlich zu werden, verzichte ich auf die Fortsetzung der Wiedergabe des aufschlussreichen Telegrammwechsels, erwähne nur, dass die deutsche Seite am 15. September der sowjetischen Seite den Wortlaut eines gemeinsamen deutschsowjetischen Kommuniqués Betrachtungen zum deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrag vorlegte, das zeitgleich mit dem Beginn der sowjetischen Militäraktion veröffentlicht werden sollte, und das wiederum darauf hinauslief, beide Staaten als militärische Bundesgenossen erscheinen zu lassen. Ribbentropbegründete diesen Vorschlag mit einer scharfen Zurückweisung der ursprünglich beabsichtigten sowjetischen Erklärung. Eine derartige Motivierung meinte er, „wäre in der Tat unmöglich. Sie würdesachlich den wahren deutschen Absichten, die ausschließlich auf die Realisierung der bekannten deutschen Lebensinteressen abgestellt sind, widersprechen, würde endlich, im Gegensatz zu dem beiderseits ausgedrückten Wunsch der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen, die beiden Staaten vor der Welt als Gegner erscheinen lassen.” Ungerührt von dieser scharfen Demarche, beharrte die Sowjetunion auf einer eigenen einseitigen Erklärung ihres Vorgehens, über deren Inhalt der deutsche Botschafter nach Berlin kabelte: „Mir vorgelesener Entwurf enthielt drei für uns unannehmbare Stellen. Auf meine Einwände änderte Stalin den Wortlaut bereitwilligst so ab, dass Note mir nunmehr für uns tragbar erscheint.” Die Sowjetunion ging dann in ihrer Kompromissbereitschaft noch einen Schritt weiter, indem sie ihre Zustimmung gab zur deutschen Forderung nach Herausgabe eines deutschsowjetischen Kommuniqués, jedoch erst einige Tage nach erfolgter Veröffentlichung der einseitigen sowjetischen Erklärung. Elf Tage nach dem Beginn der Besetzung der Gebiete östlich der Demarkationslinie durch die Rote Armee schlossen Deutschland und die Sowjetunion ein neues Abkommen, das unter dem Namen „Freundschaftsund Grenzabkommen” vom 28. September 1939 bekannt gemacht wurde. Die Bezeichnung „Freundschaftsabkommen” wird von manchen als Beweis dafür angeführt, dass nunmehr tatsächlich die Sowjetunion ihre Neutralität gebrochen und sich an die Seite Deutschlands gestellt habe. In der Tat musste eine solche Bezeichnung eines Vertrages der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland jeden Kommunisten vor den Kopf stoßen und die Frage stellen lassen: Musste man denn so weit gehen, genügte es nicht, es bei der Bezeichnung „Grenzabkommen” zu belassen? Sicher ist auch, dass es den Feinden der Sowjetunion sehr viel schwieriger wäre, deren Politik zu verdächtigen, wenn dieser Vertrag nur den Titel „Grenzabkommen” getragen hätte. Aber nicht nur Kommunisten, sondern alle objektiv urteilenden Menschen sollten eine Sache nicht nur nach ihrem Namen, nach ihrer Verpackung, sondern nach ihrem Inhalt beurteilen. Wenn man das tut, dann wird deutlich, dass dieser Vertrag von seiten der Sowjetunion ein Beweis tiefsten Misstrauens gegenüber dem faschistischen Deutschland war und eine Verstärkung der Vorsorge vor einem künftigen deutschen Überfall darstellte. Denn was war sein Inhalt? Der Kern des Abkommens bestand in der endgültigen Festlegung der Demarkationslinie, und diese Festlegung enthielt eine kleine Sensation: Nach diesem Abkommen vom 28. September gehörte nun auch Litauen, das nach dem Zusatzabkommen vom 23. August noch Bestandteil der deutschen „Interessensphäre” war, nunmehr zur sowjetischen! Und das, obwohl Hitler noch kurz zuvor den Befehl gegeben hatte, Litauen durch die Wehrmacht zu besetzen! (19) Die Sowjetunion hatte also in den Verhandlungen über den Grenzvertrag ganz offensichtlich sehr massiv und erfolgreich ihre Forderung auf Änderung der Demarkationslinie im Baltikum zu ihren Gunsten vorgetragen. Als einen gewissen Ausgleich dafür willigte die Sowjetunion ein, die Demarkationslinie auf polnischem Gebiet von der Linie Pisa/Narew/Weichsel/San, also vom Ostrand Warschaus, an den Bug zurückzunehmen, also auf die Linie, die etwa der CurzonLinie entsprach. Die von der Sowjetunion in Bezug auf Litauen durchgesetzte Revision des Abkommens vom 23. August zeugt also keineswegs von freundschaftlichen Gefühlen gegenüber Deutschland, sondern von Misstrauen und vorbeugender Vorsorge. Weshalb dann aber „Freundschaftsabkommen”? Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass es die deutsche Seite war, die darauf drängte, die Bezeichnung „Grenzabkommen” durch das Wörtchen“Freundschaft” zu ergänzen; denn sie versuchte das bereits im August, damals allerdings vergeblich. In den Aufzeichnungen des Leiters der Rechtsabteilung des deutschen Auswärtigen Amtes Friedrich Gaus, der an der Abfassung des Nichtangriffsvertrages in Moskau beteiligt war, heißt es darüber: „Herr von Ribbentrop hatte persönlich in die Präambel des von mir angefertigten Vertragsentwurfes eine ziemlich weitgehende Wendung, betreffend freundschaftlicher Gestaltung der deutschsowjetischen Beziehungen eingefügt, die Herr Stalin mit der Bemerkung beanstandete, dass die Sowjetregierung, nachdem sie sechs Jahre lang von der nationalsozialistischen Reichsregierung mit ‚Kübeln von Jauche‘ überschüttet worden sei, nicht plötzlich mit deutschrussischen Freundschaftsversicherungen an die Öffentlichkeit treten könne. Der betreffende Passus ... wurde gestrichen bzw. geändert.” (20) Dem Drängen der deutschen Seite, das deutschsowjetische Grenzabkommen als ein freundschaftliches darzustellen, hat die sowjetische Seite nunmehr am 28. September nachgegeben. Ob damit ein zu hoher Preis für das Erreichte bezahlt wurde, dies zu entscheiden muss Expertenüberlassen bleiben, die den Gang der Verhandlungen genau kennen. Anders verhält es sich, scheint mir, mit den späteren antipolnischen Erklärungen Stalins und Molotows, die in der sowjetischpolnischen HistorikerStellungnahme angeführt werden. Aus welchen Gründen auch immer sie abgegeben wurden – an unseren heutigen Maßstäben gemessen, waren sie in der Tat ein Abgehen von Leninschen Prinzipien der Nationalitäten und Außenpolitik. Das rechtfertigt jedoch nicht jene nationalistischen Kräfte außerhalb und innerhalb der Sowjetunion, die heute die Forderung erheben, den Nichtangriffspakt und alle mit ihm zusammenhängenden Verträge für ungültig zu erklären, um damit eine juristische Handhabe zu erhalten, auch die Zugehörigkeit all jener Gebiete zur Sowjetunion anzufechten, in denen 1940 wieder die Sowjetmachterrichtet wurde. (21) Abschließend: Mir will scheinen, dass zeitgemäßer und dringlicher als eine hochgespielte Diskussion über die längst beantwortete Frage, ob der Nichtangriffsvertrag in der damaligen Situation notwendig und damit legitim war oder nicht, die Konzentration der Gedanken aller Kommunisten und Antifaschisten darauf ist, wie den Versuchen des Imperialismus, Teile der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft wieder in seinen Machtbereich zurückzuholen, zu begegnen ist, um sie zu vereiteln. Michail Gorbatschow hat der Menschheit die Perspektive eröffnet:“Die Welt – im Jahre 2000 atomwaffenfrei!” Der Imperialismus hat darauf ein vielstimmiges misstönendes Echo gegeben: „Die Welt – im Jahre 2000 kommunisten und sozialismusfrei!” Die Gefahr für die Welt des Sozialismus ist heute, 50 Jahre nach dem Schicksalsjahr 1939, kaum geringer als damals. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass alle, an die die imperialistische Kampfansage gerichtet ist, auf sie eine Antwort finden, die den marxistischen Historikern künftig nicht noch mehr Kopfzerbrechen bereitet als uns heutigen die Antwort der Sowjetunion von 1939. Erweiterte Fassung eines Referats, das der Autor auf der wissenschaftlichen Konferenz „Terror Demagogie Aggression Widerstand“ in der Nationalen Mahn und Gedenkstätte Buchenwald (6./7. Juni 1989) gehalten hat und das in Heft 6/1989 der BZG, S. 791805, veröffentlicht wurde. Texterfassung nach Kurt Gossweiler, Wider den Revisionismus, München (Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung) 1997, S. 167191. Anmerkungen: (1) Erweiterte Fassung eines Referates, das der Autor auf der wissenschaftlichen Konferenz „Terror –Demagogie – Aggression – Widerstand” in der Nationalen Mahn und Gedenkstätte Buchenwald (6./7. Juni 1989) gehalten hat und das in Heft 6/1989 der BZG, S. 791805, veröffentlicht wurde. (2) Deutsche Volkszeitung/die tat, 19. Mai 1989. (3) V. Falin: Die Negation der Negation, in: Spiegel spezial. 