Der ostasiatische Industriestaat kommt seit Jahren nicht aus der
Krise heraus. Für das ehrgeizige Ziel, unabhängige imperialistische
Macht zu werden, soll die gesamte Bevölkerung mobilisiert werden. Japan
unter Shinzo Abe (Teil I)
Von Theo Wentzke
Das Kampfprogramm gegen die Krise heißt moralische
Erneuerung. Nach dem Willen des Ministerpräsidenten sollen sich »neue
Japaner« selbstlos zum Wohle der Nation aufopfern
Foto: Edgar Su/REUTERS
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Theo Wentzke ist Redakteur der Zeitschrift Gegenstandpunkt.
Zuletzt erschien von ihm auf diesen Seiten am 18. Mai dieses Jahres der
Beitrag »Unordnung im Hinterhof« über die EU-Politik auf dem westlichen
Balkan.
Japans Ministerpräsident Shinzo Abe regiert seit 2012
einen der weltweit größten und modernsten kapitalistischen Staaten:
Riesige Kapitale sind dort beheimatet, die in Fabriken auf technologisch
höchstem Niveau rund um die Uhr produzieren und das Land mit ihrer
fortwährend betriebenen Forschung und Entwicklung zu einer der führenden
Nationen im Bereich von Erfindungen und Patenten machen. Japan ist
komplett erschlossen mit modernster Infrastruktur von Glasfaserkabeln
über Hochgeschwindigkeitszüge bis hin zu einem auch atomar betriebenen
Energienetzwerk. Über den eigentlichen Schmierstoff einer kapitalistisch
produzierenden Nation verfügt das Land selbstredend auch: einen
entwickelten Finanzmarkt mit gewaltigen institutionellen Akteuren im
Banken- und Versicherungswesen. Dabei stehen ihm Massen lohnabhängiger
Arbeitskräfte für alle Dienste zur Verfügung, nach denen die Wirtschaft
verlangt. In deutlichem Kontrast dazu steht, woran laut Abe das
Schicksal der Nation hängt: der moralische Zustand des Volkes – seine
Arbeitsamkeit, seine Opferbereitschaft, sein kollektives
Selbstvertrauen. Um den ist es aber seiner festen Überzeugung nach
überhaupt nicht gut bestellt, womit er die nun schon seit Jahrzehnten
nicht überwundene wirtschaftliche Krise des Landes erklärt: »Die größte
Krise, der sich unser Land derzeit gegenübersieht, besteht darin, dass
die Menschen in Japan das Vertrauen in sich selbst verloren haben (…).
Wenn man das Vertrauen verloren hat, ›durch eigene Anstrengungen wachsen
zu wollen‹, dann können sowohl der einzelne als auch das Land als
Ganzes für sich keine leuchtende Zukunft erschließen.«¹
Sein
Kampfprogramm gegen die Krise stellt er folgerichtig als eines der
moralischen Erneuerung vor, das die der japanischen Volksseele seit
jeher innewohnenden Tugenden reaktivieren und so die japanische Nation
zu dem Glück und der Größe führen soll, die sie verdiene. Es geht Abe um
»nicht weniger als das Vorhaben, ›neue Japaner‹ hervorzubringen, die
die Verantwortung für die kommenden Jahre schultern werden. Wer sind nun
diese ›neuen Japaner‹? Es sind Japaner, die keine der guten Qualitäten
der Japaner vergangener Tage abgelegt haben; Japaner, die Armut
verabscheuen und fest daran glauben, dass in der Freude an harter Arbeit
universelle Werte gefunden werden können; Japaner, die sich seit den
Tagen, als Asien noch ein Synonym für ›arm‹ war, unermüdlich für den
Aufbau der asiatischen Volkswirtschaften eingesetzt haben, in der
Überzeugung, dass es keinen Grund gibt, warum nicht auch die anderen
asiatischen Länder in der Lage sein sollten, das zu erreichen, was den
Japanern selbst gelungen ist. Wie ihre Väter und Großväter erfreuen sich
die ›neuen Japaner‹ an jedem einzelnen ihrer selbstlosen Beiträge. Wenn
sich etwas verändert hat, dann, dass nun zunehmend auch Frauen sowohl
Empfänger als auch Verantwortliche für Japans Hilfe und Zusammenarbeit
sind (…).«²
Aufgeschobene Krise
Woran sich die
politischen Standorthüter Japans tatsächlich abarbeiten, ist eine Krise
der nationalen Akkumulation, die offenlegt, dass die bis zu ihrem
Ausbruch in wachsenden spekulativen Geldziffern vorweggenommene
Akkumulation von Kapital die Potenz der nationalen Ökonomie, die
Ansprüche auf geldwertes Wachstum zu bedienen, überstrapaziert hat. Das
hat auch in Japan die typischen Konsequenzen: Geschäfte platzen, Kredite
auf diese Geschäfte werden »notleidend«, und ab einer gewissen
kritischen Masse solcher prekären Kredite »leiden« dann auch die Banken.
