Samstag, 21. Juli 2018

Situation und Perspektive der kurdischen Befreiungsbewegung

Die Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf steht nicht erst seit den letzten Jahren auf der Tagesordnung der revolutionären und kommunistischen Bewegung in Deutschland. Dennoch können wir seit Beginn der Rojava-Revolution im Jahr 2012 und besonders seit der Verteidigung Kobanes gegen den IS vor den Augen der Weltöffentlichkeit im Oktober und November 2014 ein weiteres Anwachsen der Aufmerksamkeit für dieses Thema feststellen. Die Rojava-Revolution steht nicht nur für die Hoffnung der Völker des Mittleren Ostens. Sie hat auch die Herzen hunderttausender fortschrittlicher Menschen in Deutschland erobert; und das zurecht. In Rojava wurde ein dritter Weg eingeschlagen abseits der beiden Alternativen – islamistischer Faschismus und Baath-Regime – abseits der Marionetten von NATO-Imperialisten einerseits und russischem Imperialismus andererseits. Rojava hat sich den Kampf für Demokratie, Befreiung der Frau und das Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und Religionen auf die Fahne geschrieben.
All diese fortschrittlichen Aspekte einer demokratischen Revolution entbinden die deutsche kommunistische Bewegung aber nicht von der Aufgabe, eine Analyse der kurdischen Frage, der kurdischen Befreiungsbewegung und ihrer aktuellen Entwicklungstendenzen vorzunehmen. Unsere Möglichkeiten einer detaillierten Analyse sind begrenzt. In Deutschland können wir uns das auch unmöglich zur Hauptaufgabe machen. Wir wissen aber, dass der Syrien-Krieg und somit auch die Rojava-Revolution zu einem Kristallisationspunkt imperialistischer Widersprüche geworden sind. Auch der deutsche Imperialismus nimmt am Hauen und Stechen um die Kontrolle der Region teil. Nicht zuletzt werden die Ereignisse in Kurdistan auf die ein oder andere Weise ihr Echo in Deutschland finden. Ein bedeutender Teil der ArbeiterInnenklasse in Deutschland hat seine Wurzeln in dieser Region und bleibt bis heute mit ihr politisch und emotional verbunden.
Dieser Artikel besteht aus drei Teilen. Im 1. Abschnitt ‘Die kurdische Frage’ werden wir auf die ökonomische und soziale Lage in Kurdistan und die grundlegende Haltung des Marxismus-Leninismus zur nationalen Frage eingehen. Im 2. Teil ‘Die Kurdische Befreiungsbewegung’ werden wir die Entwicklung der PKK, insbesondere ab ihrem V. Kongress und die Auswirkungen des „Paradigmenwechsels“ ins Zentrum stellen. Zuletzt werden wir einige Überlegungen zur Perspektive der kurdischen Bewegung und der Rojava Revolution anstellen.

Die kurdische Frage

Die Aufteilung Kurdistans durch das Sykes-Picot-Abkommen
Die Aufteilung Kurdistans durch das Sykes-Picot-Abkommen

Die KurdInnen – eine unterdrückte Nation

Das von Kurden seit Jahrtausenden besiedelte Gebiet heißt Kurdistan und liegt auf auf dem Gebiet vier heutiger Staaten – Irak, Iran, Türkei und Syrien.
Die kurdische Frage lässt sich darin zusammenfassen, dass es eine kurdische Nation gibt, der aber nicht das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gewährt wurde und wird. Statt einen eigenen Nationalstaat gründen zu können, wurde Kurdistan unter Führung der englischen und französischen Imperialisten nach der Niederlage des osmanischen Reiches im 1. Weltkrieg auf die genannten vier Staaten aufgeteilt (Sykes-Picot Abkommen zwischen England und Frankreich im Jahr 1916).1 In der kommunistischen Bewegung wird Kurdistan deswegen als Kolonie dieser Staaten betrachtet.