100 Jahre Hitler, Hamburg 1989, S. 120/121. (4) Vorsitzender dieser „Kommission des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR für die politische und rechtliche Bewertung des sowjetischdeutschen Nichtangriffsvertrages von 1939” war Alexander Jakowlew, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU. In einem Interview (Prawda, 18. Aug. 1989) nahm er zu den bisherigen Ergebnissen der Arbeit der Kommission Stellung. Deren Einschätzungen des Nichtangriffsvertrages und seiner Weiterungen und Folgen stimmen in allen wesentlichen Punkten mit denen der sowjetischpolnischen Historikerkommission und den zitierten Auffassungen von Bereskov und Falin überein. (5) W. I. Lenin: Rede in der Versammlung der Zellensekretäre der Moskauer Organisation der KPR(B) am 26. Nov. 1920. In: Sämtliche Werke, Bd. XXV, WienBerlin 1930, S. 633/634. (6) J. Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B), 26. Januar 1934, Berlin 1949, S. 1316. (7) P. Togliatti (Ercoli): Die Vorbereitung des imperialistischen Krieges und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale. 13. u. 14. August 1935. In: VII. Kongress der KI. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 192, 212/213, 218. (8) J. Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU(B), 10. März 1939, Berlin 1949, S. 8, 12, 15, 18. (9) V. J. Sipols: Die Vorgeschichte des deutschsowjetischen Nichtangriffsvertrages, Köln 1981, S. 288. (10) Polnische Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Erste Folge, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes, Berlin, 1940, Nr. 3, S. 9. (11) Ebenda, S. 18. (12) V. Falin, Die Negation der Negation, a.a.O., S. 120. (13) So ist in der Moskauer „Isvestija” vom 23. September 1939 eine Karte veröffentlicht, in der die – wie es im Text dazu heißt – „durch die Regierungen Deutschlands und der UdSSR festgelegte Demarkationslinie zwischen den deutschen und sowjetischen Armeen in Polen” eingezeichnet ist, wie sie im Zusatzabkommen vom 23. August vereinbart wurde. (14) Zit. nach der Wiedergabe des Zusatzabkommens in: W. Hofer: Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939. Mit Dokumenten, Frankfurt am Main und Hamburg 1967, S. 102/103. (15) Zit. nach: Geschichtsfälscher. Aus Geheimdokumenten über die Vorgeschichte des 2. Weltkrieges, Berlin 1953, S. 51. (16) Deutsche Volkszeitung/die tat, 19. Mai 1989. (17) W. Hofer: Die Entfesselung, a.a.O., S. 103. (18) Ebenda, S. 110118. (19) Dazu A. Jakowlew im PrawdaInterview vom 18. Aug. 1989: „Hitler ... unterzeichnete am 25. September 1939 die Direktive Nr. 4, in der er befahl, die Kräfte in Ostpreußen zu konzentrieren, die für eine schnelle Okkupation Litauens ausreichend wären, selbst wenn es bewaffneten Widerstand leisten sollte. So wäre es wahrscheinlich auch geschehen, wäre nicht am 28. September 1939 zwischen Deutschland und der UdSSR der Vertrag über ‚Freundschaft und Grenze‘ abgeschlossen worden, der die Interessensphäre korrigierte.” (20) Zit. nach: Internationaler Gerichtshof Nürnberg. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMG, Nürnberg, 14. XI. 1945 1. X. 1946, Bd. X, S. 353/354. (21) A. Jakowlew zu den Forderungen, die „Vorkriegssituation wiederherzustellen” und den Nichtangriffsvertrag „von Anbeginn an” für ungültig zu erklären: „Wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt, müsste der Krieg für ungültig erklärt werden. Ich weiß nur nicht, wo dann die Millionen Menschenleben gezählt werden sollen, die er forderte. ... Es ist noch weiter hergeholt, wenn irgendwelche Zusammenhänge zwischen der heutigen Situation der drei (baltischen) Republiken und dem Nichtangriffsvertrag hergestellt werden.”

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