Sie entziehen ihren spekulativen Anlagen – von den vorher so
astronomisch teuren Immobilien bis hin zu den an der Börse gehandelten
Wertpapieren und am Ende sich wechselseitig – das Vertrauen. Waren
finden zu den kalkulierten Preisen nicht die nötigen Abnehmer; infolge
der flächendeckend ausbleibenden Investitionstätigkeit sinken die Preise
– es herrscht Deflation.
Dem begegnet der japanische Staat mit
den Mitteln seiner politischen Kredit- und Geldmacht und wird zum
Vorreiter der spätestens seit der Finanzkrise von 2007 auch in den
beiden anderen traditionellen Zentren des Weltkapitalismus, EU und USA,
ausgiebig praktizierten Krisenpolitik. Die japanischen Wirtschaftslenker
befinden, dass die Deflation der Grund schlechthin für die andauernde
wirtschaftliche Misere sei, und ordnen deren Bekämpfung alles andere
unter – gemäß der von allen Nationalbanken geteilten Theorie, dass eine
Inflation um etwa zwei Prozent genau der richtige Stimulus für
Investition und Konsum sei. Der Staat reizt seine Macht zur Verschuldung
in bis dato nicht bekanntem Maße aus, bläht seinen Haushalt auf und
versorgt das Land mit einem Konjunkturprogramm nach dem anderen, damit
Zahlungsfähigkeit in die Gesellschaft kommt, die Preise steigen und so
die gewünschte Inflation in Gang kommt. Mit seiner Gesamtverschuldung
von mehr als 230 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist Japan unter
den großen kapitalistischen Industrienationen absoluter Spitzenreiter
bei der Ersetzung der lohnenden, die Akkumulation befördernden
Kreditzirkulation zwischen Finanzsektor und »Realwirtschaft« durch die
Kreditmacht des Staates. Dass die in so gigantischem Ausmaß eingesetzt
werden kann, ohne dass wirksame Zweifel an der Güte der staatlichen
Schuldpapiere aufkommen, liegt nicht zuletzt daran, dass der japanische
Staat in Gestalt seiner Zentralbank seine Geldhoheit dafür einsetzt,
auch auf der anderen Seite des Marktes für seine Schuldpapiere tätig zu
werden. Mit immer neuen, immer größer dimensionierten Programmen
schaltet sich die Bank of Japan (BoJ) in den Markt für japanische
Staatsschuldpapiere (Japanese Government Bonds, JGB) ein und ist dort
inzwischen der quasi monopolistische Akteur auf Käuferseite: Den
privaten Geschäftsbanken kauft die BoJ ihre neu erworbenen JGB ab, von
denen sie inzwischen einen Anteil von 80 Prozent hält. Insgesamt hält
sie 45 Prozent aller JGB (was mehr als 100 Prozent des BIP entspricht),
deren Gegenwert sich auf den Zentralbankkonten der Geschäftsbanken
monetarisiert wiederfindet.