Die ökonomische Lage Kurdistans

Auch ökonomisch zeichnen sich die verschiedenen Teile Kurdistan durch Merkmale einer Kolonie aus. In Westkurdistan, vor allem aber in Südkurdistan, liegen reiche Ölquellen, die für die Ökonomie dieser Region im Vordergrund stehen. Die südkurdische Bourgeoisie ist durch ihr Bündnis mit den USA im Irakkrieg und als Herren über die reichen Erdölfelder der Region zwar zu einem gewissen Reichtum gekommen. Dieser schlägt sich aber nicht darin nieder, dass Südkurdistan eine eigenständige Industrie aufbauen würde. Im Gegenteil: Der größte Teil des dort investierten Kapitals stammt aus der Türkei.
Westkurdistan (Rojava) ist kapitalistisch unterentwickelt und deswegen sowie wegen der andauernden Kämpfe gegen den IS nicht in der Lage, sein Öl selber zu verarbeiten. Die Möglichkeiten zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte sind noch begrenzt, weil unter dem Baath-Regime Jahrzehnte lang eine einseitige Ausrichtung der Landwirtschaft als Kornkammer Syriens die Ökonomie geprägt hat.
Auch Nordkurdistan ist bis zum heutigen Tag weit weniger industrialisiert als der Westen der Türkei. Die natürlichen Reichtümer Kurdistans wie Bodenschätze und Wasser werden aber von der Türkei genutzt. Dennoch ist Nordkurdistan in kapitalistischer Hinsicht der am stärksten entwickelte Teil Kurdistans. Zur Veranschaulichung haben wir einen längeren Auszug aus İ. Okçuoğlus Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Nordkurdistan“ übersetzt:
Das Kapitalverhältnis prägt die kapitalistische Basis. Dieses Verhältnis wird durch die sozialökonomische Beziehungen definiert; die bestimmten Produktionsverhältnisse, die dem Kapitalverhältnis entsprechen, sind die Beziehungen der sich in der Produktion befindenden Menschen. Es sind schlussendlich Beziehungen, die der klassenmäßigen Teilung der Gesellschaft entsprechen.
Die Herrschaft des Kapitalverhältnisses in Nordkurdistan ist heute zu einer Tatsache geworden, die nicht zu leugnen ist. In diesem Sinne sind die Kapitalverhältnisse, das Entwicklungsniveau des Kapitalismus in Nordkurdistan kein Ausdruck anderer ökonomischen Formationen – hier halbfeudaler oder feudaler, sondern sie drücken die ökonomische Basis der Gesellschaft direkt aus; sie bestimmen ihren Charakter.
In der nordkurdischen Wirtschaft ist zweifellos die dem Kapitalismus eigentümliche Warenproduktion vorherrschend.
Das Entwicklungsniveau des Kapitalismus in Nordkurdistan ist sicherlich gering. Aber trotzdem bestimmt es die bürgerlichen Formierung der Gesellschaft und bestimmt auch den Charakter der Ökonomie. Gerade deswegen spielt der Kapitalismus in Nordkurdistan heute keine fortschrittliche Rolle mehr.
Der Kapitalismus in Nordkurdistan hat bestimmte dem Kolonialismus entstammende Besonderheiten:
Die tatsächliche Kolonialisierung Nordkurdistans geschah Ende der 1930er Jahre. In diesem Zeitraum wurde es zu einem Teil des türkischen Binnenmarkts gemacht. Man muss das Dersim-Massaker auch in dieser Hinsicht einordnen. Die türkische Bourgeoisie drang in bestimmte kurdische Gebiete, in die sie bis dahin nicht eindringen konnte, auf diese Weise ein. Sie bezog Gebiete in ihren Binnenmarkt ein, die sie bis dahin nicht darin integrieren konnte. Die Beanspruchung der Reichtümer Nordkurdistan durch die türkische Bourgeoisie zeichnet sich durch totale Ausplünderung und einseitigen Abfluss der Reichtümer in die Türkei aus. Die Ausplünderung der türkischen Bourgeoisie in Nordkurdistan trug unvermeidlich dazu bei, die kapitalistischen Beziehungen zu entwickeln und führte zur Gründung kapitalistischer Betriebe. Als Ergebnis dessen wurde der Kapitalismus in Nordkurdistan erst über die Staatsunternehmen entwickelt. Der in Nordkurdistan produzierte Mehrwert wurde vor allem durch die Staatsunternehmen geschaffen. Die Privatinvestitionen blieben sehr begrenzt und gingen kaum von kurdischem Kapital aus.
Die türkische Bourgeoisie war bestrebt, den Verkehr zu entwickeln, um die Reichtümer von Nordkurdistan zu verwerten. Den Eisenbahnbau in der kemalistischen Zeit sollte man auch von diesem Standpunkt betrachten. Außerdem sollte man auch den Ausbau der Straßen und des Luftverkehrs nicht nur von einem militärischen Standpunkt aus analysieren.
Der Außen- und Binnenhandel in Nordkurdistan sind nicht mehr total in den Händen des türkischen Kapitals wie früher. Heute gibt es in kurdischen Städten neben den türkischen Handelsunternehmen auch kurdische und türkisch-kurdische Handelsunternehmen. Man kann auch heute nicht mehr behaupten, dass Im- und Export in den kurdischen Städten weiterhin vom türkischen Kapital kontrolliert werden würden.
Die Tage der feudalen Ausbeutung in der Landwirtschaft Nordkurdistan sind gezählt. In diesem Sinne ist auch das politische und ökonomische Zusammengehen der türkischen Bourgeoisie mit den kurdischen feudalen Großgrundbesitzer zu Ende. Stattdessen gibt es heute in der Landwirtschaft Klassenbeziehungen, die – wie auch immer sie aussehen mögen – auf kapitalistischer Ausbeutung basieren.
Der sich in Nordkurdistan in der Landwirtschaft entwickelnde Kapitalismus hat eine Überbevölkerung in der Landwirtschaft hervorgebracht. Außerdem hat wegen des schmutzigen Krieges eine Binnenmigration in die kurdischen und türkischen Großstädte eingesetzt. Das Ergebnis dessen ist billige Arbeitskraft in der Türkei und in den kurdischen Städten.
Fazit: Der sich in Nord-Kurdistan entwickelnde Kapitalismus ist kein eigenständiger Kapitalismus in den Grenzen der Türkei, der besondere Eigenschaften aufweist; er ist ein verlängerte Arm, ein Teil des türkischen Kapitalismus; er ist ein sich unter den kolonialistischen Bedingungen entwickelnder Kapitalismus.“2
Der Auszug belegt, dass der Kapitalismus in Nordkurdistan eingedrungen ist und sich dort entwickelt. Der Kapitalismus bringt alle Klassen der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem hervor. Daraus folgt, dass die kurdische Nation nicht nur aus einem homogenen Volk, einer Masse Unterdrückter und Ausgebeuteter oder gar nur aus ArbeiterInnen besteht. Die kurdische Nation unterteilt sich wiederum in verschiedene gesellschaftliche Klassen, wie sie für den Kapitalismus typisch sind. Es existiert eine, wenn auch schwach entwickelte, kurdische Bourgeoisie, die als Ausbeuterklasse in Kurdistan tätig ist. Nur ihrem kleinsten Teil aber gelingt der Sprung zur Großbourgeoisie. Natürlich ist aber auch das türkische Kapital sehr einflussreich im kolonialisierten Nordkurdistan und nimmt einen Großteil des dort erzeugten Mehrwerts mit sich in den Westen der Türkei.
Die sozioökonomische Gliederung der Gesellschaft prägt den Charakter jeder nationalen Befreiungsbewegung, auch wenn die eine oder andere Klasse mitsamt ihrer Interessen mehr oder weniger im Vordergrund stehen kann.

