Mittwoch, 7. Oktober 2015
„Krank durch Früherkennung”
Vorsorge auf dem Prüfstand
Buchtipp von Harry Popow
Erstveröffentlichung der Rezension: Neue Rheinische Zeitung
Du fühlst dich gesund, hast aber ein Zipperlein. Gehste zum Arzt oder… Soll ich oder soll ich nicht? Keine Frage, man sollte… Aber was dann, wenn der Arzt – aus persönlicher Verantwortung heraus – Symptome feststellt, die zu einer Vorsorgeuntersuchung Anlass geben. Es geht um einen oder um mehrere Tests, man kann schon sagen Fahndung, auf Grenzwerte, Screening genannt. Soweit so gut. Aber was ist, wenn die vorbeugende medikamentöse Behandlung – mitunter monatelang - gar nichts ans Licht befördert? Eine Früherkennungsmaßnahme ohne Resultat? Eine unnütze Untersuchung? Und wenn du dabei noch krank wirst, durch eine Überdosierung? Dann sitzt der Schock tief. Dann merkst du endlich, dass dein Vertrauen in die Medizin missbraucht wurde. Deine Gesundheit wurde in Krankheit umgewandelt und dabei ist Geld geflossen, viel Geld. Allerdings nicht in deine Taschen.
Wer dabei die Gewinner sind, das erfährst du in dem Buch „Krank durch Früherkennung“ von Frank Wittig. Der Autor opponiert keineswegs gegen die Vorsorge, schon gar nicht gegen das Gesundheitswesen insgesamt. Im Gegenteil, er unterstreicht, wenn sich etwas verändert, wenn dauernde Störungen auftreten, dann sollte man zum Arzt gehen. Eigentlich eine banale Aufmunterung, denn niemand rennt ohne Grund zu seinem Weißkittel. Wovor der Autor allerdings warnt, ist die im deutschen Gesundheits- wesen überstrapazierte Überdiagnostizierung. Man hat etwas festgestellt, „das aber im Leben nicht gefährlich geworden wäre“. (Seite 33)
Dr. Frank Wittig studierte Literaturwissenschaft und Psychologie, arbeitete als Wissenschaftsjournalist und seit 1996 als Redakteur und Autor beim Südwestrundfunk in der Abteilung Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Medizin. Auf 214 Seiten lässt der Autor kaum eine Krankheit aus, die für die Bürger von großem Interesse sind. Krebs nimmt dabei einen vorderen Platz ein sowie Cholesterin, Bluthochdruck, Blutzucker, Glaukom oder Thrombose. Alles Bereiche, bei denen jeder Laie sehr zahlreiche Hintergrundinformationen erhält.
Verweisend auf den „Eid des Hippokrates“ nimmt der Autor die aktuellsten und besten Studien zu den jeweiligen Themen – deutsche als auch in den USA getätigte – unter die Lupe. Wenn die Ärzteschaft nicht bereit ist, Früherkennung kritisch zu beleuchten, dann müssen die Patienten es tun. Dazu diene auch dieses Buch. (S. 12) Es gehe schlicht darum, die Chancen und Risiken von Vorsorgemaßnahmen abzuwägen. Um es noch genauer zu sagen: Beim allgemeinen Gesundheitstest, dem Check-up 35, werden kaum Krankheiten diagnostiziert, sondern Grenzwertverletzungen. Etwa mit den Worten: Sie haben zu hohen Blutdruck“. Frank Wittig warnt: Das Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden ist sehr viel größer als die Chance, aus der Früherkennung Nutzen zu ziehen. (S. 15) Die reale Gefahr einer ernsten Krankheit liege oft nur „im einstelligen Prozentbereich“. So auch in dem so wichtigen Bereich bei Herz-Kreislauf-Störungen. (S.17) Auf Seite 32 schreibt er von einer erschütternden Tatsache bei Brustkrebs, dass durch das Mamma-Screening „in zehn Jahren pro 2.000 Frauen zehn Frauen unnötig gegen Krebs therapiert wurden: Bestrahlung, Teilresektion oder Amputation, Chemotherapie.“ Von einer sinnlosen Kastrierung von Frauen schreibt er auf Seite 153. So wurde bei 1.292 Frauen „infolge der vaginalen Sonografie“ zumindest ein Eierstock herausoperiert. 212 aber hatten tatsächlich Krebs.