Den Zins für JGB mit einer Laufzeit
von zehn Jahren hat die BoJ so schon auf Null gedrückt. Inzwischen
tritt sie als Großinvestor auch auf dem Markt für andere Wertpapiere
auf, kauft Anteile von Immobilien- und Aktienindexfonds, von denen sie
inzwischen 75 Prozent aller auf dem Markt befindlichen Anteile bei sich
hortet, was zu einer Stabilisierung und sogar einem zwischenzeitlichen
Anstieg der einschlägigen Kurse führt.
Mit dieser
Ankaufpolitik, mittels derer sie die Finanzmärkte mit Zentralbankgeld
überschwemmt, raubt die BoJ zunächst den Staatsschuldpapieren und in der
Folge allen Papieren, auf die sie ihr Programm ausdehnt, die
Eigenschaft von Kapitalanlagen mit Vermehrungsaussicht. Sie ersetzt in
gigantischem Umfang Kreditpapiere, die keine Vermehrung verbürgen, also
wertlos sind, durch Geld, das definitiv Wert repräsentiert, der sich
allerdings nicht vermehrt, also kapitalistisch unbrauchbar ist. Hinter
dieser Sorte Krisenbekämpfung steckt ein allgemeiner Widerspruch: Weil
die politischen Verwalter des japanischen Standorts nicht zulassen, dass
ihr nationaler Kapitalismus von der in einer Krise allfälligen
Entwertung heimgesucht wird, verhindern sie seit zweieinhalb
Jahrzehnten, dass das Finanzkapital sein negatives Urteil über den
Standort und sein kapitalistisches Inventar mit allen ruinösen
Konsequenzen fällt. »Notleidende Kredite«, zweifelhafte Wertpapiere,
fallierende Schuldner, Schuldtitel usw. werden ganz einfach immer wieder
aufgekauft – mit der einen Konsequenz, dass sich das überakkumulierte,
darum zu neuer erfolgreicher Verwertung unbrauchbare Kapital jedweder
Form nicht entwerten kann. Und darum eben auch mit der anderen
Konsequenz, dass der Staat so selbst verhindert, dass reale Akkumulation
und finanzkapitalistische Kreditschöpfung auf geschrumpftem Niveau
wieder füreinander produktiv werden. Statt dessen schleppt er das tote
Gewicht von kapitalistisch ihrer Haltlosigkeit überführten spekulativen
Gewinnansprüchen immer weiter mit, vergrößert es sogar mit jedem neuen
Ankaufprogramm und sorgt so dafür, dass das überhaupt noch oder wieder
stattfindende kapitalistische Geschäft, aufs nationale Ganze gesehen,
immer weniger als Basis und Beglaubigung für die immer weiter
aufgeblähten Kredit- und Geldmassen taugt.
Die Grundlage dafür, dass ihr im Wortsinn maßloses Gebaren als
Herren des nationalen Kredit- und Geldkreislaufs die japanische Kredit-
und Wertmaterie international nicht in Verruf bringt, besteht darin,
dass japanische Kapitale bei aller nationalen, in Yen bilanzierten
Wachstumsschwäche seit jeher und weiterhin auswärtige Geschäfte machen,
die sich in Dollar-Gewinnen niederschlagen. Die Entwertung der national
überakkumulierten Kapitalmassen lässt der japanische Staat partout nicht
zu, kauft die kapitalistisch wertlosen Schulden mit mehr und mehr
seiner Schulden auf – und hält damit eine Ökonomie in Gang, die ihre
wesentlichen Gewinne vor allem im Exportgeschäft mit den USA macht. Die
seit Jahrzehnten manifeste Überakkumulation haben die japanischen
Wirtschaftspolitiker mit ihrer Antikrisenpolitik damit quasi
zweigeteilt: in eine nationale Stagnation, die sie mit staatlichem Geld
prolongieren, und ein dollarwertes Auslandsgeschäft, das die nationale
Überakkumulation zwar nicht als solche kompensiert, aber dem nationalen
Geld eine Grundlage sichert. Womit in dieser Hinsicht die paradoxe
Bilanz von fünfundzwanzig Jahren japanischer Wirtschaftspolitik gegen
die Krise komplett ist: Japan hat offensichtlich die Freiheit
ungehemmter staatlicher Kredit- und Geldschöpfung, mit der jedes
finanzkapitalistische Krisenszenario schlicht aufgekauft wird – was
ebendieses Szenario immerzu verlängert. Und es kann sich dabei auf einen
internationalen Wert seiner Währung stützen, der nicht von den Erfolgen
der nationalen Krisenbekämpfungspolitik, sondern vom bleibenden
Dollar-Überschuss des Außenhandels lebt.