Marxismus-Leninismus und nationale Frage

Der Raum auf diesen Seiten ist begrenzt. Auf diverse Fragen, die immer wieder im Zusammenhang mit der kurdischen Befreiungsbewegung gestellt werden, können wir deshalb hier nicht eingehen oder sie nur kurz umreißen. Die Quellennachweise können aber zur Vertiefung hilfreich sein. Besonders hervorzuheben sind unserer Meinung nach einerseits die klassischen marxistisch-leninistischen Texte zum Thema der nationalen Frage; insbesondere „Marxismus und Nationale Frage“ von J.W. Stalin und andererseits „Die Nationale Frage in der Türkei“ von Ibrahim Kaypakkaya.3
An der Haltung des Marxismus-Leninismus ist uns wichtig hervorzuheben, dass die nationale Bewegung sich von der kommunistischen Bewegung unterscheidet. Sie bringt nicht nur die Interessen der ArbeiterInnenklasse, sondern die Interessen einer ganzen unterdrückten Nation und somit sämtlicher Klassen dieser Nation zum Ausdruck bringt. Prägend für die Nationalbewegungen sind dabei in der Regel die Interessen der Bourgeoisie, die einen eigenen Markt als Voraussetzung für ihre Entfaltung benötigt. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, entwickelt die Bourgeoisie einen Nationalstolz und empört sich über die nationale Unterdrückung. Ungelöste nationale Fragen wurzeln praktisch immer darin, dass die Bourgeoisie einer unterdrückenden Nation, der Bourgeoisie der unterdrückten Nation, den eigenen Markt nicht gewähren will.
Dementsprechend müssen wir auch mit anderen Ansprüchen an Programmatik, Kampfmethoden und Organisationsformen einer nationalen Befreiungsbewegung herangehen, als an eine kommunistische Bewegung. Beispielsweise wäre es falsch, sich von der Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung abzuwenden mit dem Verweis darauf, dass die Fortschritte bei der Enteignung der alten herrschenden Klassen dort nicht zufriedenstellend seien. Wir können nicht von einer nationalen Befreiungsbewegung erwarten, dass sie unsere Aufgaben als KommunistInnen löst und den Sozialismus einführt.
Warum sollten die KommunistInnen dann überhaupt eine nationale Bewegung unterstützen oder teilweise unterstützen?
Der Kampf einer unterdrückten Nation ist ein gerechter Kampf. Wie sollen die KommunistInnen die politische Führung der ArbeiterInnen und Werktätigen erobern, wenn sie sich dort, wo elementare demokratische Rechte nicht gewährt werden, von dieser Frage fernhalten? Im Falle unterdrückter Nationen wie in Kurdistan, wo der staatliche Terror gegen die Bevölkerung Alltag ist und zugleich dieser Alltag von der kolonialen Herrschaft geprägt ist, wird es die kurdische ArbeiterInnenklasse zweifellos als Verrat werten, wenn die KommunistInnen dem Kampf gegen die nationale Unterdrückung fernbleiben. Sie werden dann in der nationalen Bourgeoisie die einzigen konsequenten Vertreter ihrer Interessen erkennen.4

Die Kurdische Befreiungsbewegung

Der Inhalt der nationalen Bewegung kann natürlich nicht überall der gleiche sein: er wird ganz und gar durch die verschiedenartigen Forderungen bestimmt, die von der Bewegung aufgestellt werden.5
Wenn wir jetzt einige Überlegungen zur kurdischen Befreiungsbewegung anstellen, werden wir uns vor allem mit der PKK und ihrer Entwicklung beschäftigen. Das ist möglich, weil die PKK die prägende Kraft der kurdischen Befreiungsbewegung ist. Die KDP, eine südkurdische Partei, Repräsentantin der Interessen eines Teils der kurdischen Bourgeoisie, hat begrenzten Einfluss. Sie hat ihre Bedeutung für die Befreiungsbewegung verloren, weil sie sich von diesem Pfad abgewandt hat, in dem sie ein Bündnis mit dem US-Imperialismus und der Türkei eingegangen ist.
A flag of Kurdish workers Party (PKK) hangs on a barricade as armed kurdish militants man a barricade, on November 18, 2015 in the Sur district of Diyarbakir. Tensions rose when pro-Kurdish MP Leyla Zana began her oath with "Biji Asiti", or "Long live peace" in Kurdish. The phrase triggered a storm that recalled her memorable swearing-in 24 years ago when she also spoke the language that was then still taboo in public. AFP PHOTO/ILYAS AKENGIN        (Photo credit should read ILYAS AKENGIN/AFP/Getty Images)

Die ideologische Entwicklung der PKK

Bis zu ihrem V. Kongress im Januar 1995 ist der Kern des PKK Programms, die Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Staat – also die Lostrennung von der Türkei – gewesen. Mit dem zuvor gesagten im Hinterkopf stellt uns die Analyse dieser Forderung vor keine großen Probleme. Zu betonen ist aber, dass die kurdische Befreiungsbewegung von Beginn an einen mit anderen Befreiungsbewegungen verglichen überaus fortschrittlichen Charakter trug.
Die führenden Kader dieser Partei waren in der 68er Bewegung und der danach gestärkten ML-Bewegung der Türkei politisiert worden. Diese Beeinflussung durch den Marxismus-Leninismus durchmischte sich mit kurdischem Nationalismus,6 sie kommt aber zum Beispiel in der Wahl des Namens PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) zum Ausdruck. Die militante Haltung der damaligen Führungskader gegenüber dem Staat spiegelte sich unter anderem in Selbstverbrennungen und Hungerstreiks wieder, in denen auch vier ZK-Mitglieder der PKK ihr Leben verloren. Sie hatte positive Rückwirkungen auf die kommunistische Bewegung der Türkei und Kurdistans. Die kurdische Befreiungsbewegung entwickelte sich zum bedeutsamsten und massenhaftesten Teil des Widerstands gegen den türkischen Faschismus gerade in den Zeiten, in denen durch den Militärputsch von 1980 die kommunistische Bewegung im Westen der Türkei überaus schwere Rückschläge hinnehmen musste und bleibt es bis heute. Die PKK traf nach ihrer Gründung bewusst den Entschluss, nicht in den Städten, sondern in den kurdischen Bergen eine Guerilla aufzubauen. Der Umstand, dass diese Guerilla knapp vierzig Jahre bis zum heutigen Tag ihre Existenz gegen die zweitgrößte Armee der NATO verteidigt, ist ein beispielhafter militärischer und politischer Erfolg. Schon diese Tatsachen und Verdienste rechtfertigen es voll und ganz die Tradition der kurdischen Befreiungsbewegung als „heroisch“ zu bezeichnen.

