OECD wägt Zuwanderungseffekte ab. Konkurrenzdruck durch EU-Binnenmigration erheblich größer als durch Flüchtlingszustrom
Von Nico Popp
Zuwanderer aus der EU sind zahlreicher und auf dem Arbeitsmarkt präsenter als Flüchtlinge: Grenzübergang bei Aachen
Foto: Oliver Berg/dpa
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Liebig konnte berichten, dass in den OECD-Staaten 2017 erstmals seit 2011 weniger »dauerhafte« Migranten registriert wurden als im Vorjahr. Als »dauerhaft« gilt ein Migrant dann, wenn ein unbefristeter oder zumindest mehrjähriger Aufenthalt im Zielland wahrscheinlich ist. Studenten im Auslandssemester, Asylbewerber ohne Aussicht auf Anerkennung oder temporäre Arbeitsmigranten – etwa Bauarbeiter oder Saisonkräfte in Hotels und Gaststätten – berücksichtigt die OECD-Statistik also nicht. 2016 kamen 5,3 Millionen, 2017 rund fünf Millionen »dauerhafte« Migranten in die OECD-Staaten. Das ist vor allem auf einen Rückgang der Asylbewerberzahl von 1,6 auf 1,2 Millionen zurückzuführen. Etwa die Hälfte dieser Asylanträge wurde in Europa registriert. Besonders stark zugenommen haben sie zuletzt jedoch nicht mehr hier, sondern in Kanada (plus 29 Prozent) und in Australien (plus 112 Prozent). In den OECD-Ländern leben aktuell etwa 6,4 Millionen Flüchtlinge, die Hälfte davon in der Türkei.
Deutschland bezeichnete Liebig als »Dreh- und Angelpunkt der Migrationsdynamik«. Auf die Bundesrepublik entfielen zwei Drittel des Anstiegs der Migrantenzahlen im Zeitraum 2015/16, aber auch die Hälfte des Rückgangs im Jahr 2017 (minus 524.000 Erstanträge auf Asyl im Vergleich zu 2016). Die meisten hiesigen Asylbewerber kamen 2017 aus Syrien (25 Prozent), gefolgt vom Irak und Afghanistan (11 bzw. 8 Prozent). In der verzerrten Zuwanderungsdebatte wird jedoch kaum noch wahrgenommen, dass die Mehrheit der Zuwanderer nicht über das Asylsystem in die BRD kommt, sondern im Rahmen der »normalen« europäischen Binnenmigration – 2016, als erstmals mehr als eine Million »dauerhafte« Migranten über die deutschen Grenzen kamen, betrug das Verhältnis etwa 4:6. Da die Zuwanderer aus anderen EU-Ländern sehr viel schneller und häufiger auf dem Arbeitsmarkt auftauchen als Asylbewerber, ist auch der Konkurrenzdruck, der von ihnen ausgeht, ungleich größer. Er wird in Zukunft möglicherweise noch zunehmen: Liebig rechnet mit »Umlenkungseffekten« durch den Austritt Großbritanniens aus der EU. Er betonte, dass sich die eigentliche Flüchtlingsmigration demgegenüber nur »sehr bescheiden« in den Beschäftigungsstatistiken niederschlage – in Deutschland und Österreich stellen Flüchtlinge den OECD-Zahlen zufolge aktuell weniger als ein Prozent des Arbeitskräftepotentials.
Die Autoren des Berichts halten eine genaue Analyse der arbeitsmarktpolitischen Implikationen der Flüchtlingsmigration dennoch für geboten. Nicht aus humanitären, sondern, wie sie ausdrücklich schreiben, »aus ökonomischen und politischen Gründen« – so sieht moderne Herrschaftsberatung aus. Sie rechnen mittel- und langfristig mit deutlichen Effekten auf den informellen oder »schwarzen« Arbeitsmarkt. Hier würden sich nach und nach abgelehnte Asylbewerber, die nicht ausreisen oder abgeschoben werden, nach Verdienstmöglichkeiten umsehen. Wirkliche qualitative Veränderungen auf dem normalen Arbeitsmarkt schließen sie aus (»modest effect on the labour supply«). Allerdings gebe es spürbare Effekte in Teilsegmenten. So habe die Zahl der jungen Männer ohne oder mit geringer beruflicher Qualifikation auf dem deutschen, österreichischen und schwedischen Arbeitsmarkt um 15 Prozent zugenommen. In diesem Bereich wird es nach Auffassung der OECD zu einem messbaren Konkurrenzdruck auch durch die Flüchtlingsmigration kommen, wenn steuernde Eingriffe durch die Politik ausbleiben. Die empfiehlt sie nachdrücklich – nicht, um den jungen Arbeitsuchenden das Leben leichter zu machen, sondern um spürbare negative Nebenwirkungen auf die öffentliche Meinung (»significant negative spillovers on the public perception«) zu vermeiden.
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