Unrentables Volk
Bei der Geldpolitik und der Kenntnisnahme ihrer wenig erfreulichen
Resultate belässt es Abe nicht. Dem Wahn folgend, dass Krise sei, weil
zuwenig Geld im Lande zirkuliere, fordert er Unternehmen und
Gewerkschaften auf, sich auf höhere Lohnzahlungen zu einigen, um die
nationale Kaufkraft und damit die Preise zu steigern. Außerdem
appelliert der Ministerpräsident an die Wirtschaft, die Überstunden
abzubauen, damit die fleißigen Japaner auch Gelegenheit finden, sich dem
erhofften Konsum hinzugeben, zu dem sie bisher offenbar nicht kommen.
Was Abe damit zur Sprache bringt, ist der Umstand, dass zur
kapitalistischen Konkurrenz unter Krisenbedingungen auch in Japan
gehört, das Verhältnis von bezahlter Arbeit und ihrem geldwerten
Resultat dadurch zu optimieren, dass die Lohnzahlungen massenweise
absolut reduziert werden – durch Lohnsenkungen und die Inanspruchnahme
von Überarbeit. Darum werden die früher üblichen regelmäßigen
Lohnerhöhungen und Boni fürs qualifizierte Personal auf ein Minimum
reduziert, die Einstiegslöhne werden drastisch gesenkt,
Stammbelegschaften werden ausgedünnt und in großem Umfang durch billige,
leicht wieder auszustellende Zeitarbeiter ersetzt. Die wachsende Not,
überhaupt ein Einkommen zu erzielen, wird durch die Schaffung von
Billig- und Billigstjobs in einem entsprechend aufblühenden
»Dienstleistungssektor« ausgenutzt – das ganze Programm der Verelendung
der arbeitenden Massen im Rahmen der Krisenkonkurrenz wird von den
japanischen Kapitalen jedweder Größe betrieben. Deren Not erkennt Abe
an, auch wenn ihm die nationalen Resultate nicht passen. Also hält sich
seine Regierung mit Diktaten in Sachen Mindestlohn zurück, folgt da, wo
der Staat selbst als »Arbeitgeber« agiert, der gleichen Logik der
Sanierung der wirklich entscheidenden Haushaltszahlen mittels Ruinierung
der privaten Haushalte seiner Angestellten und fährt auch soziale
Unterstützungsprogramme zurück.
Mit seiner Aufforderung an die
Unternehmerschaft, in einer »Produktivitätsrevolution« statt immer nur
in Lohnsenkungen das passende Mittel für ihre Konkurrenz um Gewinne zu
suchen, bezieht sich Abe auf den inzwischen sehr selektiven Gebrauch,
den das japanische Kapital von seiner angestammten Heimat macht. Als
Basis für Entwicklung und Forschung ist der Hochtechnologiestandort
Japan gerade recht. Die großen Investitionen in Fertigungsstätten und
die Benutzung der dazugehörenden Massen von Arbeitskräften finden aber
vorwiegend im Ausland statt, von dem aus japanische Kapitale den
Weltmarkt mit ihren Produkten bestücken. Die so erzielten Gewinne legen
sie in großem Umfang wieder im Ausland an, kaufen sich in andere Firmen
ein bzw. übernehmen diese usw. Mit dieser Strategie zur Sicherung ihres
jeweiligen Wachstums erzeugen sie die Trennung zwischen dem
stagnierenden Kapitalismus am Yen-Standort und den dollarwerten
Auslandsgeschäften.