Demokratischer Konföderalismus

Auf dem Höhepunkt des Guerillakriegs gegen den türkischen Staat in den 90er Jahren setzte eine Entwicklung ein, die heute in der kurdischen Bewegung als „Paradigmenwechsel“ bezeichnet wird. Die Streichung der Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Staat, der Beginn des Friedensprozesses und die von A. Öcalan ausgearbeitete Ideologie des „Demokratischen Konföderalismus“ gehören zu dieser Entwicklung.7
Der Paradigmenwechsel der kurdischen Befreiungsbewegung wird in Öcalans Werk Jenseits von Staat, Macht und Gewalt dargestellt. Öcalan revidiert hierin in vielen Punkten die von ihm und der PKK früher vertretenen, vom Marxismus-Leninismus beeinflussten, Auffassungen: „Während der Zeit auf Imrali hatte ich Gelegenheit, alle diese Fragen mit einigem gewissen Abstand neu zu durchdenken. Ich habe den Marxismus von Neuem analysiert, genauso wie andere Utopien von Freiheit und Gleichheit und die Begriffe Staat, Demokratie, Macht und Krieg.“8

Staat und demokratische Selbstverwaltung in der kurdischen Bewegung

Wie der Titel von Öcalans Buch verrät stellt er seine Kritik an Staat, Macht und Gewalt ins Zentrum.
Der Ausgangspunkt des Marxismus in der Staatsfrage ist die Analyse der Klassenverhältnisse in einer Gesellschaft. Er sieht die Umwälzung dieser Verhältnisse als Voraussetzung auch alle anderen Formen von Unterdrückung in der Gesellschaft zu beseitigen. Den Staat verstehen die Marxisten-Leninisten als Instrument der Klassenherrschaft. Dieses Instrument kann in den Händen der ArbeiterInnenklasse der Verteidigung des Sozialismus und dem Fortschreiten zum Kommunismus dienen und in diesem Prozess wird der Staat absterben. Ein kapitalistischer Staat jedoch dient hauptsächlich zur Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse und zur Verhinderung der Revolution. Der Marxismus-Leninismus sagt also: Es kommt auf den Klassencharakter des Staates an.
Öcalan schreibt dagegen: „Dabei sind Staat, Macht, Krieg und Armee Produkte der Zivilisation der Klassengesellschaft und sind in absoluter Hinsicht die unverzichtbaren Instrumente für das Leben der herrschenden, ausbeutenden Kreise. Diese Instrumente in die Hände des Proletariats zu legen, bedeutet von Anfang an die Entscheidung zu fällen, sich ihnen anzugleichen.9 Die Argumentation Öcalans, den Staat unabhängig von seinem Klassencharakter als letzten Grund für die Ausbeutung und Unterdrückung anzusehen, gleicht der Argumentation anarchistischer „Klassiker“10
Interessanter ist aber noch die Frage, ob das kurdische Volk wirklich auf „Staat, Macht, Krieg und Armee“ verzichten kann.
Öcalans Schlussfolgerung aus seiner radikalen Staatskritik ist paradoxerweise, dass er dem türkischen Staat – der Verkörperung von „Macht und Gewalt“ schlechthin – Kompromisse und Verständigung anbietet.
Öcalan betont den Gegensatz zwischen Gesellschaft und Demokratie einerseits und dem Staat andererseits.11 Das alte Programm der PKK bestand darin, den türkischen Staat auf einem Teil seines Territoriums zu entmachten und einen neuen kurdischen Staat an seine Stelle zu setzen. Das neue Programm kann man in diesem Punkt so zusammenfassen, dass der Staat so weit demokratisiert werden soll, dass innerhalb des Staates „die Demokratie“, d.h. konkret die Selbstverwaltung der kurdischen Nation errichtet werden kann.12
Wir können diesen Teil des Paradigmenwechsels als unverzichtbare Voraussetzung für den in den vergangenen Jahren laufenden Friedensprozess zwischen PKK Führung und türkischen Staat betrachten. Dies bleibt zutreffend, auch wenn dieser Prozess momentan von der AKP-Regierung „auf Eis“ gelegt wurde. Die Kritik an der angeblichen Überbewertung der Staatsfrage wird zum Ausgangspunkt dafür, das Streben nach staatlicher Unabhängigkeit der kurdischen Nation aufzugeben.13
Krieg gegen die Kurden: Mittlerweile rollen Panzer durch Amed
Krieg gegen die Kurden: Mittlerweile rollen Panzer durch Amed
Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, der kurdischen Nation den Weg ihrer Befreiung vorzuschreiben. Neben der Abtrennung der unterdrückten Nation von der unterdrückenden Nation ist es theoretisch durchaus denkbar eine nationale Frage im Rahmen eines Staates zu lösen, wie es die PKK nun fordert.
Überdies ist jede Demokratisierung der faschistischen Türkei zu begrüßen und erleichtert den KommunistInnen die Aufgabe, sich mit den ArbeiterInnen zu verbinden. Folgerichtig beteiligen sich auch verschiedene kommunistische Kräfte an der HDP, einer Bündnispartei der türkischen fortschrittlichen und revolutionären Bewegung und der kurdischen Freiheitsbewegung.
Jedoch zeigen sowohl die letzten Jahrzehnte als auch konkret die Monate seit dem Wahlsieg der HDP am 7. Juni 2015, wie gering die Bereitschaft des türkische Regimes für eine solche Lösung ist. Bereits Ende Oktober 2014, also kurz nachdem es gelungen war Kobanê gegen die Belagerung des IS zu verteidigen, beschloss der Nationale Sicherheitsrat der Türkei, man werde keinen „Staat im Staat“ dulden und Maßnahmen treffen, um die Stabilisierung von Selbstverwaltungsstrukturen in Nordkurdistan zu verhindern. Zuvor hatte die kurdische Befreiungsbewegung auf Grundlage der in der Türkei sehr begrenzten Rechte und Möglichkeiten von Kommunalpolitikern schon in den letzten Jahren Schritt für Schritt versucht, Teile einer kurdischen Selbstverwaltung zu verwirklichen. In Städten mit gewählten kurdischen PolitikerInnen werden kurdische Sprach- und Kulturzentren errichtet, Rätestrukturen ins Leben gerufen und Kollektive zur gegenseitigen Unterstützung zum Beispiel in der Nachbarschaft gebildet.
Nach dem Wahlsieg vom 7. Juni ist die Bewegung noch stärker in die Offensive gegangen. Sie hat begonnen, die Selbstverwaltung in mehreren nordkurdischen Städten wie Cizre, Silopi, Nusaybin, Yüksekova, Hakkari, Van, Diyarbakır, Silvan, Varto auszurufen und dabei auch Polizei und Militär aus diesen Städten zu verdrängen bzw. ihren Bewegungsspielraum massiv einzuschränken. Der Staat hat auf diese Versuche mit großer Härte reagiert. Das türkische Militär verhängt den Belagerungszustand und Ausgangsperren über die betreffenden Städte und Stadtteile. Der militante Kern des Widerstands in der Bevölkerung, die YDG-H Milizen wird gezielt bekämpft und getötet. Seit dem 7. Juni sind über 500 Todesopfer in den Auseinandersetzungen mit dem Staat zu beklagen. Bei seinem militärischen Vorgehen achtet der faschistische türkische Staat aber darauf, nicht willkürlich die Bevölkerung zu ermorden. Er unterbindet somit die Versuche, das staatliche Gewaltmonopol zu brechen, sehr entschlossen, bemüht sich aber zugleich einen Wutausbruch der terrorisierten kurdischen Bevölkerung wie beim Sherhildan vom 6. bis 8. Oktober 2014 zu vermeiden.
Die Ausrufung der demokratischen Selbstverwaltung in Nordkurdistan ist zu einem wichtigen Kampfmittel geworden, um die Autorität des Staates in Frage zu stellen und das Beispiel der Rojava-Revolution in den Norden zu tragen. Ihre Möglichkeiten sich zu entfalten, sind aber aufgrund des staatlichen Terrors sehr begrenzt geblieben.
Viele AnarchistInnen betrachten die momentanen Errungenschaften der kurdischen Bewegung als wichtige Vorbilder, als Versuche den Anarchismus in die Tat umzusetzen. Wir stimmen zu, dass es sich um wichtige Vorbilder handelt, von denen wir so viel wie möglich lernen müssen. Aber gerade in Nordkurdistan wird eben auch deutlich, was ein bürgerlicher Staat tut, wenn Konzepte, eine freie Gesellschaft neben dem Staat aufzubauen, einen gewissen Grad an Massenhaftigkeit und Ernsthaftigkeit erreicht haben: Er bietet die staatliche Gewalt auf, um diese Versuche zu unterbinden.
Diese Erfahrung müssen wir auswerten und daraus Schlüsse ziehen. Es ist und bleibt unmöglich die Befreiung zu erreichen, ohne mit dem Staat als Ganzes fertig zu werden.
Obwohl wir nicht der Meinung sind, dass der Paradigmenwechsel der kurdischen Freiheitsbewegung die Befreiung von der Unterdrückung durch den türkischen Staat erleichtert hat, möchten wir zwei Dinge betonen: Erstens ändert das nichts am grundlegenden Charakter der kurdischen nationalen Frage – wie oben dargestellt – und auch nichts daran, dass die kurdische Befreiungsbewegung eine fortschrittliche und unterstützenswerte Kraft bleibt. Zweitens möchten wir betonen, dass trotz einer ideologischen Abkehr vom Ziel der Machtergreifung, die PKK und auch Öcalan selbst direkt und indirekt hundertfach mehr zur Vorbereitung des revolutionären Bürgerkriegs in der Türkei und Kurdistan beigetragen haben, als wir es in Deutschland heute realistischerweise für uns hoffen können.
In Syrien, wo die imperialistischen Widersprüche aus der ganzen Welt gerade aufeinander prallen, wurde die kurdische Bewegung unter anderen Bedingungen vor die Herausforderung gestellt, den „demokratischen Konföderalismus“ in die Tat umzusetzen. Die Rojava-Revolution und der Tod tausender Revolutionäre sind ein schmerzlicher Beleg für die Tatsache, dass eine politische Kraft, die keine militärische Macht entfaltet, im Mittleren Osten heute zermalmt wird. Die Volks- und Frauenverteidungskräfte (YPG/YPJ) sind die Antwort der Rojava-Revolution auf dieses Problem.
Öcalans Ideen entsprechend betrachten die Rojava Revolutionäre, die von ihnen aufgebauten Rätestrukturen, Verwaltungsorgane und militärischen Kräfte nicht als Staat. Zumindest wenn wir die marxistisch-leninistische Definition von Staaten zu Grunde legen14 können wir aber nicht feststellen, was das revolutionäre Rojava von einem Staat unterscheiden soll? Der Aufbau von „besonderen Abteilungen bewaffneter Menschen“ ist in Rojava eine Lebensnotwendigkeit; ebenso wie das zentralisierte Agieren aller Kantone, um das Überleben in militärischer und ökonomischer Hinsicht so gut es geht zu ermöglichen.