Oder ein Beispiel zum Darmkrebs: „Von 1.000 Studienteilnehmern, die sich der Früherkennung unterzogen, erkrankten sechs Personen am Krebs im unteren Darmabschnitt und eine Person verstarb daran.“ In der Kontrollgruppe ohne Spiegelung erkrankten neun Personen, zwei verstarben. Eine Reduktion von zwei auf eins also, so der Autor. Toll! (S. 163) Aus einer aktuellen Studie gehe hervor, dass 2.000 Frauen zehn Jahre lang zum Screening gehen müssten, „damit eine tatsächlich durch diese Maßnahme vor dem Brustkrebstod gerettet wird“. (S. 29) Es gehe lediglich um Gewebeveränderungen, die entdeckt und behandelt werden, „die in ihrem Leben nicht `klinisch´geworden wären. (S. 36) Ein Fall von Überdosierung – eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Radiologen. Deshalb gehöre Mamma-Screening vor Gericht. (S. 38) So oder ähnlich sieht es bei allen Früherkennungsmaßnahmen aus, stellt der Autor ernüchtert fest: „Deutsche Gynäkologen verstümmeln vorsätzlich und sinnlos eine unnötige große Zahl der Frauen, die sich ihnen vertrauensvoll ausliefern.“ (S. 157)
Nun muss man kein Wissenschaftler sein, um die Ursachen der Treibjagd nach noch gesunden Menschen zu erkennen, die mittels kostspieliger Vorsorgeuntersuchungen in die Fangnetze der Weißkittel geraten und damit dem Gewinnstreben der Pharmaindustrie genüge tun. Auf den Seiten 159/160 zieht Frank Wittig gegen das Gewinnstreben zu Felde, das besonders in der Medizin so fatal ist. Es gehe um unglaublich viel Geld. „Denn es steht dadurch nicht mehr das im Zentrum, worum es in der Medizin eigentlich immer gehen sollte: das Wohl der Menschen.“ Der ökonomische Gewinn sei eine unheilvolle Triebkraft „in unserer heißgelaufenen Medizin“. (S. 47) Als Beispiel nennt er ZERO, eine Selbsthilfeorganisation in den USA, die angeblich die Interessen der Patienten vertritt, in Wirklichkeit aber die der Industrie. Zu den Sponsoren, so der Autor, gehören u. a. die Pharmafirmen Abbott, Astra, Zeneca, Pfizer und Sanofi, „die mit teuren Hormonpräparaten bei `Prostata-Patienten´ ordentlich Kasse machen“. Weiter: Beim Cholesterinsenken erziele man einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Dollar. Das sei ein starker Grund, dieses Geschäftsmodell mit gekaperten Fachgesellschaften von oben her auf Kurs zu bringen. Pharmafirmen wenden im Schnitt drei Prozent ihres Marketingbudgets für Sonderzuwendungen an ausgewählte Professoren auf. „So wird die öffentliche Berichterstattung manipuliert.“ (S. 98) Früherkennung ist ein Wahnsinnsgeschäft, schreibt er! (S. 53)
Wer gewohnt ist, den Fachkräften auf medizinischem Gebiet alles bedenkenlos zu glauben, dem wird diese Lektüre wie ein Sturm im Wasserglas erscheinen. Offen, ehrlich, faktenreich und entlarvend, was die „Anstrengungen“ zur Profitmaximierung auch im medizinischen Bereich betrifft. So präsentiert sich ein außergewöhnliches Buch. Was Wunder, wenn es auf Widerstand in unserer Gesellschaft stoßen wird, entzieht es doch mit dieser Aufklärung gegenüber den Patienten den Pharmazeuten, der Industrie und den Ärzten zusätzliche Einnahmequellen. Möglicherweise!!