Die eigenartige Mischung aus Nutzung und
Nichtnutzung des japanischen Standorts durch japanisches Kapital macht
sich quasi naturwüchsig an den üblichen Randgruppen einer traditionellen
kapitalistischen Arbeiter- und Reservearmee bemerkbar. Noch immer fällt
den Frauen weitgehend die Rolle der familiären Reproduktion zu, so dass
sie als Bestandteil einer ungenutzten Überbevölkerung bisher eher nicht
so auffällig geworden sind. Aber weil diese Form familiärer
Arbeitsteilung wegen der flächendeckenden Lohnsenkungen immer weniger
aufrechtzuerhalten ist, werden sie damit zum Problem, das Abe getreu
seinem Ethos, dass die Kraft der Nation in den Tugenden seines Volkes
liegt, anpacken will: Er erklärt die Hausfrau zum Auslaufmodell, dreht
die massenweise eingerissene Not, dass nun auch Frauen Geld verdienen
müssen, zur Chance um, auf ganz neue Weise für sich und die Nation
nützlich werden zu können.
Die Alten fallen zunehmend durch den
bloßen Umstand negativ auf, dass es sie gibt – mit zuwenig Rente nach
einem Arbeitsleben für nicht sehr üppigen Lohn, also mit der
Notwendigkeit, auch im Alter zu verdienen, ohne dass sie damit auf einen
Bedarf potentieller »Arbeitgeber« stießen, der ihrer Not irgendwie
gerecht würde. Das erklärt Abe – in konsequenter Fortführung seiner
verdrehten Logik des weitblickenden und engagierten Standortpolitikers –
zum Problem der »Überalterung«, der er mit einer Sanierung der
nationalen Geburtenrate beikommen will, wofür ihm schon wieder die
Zuversicht seiner Landeskinder als wichtigster Hebel einfällt. Und wenn
er denen dann den größeren Zusammenhang erläutert, in dem ihr fataler
Hang zur Überalterung zu betrachten ist, macht er deutlich, was der
letzte Grund für seine eindringlichen Appelle an die Tugenden ist, auf
die sich alle Japaner endlich wieder besinnen müssen – der Bestand und
die »Unabhängigkeit« der großen japanischen Nation: »Vor hundertfünfzig
Jahren brach eine Welle der Kolonialherrschaft über Asien herein, und
die Schaffung einer neuen Nation durch das Japan der Meiji-Ära begann
unter besonderem Handlungsdruck. Um diese bedrohliche Lage zu
überwinden, die wirklich eine nationale Krise genannt werden muss,
forcierte Japan die Modernisierung auf einen Streich. Die treibende
Kraft dafür war jeder einzelne Japaner. Die bisherige Klassenordnung
wurde aufgegeben, und alle Japaner wurden von den bisherigen
Konventionen und Ordnungen befreit. Nur indem die Fähigkeiten des
japanischen Volkes in ihrem gesamten Spektrum zusammengefasst wurden,
konnte Japan seine Unabhängigkeit aufrechterhalten. Auch heute wieder
steht Japan vor einer kritischen Lage, die wirklich eine nationale Krise
genannt werden muss: unserer schrumpfenden Geburtenrate und unserer
alternden Gesellschaft.« (Neujahrsansprache von Abe, 1.1.2018)
Emanzipation vom Dollar
Abes nationalistische Emphase ist ein deutlicher Hinweis darauf, was
der Ministerpräsident für die wirklichen Herausforderungen Japans hält:
Das Land ist heute nach sieben Jahrzehnten seines Wiederaufstiegs vom
Weltkriegsverlierer zu einem der größten Player der globalen Ökonomie
und zum prominenten Bündnispartner der Weltmacht USA in der Region akut
in seinem ökonomischen und politischen Status gefährdet. Er
diagnostiziert einen unerträglichen Statusverlust seiner Nation, die ihm
als »Macht im Niedergang« gilt, deren Interessen selbst vom großen
Verbündeten USA, erst recht von den regionalen Konkurrenten übergangen
werden. Und mit China muss Abe in der unmittelbaren Nachbarschaft eine
Nation aufwachsen sehen, die Japan nicht nur in allen ökonomischen und
strategischen Hinsichten zu überholen droht oder bereits überholt hat,
sondern bei der er zutiefst unfreundliche und unfriedliche Ambitionen
entdeckt: den Willen eines Rivalen, der sich Japan unterordnen und in
ein chinesisch dominiertes Asien einordnen will.