Nation und Nationalismus

Öcalans Paradigmenwechsel enthält auch eine Kritik an den früheren Positionen der PKK, die er als dogmatisch und nationalistisch ansieht. 15
Aus kommunistischer Sicht ist es zu begrüßen, wenn eine nationale Befreiungsbewegung gegen die Ausbreitung des Nationalismus in ihren Reihen einen Kampf führt. Das erleichtert die Verbindung mit den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse in der unterdrückenden Nationen (in diesem Fall Türkei) und lässt die nationale Befreiungsbewegung leichter zu einem Teil einer allgemeinen demokratischen Bewegung werden. Diese Möglichkeiten haben in der HDP einen organisatorischen Ausdruck bekommen.
Auch ist zu sagen, dass gerade im Mittleren Osten, den die Imperialisten über Jahrzehnte bis heute mit verschiedenen Formen des religiösen und nationalistischen Chauvinismus zu spalten und somit zu beherrschen versucht haben, diese fortschrittliche Besonderheit der kurdischen Bewegung besonders in den Vordergrund treten kann.
Die Herangehensweise Rojava nicht als Revolution der KurdInnen, sondern aller dort lebenden Völker zu betrachten, setzt diese Gedanken in die Praxis um. In diesem Sinne können wir davon sprechen, dass die Rojava-Revolution zu einem Beispiel für die unterdrückten Völker der Welt werden kann.
Wir sehen, dass unter weiten Teilen der politischen AktivistInnen Öcalans „Überwindung des Nationalismus“ zwar positive Wirkungen in dem Sinne gezeigt hat, dass der „engstirnige Horizont“ einer rein kurdischen Frage gesprengt wurde. Andererseits ist der kurdische Nationalismus unter den Massen damit nicht beseitigt und wird so auch nicht beseitigt werden. Wir müssen uns vor Augen führen, dass nationalistische Gefühle nicht auf diesen oder jenen Schriften der PKK basieren, sondern hauptsächlich auf objektiven Faktoren. Der Nationalismus vergrößert und verkleinert sich abhängig davon, ob die unterdrückte Nation mehr oder weniger unterdrückt wird. Nur wenn eine Nation nicht gegen ihren Willen unterdrückt und in einem anderen Staat festgehalten werden kann, verschwindet die Grundlage des Nationalismus. Abgesehen davon, dass der Nationalismus einer unterdrückten Nation in begrenztem Rahmen objektiv durchaus fortschrittlichen Charakter haben kann, steht also die Beseitigung des „kurdischen Nationalismus“, von der Öcalan schreibt, nicht vor sondern nach der Lösung der kurdischen Frage an.