Methoden der Täuschung sind in der Medizin ähnlich wie die in der Politik, das lässt sich u.a. an folgenden phraseologischen Aussagen ablesen: Man will die Wahrheit kleinreden, Kritiker nennt man Querulanten, man begrüße zwar Kritiken, entschuldigt sich mit schlechtem Gewissen und mache trotzdem weiter. Eingesetzt werde eine gezielte Desinformation, auch bediene man sich der astrologischen Ratgeber und man missbrauche populäre Persönlichkeiten für die Lobhudelei von Medikamenten. Frank Wittig spricht unverblümt von einem medizinisch-industriellen Komplex, der staatliche Strukturen für die Medikalisierung der Gesellschaft instrumentalisiere. (S. 140) Die Manipulation von Studien oder das Verschweigen von negativen Studienergebnissen „gilt als Kavaliersdelikt“. (S. 101)
Er, der Autor, sei keinesfalls ein Robin-Hood, der gegen gesellschaftliche Missstände ins Feld ziehe, schreibt er auf Seite 159, halte aber die Kritik an der Medizin für wichtig, „da sie immer wieder auf das Intensivste in unser Alltagsleben“ hineinreiche. Man muss ihm bescheinigen, durch eine klare Sprache und direktes Ansprechen der Leser ein wohltuendes Klima der Vertrautheit zwischen Autor und Leser geschaffen zu haben.
Welchen Rat kann der Autor den Lesern geben? Die Politik müsse Fachgesellschaften entmachten und die „Deutungshoheit in medizinischen Fragen in unabhängige Hände legen“. (S. 198) Der einzelne Patient solle extrem skeptisch sein und stets fragen, welche schädlichen Nebenwirkungen zu befürchten seien. Auch im Internet, so bei „Cochrane-Netzwerk“, finde man gute Informationen. Grundsätzlich gehe es stets darum, sich gründlich zu informieren, zum Beispiel im vertrauensvollen Gespräch mit dem jeweiligen Arzt.
An dieser Stelle muss der Rezensent vermerken, dass der Autor zwar die Symptome der Ausbeutung vieler Patienten benannt und die totale Ökonomisierung des Gesundheitswesens in der freien Marktwirtschaft frontal angegriffen, dabei aber notwendige Veränderungen im Gesellschaftssystem nur punktuell angesteuert hat. Ein Wunsch, sicherlich im Namen zahlreicher interessierter Leser: In einer weiteren Auflage könnten Begriffsbestimmungen der wichtigsten medizinischen Vokabeln von großem Nutzen sein.
Es sei zum Schluss an ein Gesundheitswesen erinnert, das keinem Profitstreben unterlag und in dem das Wohl des Menschen oberste Priorität hatte. Dazu folgendes Zitat aus „Saschas Welt“, Blogger Norbert Gernhardt: „Das Gesundheitswesen in der DDR zählte zu den fortgeschrittensten in der Welt. Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die kostenlose medizinische Versorgung und Betreuung der DDR-Bürger, die generelle Arzneimittelfreiheit und die Vorsorge am Arbeitsplatz. Die DDR war ein sozialistischer Staat, in dem mit der Krankheit eines Menschen kein Geld zu verdienen war. (…)“
(PK)
Frank Wittig: „Krank durch Früherkennung. Warum Vorsorgeuntersuchungen unserer Gesundheit oft mehr schaden als nutzen“, gebundene Ausgabe: 214 Seiten, Verlag: Riva (7. September 2015), 1. Auflage, Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3868836306, ISBN-13: 978-3-86883-630-1, Größe und/oder Gewicht: 15,7 x 2,4 x 21,7 cm, 19.99 Euro
(1) http://sascha313.blog.de/2013/06/12/gesundheitswesen-ddr-16116463 /
Erstveröffentlichung dieser Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=22102
Weitere Texte des Rezensenten:
http://cleo-schreiber.blogspot.com
Harry Popow: „Platons Erben in Aufruhr. Rezensionen, Essays, Tagebuch- und Blognotizen, Briefe“, Verlag: epubli GmbH, Berlin, 316 Seiten, www.epubli.de, ISBN 978-3-7375-3823-7, Preis: 16,28 Euro
Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3
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