In der Sache
steht die Nation vor der Notwendigkeit, die seit Jahrzehnten
aufgeschobene Überakkumulation von Finanzkapital – inklusive des
staatlichen Schuldenexzesses, der daraus gesetzliches Geld gemacht hat –
dadurch in Ordnung zu bringen, dass autonom geschöpfter, auf Yen
lautender und in dieser Gestalt sich verwertender Kredit überall dort
entsprechend produktiv wird, wo japanisches Kapital seit Jahrzehnten
sein eigenes und das nationale Dollar-Vermögen vermehrt. Den japanischen
Wirtschaftspolitikern stellt sich diese Notwendigkeit vorrangig als die
Aufgabe dar, die fortdauernde Abhängigkeit ihrer Außenwirtschaft von
dem Dollar-Kredit, mit dem die USA ihre Importe bezahlen, zu überwinden.
Das mag für Experten wie Abe hauptsächlich eine Frage der nationalen
Ehre oder der großen vaterländischen Tradition sein. Politökonomisch
geht es darum, den in Yen bilanzierten japanischen Kredit in erfolgreich
akkumulierendes Kapital und den Yen in ein Zeichen unwiderstehlich
wachsenden Reichtums zu verwandeln – und das in einem Umfang, der
hinreicht, um ganz grundsätzlich die ungeheure tote Masse auf Yen
lautender wertloser Schuldpapiere in den Status echten,
vermehrungsträchtigen Finanzkapitals zu versetzen. Emanzipation vom
US-Dollar und Internationalisierung des Yen, so lautet das Ziel, das Abe
und Co. verfolgen.
Eröffnet ist damit die Konkurrenz mit den
USA um die Frage, welches, d. h. wessen Kreditgeld in Zukunft den
kapitalistisch wachsenden Reichtum realisiert und repräsentiert, den
Japans Produzenten und Finanzkapitalisten weltweit, vor allem in ihrer
benachbarten Staatenwelt, investieren und verdienen, vermehren und
»arbeiten lassen«. Dort muss und soll Yen-Kredit statt Dollar-Kredit die
Wirtschaft wachsen lassen und dadurch die Rechtfertigung der Unmasse
von Kreditgeld bewirken, das die Bank of Japan per Aufkauf entwerteter
privater und ersatzweise produzierter staatlicher Schuldpapiere
geschaffen hat und aus dem keine hinreichend »inflationäre«
Kapitalvermehrung erwachsen will. Das ist der ökonomische Angriff auf
die USA, der dem japanischen Bemühen um Wachstum und Emanzipation vom
US-Dollar immanent ist.
Anmerkungen
1 Regierungserklärung Abes im japanischen Parlament, 28.1.2013, www.de.emb-japan.go.jp
2 Grundsatzrede von Premierminister Shinzo Abe beim 13.
Asien-Sicherheitsgipfel des International Institute for Strategic
Studies – »Shangri-La Dialogue« in Singapur, 30.5.2014,
www.de.emb-japan.go.jp