Frauenfrage

Die Bedeutung der Frauenfrage in den Vordergrund zu stellen ist ein weiterer Aspekt des Paradigmenwechsels. Die Frauenfrage wird zum „Dreh- und Angelpunkt der gesellschaftlichen Transformation16 erklärt. Öcalan kritisiert gemeinsam mit der kurdischen Frauenbewegung, aus unserer Sicht zu Recht, dass die Bemühungen für die Befreiung der Frau in der Geschichte der kommunistischen Bewegung nicht ausreichend waren. Seine Antwort in theoretischer Hinsicht formuliert er als Aufbau „eigener politischer Parteien, […] einer im Volk verankerten Frauenbewegung, den Aufbau eigener zivilgesellschaftlicher Organisationen und Strukturen der demokratischen Politik.17
Kämpfende kurdische Jugend
Kämpfende kurdische Jugend
In den vergangenen Jahrzehnten haben die kurdischen Frauen vieles geleistet, was von der kommunistischen Bewegung aufgenommen werden muss. Beispielsweise die Erfahrungen der eigenständigen Frauenorganisierung auf politischer und militärischer Ebene müssen von uns ausgewertet werden. Obwohl diese Fragen für uns und die kommunistische Bewegung in Deutschland noch nicht geklärt sind, können wir feststellen, dass der Kampf der Kurdinnen zu Recht weltweit als Vorbild im Frauenbefreiungskampf gesehen wird.
Dieser Aspekt findet sich auch in der Rojava-Revolution wieder. Nicht nur, dass die Frauen dort bewaffnet an der Verteidigung teilnehmen, sie haben sich auch Möglichkeiten geschaffen, darüber hinaus am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, Frauenräte gebildet und Strukturen, um patriarchale Gewalt zu unterbinden. Sie bilden eigene Frauen-Akademien, um auch in dieser Hinsicht nicht von den männlich dominierten vorhandenen Bildungsmöglichkeiten abhängig zu sein. Diese Entwicklungen sind an sich sehr fortschrittlich und mehr als zum Beispiel in Westeuropa bisher erreicht wurde. Im von konservativen Rollenbildern geprägten Mittleren Osten tritt aber noch stärker hervor, dass die Frauen die Revolution ausnutzen, um aus ihrer gesellschaftlichen Isolierung und Gebundenheit an den Haushalt auszubrechen.

Die Perspektiven der kurdischen Bewegung und die Rojava-Revolution

Beginnend mit der Rojava-Revolution im Jahr 2012 hat die kurdische Bewegung neben Nordkurdistan eine heute mindestens ebenso bedeutende zweite Kampffront eröffnet. Die Entwicklungen an beiden Fronten müssen im Zusammenhang analysiert werden.
In Nordkurdistan hat Öcalan als anerkannter Führer der kurdischen Bewegung den Vorschlag für einen Friedensprozess und den Aufruf zu einer friedlichen, politischen Lösung der kurdischen Frage auf den Tisch gelegt. Wie oben dargestellt dienen seine Erarbeitungen in „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ als ideologisches Fundament dafür. Die Wahlerfolge der HDP für den 7. Juni 2015 aber auch der Verlust hunderttausender Wählerstimmen bei der erzwungenen Neuwahl am 1. November unter den Bedingungen des von der Türkei entfachten Kriegs gegen die kurdische Bewegung sind Belege für den Wunsch nach Frieden sowohl in der türkischen wie auch in der kurdischen Bevölkerung.
Die politische Führung der PKK teilt diesen Wunsch ganz offensichtlich. Die unnachgiebige Haltung des türkischen Staats, der nicht mehr tut, als den Friedensprozess abhängig von den momentane Erfordernissen seiner Innen- und Außenpolitik abwechselnd stagnieren zu lassen oder als Fassade am Leben zu erhalten, ist der Grund für das Weiterbestehen der nordkurdischen Guerilla HPG. Öcalan jedenfalls hat ihre Auflösung und Eingliederung in die türkische Gesellschaft unter Aufsicht der USA, der EU und der UN in seiner „Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage “ vorgeschlagen, sobald der Friedensprozess in der Türkei auf eine rechtliche Grundlage gestellt ist.18
Natürlich ist das Vorgehen der AKP-Regierung in dem Sinne demagogisch, dass der Friedensprozess ohne ernsthafte Schritte zum Schein aufrecht erhalten bleibt. Andererseits ist die Situation im Mittleren Osten sehr komplex. Die Türkei als aufstrebendes kapitalistisches Land, dass parallel zu seinem zunehmenden Kapitalexport mehr und mehr regionale Hegemonieansprüche entwickelt, könnte durchaus ein ernsthaftes geopolitisches Interesse an einer Verständigung mit der kurdischen Bewegung und der Beseitigung dieses „innenpolitischen Problems“ haben. Sie könnte dann sogar hoffen über Rojava in Syrien ihren Einfluss zu vergrößern. Es ist aus unserer Sicht also durchaus anzunehmen, dass selbst der momentan gegen die Freiheitsbestrebungen in Nordkurdistan geführte Vernichtungskrieg auch dazu dient, taktisch eine erneute Verhandlungsrunde mit geschwächter Verhandlungsposition für die PKK vorzubereiten. Jenseits faschistischer Allmachtsfantasien beim Fußvolk in den ‘Osamanischen Vereine’ ist der türkischen Bourgeoisie durchaus bewusst, dass es unter den heutigen Bedingungen im Mittleren Osten dauerhaft keine rein militärische Lösung der kurdischen Frage geben wird.
Unsere Aufgaben liegen insofern auf der Hand: Das Vorgehen des türkischen Staat entlarven und die demokratischen Forderungen des kurdischen Volks verteidigen.
Auf die Verhandlungsposition der kurdischen Bewegung haben auch die Entwicklungen in Rojava starken Einfluss. Dies ist einer der Gründe für die jahrelange kaum verdeckte Unterstützung der AKP für den IS.
Kämpferinnen der kurdischen Frauenguerilla YPJ
Kämpferinnen der kurdischen Frauenguerilla YPJ
Rojava ist international zum Symbol des gerechten kurdischen Kampfes geworden. In Rojava bemüht sich die Bewegung, ihre Ideale in die Tat umzusetzen. Rojava spielt aus geopolitischer Sicht im syrischen Bürgerkrieg eine immer größere Rolle. Die Verbindung von Afrin und Kobane würde dem türkischen Kapital und seinem Staat – ohne Verständigung mit der kurdischen Bewegung – den Weg nach Süden abschneiden.
Einige Errungenschaften der Rojava-Revolution haben wir bereits weiter oben sowie in anderen Artikeln und Erklärungen erwähnt. Zu betonen ist besonders, dass die Revolution Millionen Menschen den Anstoß bietet, sich zu politisieren und die Gestaltung ihres Lebens in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn wir uns die Schilderungen aus der Revolution anhören, sehen wir, dass die Zahl der Revolutionäre von einem zu Beginn sehr engen Kern auf einen bedeutenden Anteil der Gesamtbevölkerung gewachsen sind. Immer wieder hören wir Berichte davon, dass es in Rojava kaum eine kurdische Familie gibt, in der nicht wenigstens ein Familienmitglied in den YPG/YPJ mitkämpft. Die Verteidigungskräfte sind zusätzlich – auch aufgrund der schwierigen militärischen Lage – so aufgebaut, dass sie sich nicht nur auf Vollzeit-KämpferInnen stützen, sondern auch Teilzeit-Einsätze ermöglichen bis hin dazu, dass ZivilistInnen in ihren Stadtvierteln Selbstverteidigungsstrukturen bilden.
Die Revolution begann als das in Nordsyrien entstandene Machtvakuum von der PYD ausgenutzt wurde. Heute haben sich die KurdInnen soweit militärisch und politisch stabilisiert, dass auch die verschiedenen Imperialisten gezwungen sind anzuerkennen, dass sie die „einzig verlässliche Kraft im Kampf gegen den IS“ sind, wie es die PYD schon seit längerem verkündet hat. Dies stärkt die Position der Rojava-Revolution in bestimmter Hinsicht. Sowohl Russland als auch die USA buhlen um ein taktisches Bündnis mit der YPG/YPJ, um ihren Einfluss in Syrien auszudehnen. Mit dem direkten Eintritt Russlands in den Syrienkrieg hat dieser Konkurrenzkampf noch schärfere Formen angenommen. Es sind auch diese innerimperialistischen Widersprüche, die die Bedingungen für die Verteidigung der Revolution verbessern. Würde sich die eine oder andere Seite ohne weiteres durchsetzen, wären vermutlich weder Assads Regime noch die „Rebellen“ bereit, den Prozess in Rojava zu akzeptieren. So aber kann sich die Revolution entfalten und unter den Menschen ein politisches Bewusstsein schaffen, dass nicht einfach durch einen politischen Federstrich aus der Welt zu schaffen ist. In diesem Sinne spielt die Zeit für Rojava.
Andererseits geben die Imperialisten im allgemeinen nichts ohne einen Preis zu verlangen. Sowohl der von Russland geleitete Block als auch die Allianz um die USA versuchen, die kurdischen Kräfte in ihrem Sinne in Marsch zu setzen. Die USA verfolgen hauptsächlich das Ziel den IS in Richtung Raqqa weiter zurückzudrängen. Russland dagegen will erreichen, dass die Gebiete um Aleppo von Kräften besetzt werden, die nicht von der NATO geleitet werden. Parallel zum diplomatischen Versuch einer oberflächlichen Verständigung der verschiedenen imperialistischen Großmächte und ihrer regionalen Helfer über eine Übergangsregierung, einen Waffenstillstand und die Organisation von Neuwahlen, ist tatsächlich am Boden der Krieg um die Kontrolle der entscheidenden Gebiete Syriens noch stärker entbrannt. Den 2012 eingeschlagenen 3. Weg der Unabhängigkeit von den sich bekriegenden Machtblöcken zu verlassen, stellt eine große Gefahr für die Revolution und ihre Ziele dar. Die USA beispielsweise verfolgen ganz offenbar das Ziel, die PYD zu zwingen, die kollaborierende Haltung der KDP zu übernehmen.
Die Tatsache, dass der Mittlere Osten ein Mosaik verschiedener Völker ist, führt dazu, dass auch die Herrschenden anderer Staaten der Region Schwierigkeiten im Umgang mit der Rojava-Revolution haben. Einerseits entwickelt sich Rojava mehr und mehr zu einer Kraft, „an der man nicht vorbei kann“, wenn man in Syrien Einfluss nehmen will, andererseits kann eine Unterstützung für die kurdische Nationalbewegung leicht das Echo von stärkeren Nationalbewegungen auch z.B. im Iran nach sich ziehen.
In ökonomischer Hinsicht steht die Rojava-Revolution vor dem Problem, in einer anhaltenden Kriegssituation und in politischer Umzingelung zu überleben. Das de facto Embargo der Türkei und der nordirakischen kurdischen Autonomiegebiete verfehlt seine Wirkung nicht und hemmt die Möglichkeiten der Entwicklung in Rojava stark. Eine mögliche Lösung für dieses Problem besteht darin, den sozialistischen Weg zu beschreiten. Einerseits ist es so, dass die kleinen reichen Teile der westkurdischen Bevölkerung das Land größtenteils verlassen haben.19 Die natürlichen Widerstandskräfte gegen den Weg des Sozialismus sind somit vor Ort wenig präsent. Zurückbleiben unterentwickelte kapitalistische Verhältnisse, die stark von Kleinproduktion und Kleineigentum in den Städten und Dörfern geprägt sind. Tatsächlich ist es unter diesen Umständen zu freiwilligen Zusammenschlüssen in gesellschaftlichen Betrieben in Form von Kooperativen gekommen. Uns ist nicht bekannt, wie groß diese Entwicklung ist, sie scheint aber nicht vorherrschend zu sein. Vieles spricht außerdem dafür, dass diese Entwicklungen auch durch den enormen Druck des Krieges ausgelöst wurden. Nach dessen Ende wird bei einem spontanen Verlauf der Dinge eine Entwicklung zurück zum kapitalistischen Privateigentum erfolgen.
Für die KommunistInnen sind die Gefahren, die der Revolution von verschiedenen Seiten drohen, kein Grund, sich von ihr abzuwenden. Wenn wir an Rojava mit der naiven-kindlichen Vorstellung herantreten, dort inmitten eines imperialistischen Stellvertreterkrieges, eine widerspruchsfreie Verwirklichung all unserer Träume vorzufinden, können wir nur enttäuscht werden. Nehmen und unterstützen wir den Prozess dort also als das, was er ist: Eine demokratische Revolution, die sich nicht den Aufbau des Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hat. Durch unsere Arbeit auf allen Ebenen müssen wir ihr gerade wegen der Umzingelung durch den Imperialismus Beistand leisten.
Die gegenwärtige widersprüchliche Lage des deutschen Imperialismus bietet uns dafür besondere Freiräume und Möglichkeiten. Obwohl auch unser Feind die ausstrahlende Wirkung der Rojava-Revolution und die Bedeutung des Internationalen Freiheitsbatallions (IFB)20 sehr wohl verstanden hat, ist der deutsche Staat bisher nicht dazu übergegangen, jegliche Propaganda für Rojava und das IFB zu kriminalisieren. Gründe dafür dürften darin liegen, dass es schwer fällt, die Legitimität des Kampfes gegen den IS in Frage zu stellen und sich die Kriminalisierung von deutschen InternationalistInnen in Rojava schnell in ein Eigentor verwandeln könnte. Es gilt, diese Situation offensiv auszunutzen. Die Welt bietet uns heute nicht viele Vorbilder, an denen wir den Massen aufzeigen können, dass die Revolution, das Streben nach Demokratie und Unabhängigkeit der Völker, die kommunistische Weltbewegung und der proletarische Internationalismus nicht tot, sondern sehr lebendig sind.
1Auch zuvor hat kein kurdischer Nationalstaat existiert. Kurdistan war zwischen dem Osmanischen Reich und Persien aufgeteilt.
2İ. Okçuoğlu: Kuzey Kürdistan’da Kapitalizmin Gelişmesi, S. 427-429, Sınırsız Kitap, Ankara 2014
3Der Text wurde von Kaypakkaya im Rahmen einer Diskussion in der türkischen kommunistischen Bewegung verfasst, die unter anderem in der Gründung der maoistischen TKP/ML unter Führung Kaypakkayas resultierte. Auch wenn wir nicht alle Gedanken des Textes teilen, kann er immer noch als grundlegende Richtlinie für eine kommunistische Position zur kurdischen Frage dienen. Ibrahim Kaypakkaya: Die nationale Frage in der Türkei, 1971, aus Ibrahim Kaypakkaya Programmatische Dokumente 1971-1972, Verlag Trotz Alledem
4J.W. Stalin: Marxismus und nationale Frage, SW 2, S. 282: „Sie [die nationale Bewegung] lenkt die Aufmerksamkeit breiter Schichten von den sozialen Fragen, von den Fragen des Klassenkampfes auf nationale Fragen ab (…) Dies schafft aber einen günstigen Boden für die verlogene Predigt einer „Interessengemeinschaft“, für die Vertuschung der Klasseninteressen des Proletariats.
5J.W. Stalin: Marxismus und nationale Frage, SW 2, S. 281
6Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 416 f.
7Öcalans Arbeiten stellen wir hier ins Zentrum, was insofern berechtigt ist, als dass er auch in Gefangenschaft der unumstrittene ideologische Führer der PKK ist. Trotzdem darf nicht verschwiegen werden, dass die Ideologie und Positionen der kurdischen Bewegung heute nicht nur das Ergebnis der Arbeiten einer Einzelperson sind, sondern in Akademien in ganz Kurdistan, besonders aber in den Guerilla-Gebieten, zahlreiche Militante der PKK an diesen Arbeiten teilnehmen. Die Jinologie (dt. Frauenwissenschaft) ist ein Beispiel dafür.
8Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 449
9Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 155
10Zum Beispiel: Michail Bakunin: Sozialismus und Freiheit, 1871
11Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 441
12Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 461: „Diesen wichtigsten Punkt des Programms können wir unter der Überschrift „Die Demokratische Selbstverwaltung in Kurdistan und der Staat als allgemeine öffentliche Autorität“ zusammenfassen. Ein Kurdistan mit einem derartigen Status hätte einen Zustand erreicht, welcher nahe an Demokratie, Freiheit und Gleichheit herankommt. Eine Demokratie ganz ohne Staat zu fordern, bedeutet in der gegenwärtigen historischen Phase einen Selbstbetrug und Abenteurertum. Es besteht Bedarf nach einem schlankeren Staat, dessen Rahmen durch Kompromisse festgelegt wird.“
13Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 462
14Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 400-401
15Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 446
16Abdullah Öcalan: Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, S. 466
17Abdullah Öcalan: Die Revolution der Frau, International Initiative Edition 2014, S. 66
18Abdullah Öcalan: Roadmap für die Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage, http://civaka-azad.org/roadmap-fuer-die-demokratisierung-der-tuerkei-und-dieloesung-der-kurdischen-frage-2/
19Berxwedan Jiyane, Interview der ‘Perspektive Kommunismus’ mit einem Kämpfer des IFB, www.support-rojava.org/2015/12/05/interview-mit-einem-kaempfer-zur-revolution-in-rojava/
20Siehe dazu www.support-rojava.org/internationale-freiheitsbataillon/ sowie die beiden Interviews in Berxwedan Jiyane und in diesem Heft

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