Samstag, 29. Juli 2017

Indigene Sprachen: Die Salden des Ethnozids


Von Magdalena Gómez
(Mexiko-Stadt, 4. Juli 2017, la jornada).- Es ist ein Gemeinplatz geworden, von indigenen Sprachen zu sprechen, die Gefahr laufen, zu verschwinden und darum bewahrt, gefördert und neu belebt werden müssen. Verschiedene Institutionen in Mexiko und außerhalb des Landes weisen darauf hin. Die Bedeutung der indigenen Sprache als zentraler Faktor für Kultur und Identität der Völker ist unleugbar. Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass wir die Sprache nicht losgelöst von der historischen Situation der indigenen Völker in ihrer Beziehung zu Staat und Mehrheitsgesellschaft betrachten können.
Staat sieht ausschließlich die Sprache als Identitätsmerkmal
Der mexikanische Staat hat spät und mit beschränkter Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit reagiert, den sprachlichen Faktor in der Erziehung einzubeziehen. In mehr als 50 Jahren ist er von der sogenannten zweisprachigen Erziehung, über die zweisprachige bikulturelle Erziehung kürzlich bei der zweisprachigen interkulturellen Erziehung angelangt. In der Praxis wurde ein Modell angewendet, welches die indigenen Sprachen, aber nicht ihre historischen Träger, die indigenen Völker, berücksichtigt.
Dieser Ansatz führte zu der Absurdität, dass beispielsweise bis vor kurzem die nationale Statistikbehörde Inegi (Instituto Nacional de Estadística y Geografía) die Praktizierenden einer indigenen Sprache bei der Volkszählung mit der Anzahl der existierenden Indigenen gleichsetzte. Glücklicherweise ist im Kontext von Licht und Schatten der Anerkennung von Rechten das Recht auf die „Eigenwahrnehmung“ eingeschlossen worden. Sie ermöglicht es, die Identität und Präsenz der indigenen Völker unabhängig vom Ausmaß der indigenen Sprachpraxis festzumachen.
Formale Bildung – ein zweischneidiges Schwert
Der verstorbene Rodolfo Stavenhagen legte 2005 in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Indigenen Völker dazu einen Bericht vor. Darin erwähnt er, dass die auf internationaler Ebene vom Staat oder von religiösen und privaten Gruppen angewandten formalen Bildungssysteme ein zweischneidiges Schwert für die indigenen Völker gewesen sind. Einerseits bedeuteten sie für indigene Mädchen, Jungen und Jugendliche häufig die Möglichkeit, Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die es ihnen erlaubten, im Leben voranzukommen und ihre Welt zu erweitern.
Andererseits ist die formale Bildung – vor allem wenn deren Programme, Lehrpläne und Methoden aus anderen Gesellschaften kommen, die zu den indigenen Kulturen divergent und ihnen fremd sind – ein Mechanismus für die aufgezwungene Transformation und manchmal die Zerstörung der indigenen Kulturen gewesen. Stavenhagen fügte hinzu, dass die hauptsächlichste Diskriminierungsform in der Bildung die Tendenz gewesen ist, die Schule als das bevorzugte Instrument zu nutzen, um die Anpassung der indigenen Völker an das kulturelle Modell der Mehrheit oder der herrschenden Gesellschaft zu fördern.
Staatspolitik: Indigene Völker „verschwinden lassen“
Bereits damals beharrte er darauf, dass das Fehlen gut ausgebildeter zweisprachiger indigener Lehrer*innen ein ernstes Problem ist. Wenige Länder, so zeigte er auf, haben der Ausbildung zweisprachiger indigener Lehrer*innen die Priorität verliehen, die sie verdient. In der Tat reicht es, sich die Realität in unserem Land anzusehen. Dort sind indigene Lehrer*innen Regionen und Schulen zugewiesen worden, in denen eine andere Sprache als die ihre gesprochen wird. Die Staatspolitik, die indigenen Völker verschwinden zu lassen, stieß auf deren Widerstand. Ein Widerstand, der seinen Preis hatte. Dazu gehören die Hegemonie und das Aufzwingen der spanischen Sprache.
Nicht selten hören wir von Gemeinden, wo die Eltern der Schulkinder die indigene Sprache als Erziehungssprache ablehnen, denn sie selbst erlitten schwere Diskriminierung, weil sie kein Spanisch sprachen. In offenem Kontrast dazu sehen wir jedoch, dass diejenigen Gemeinden, die ihre Organisationsformen beibehalten und de facto die Selbstverwaltung praktizieren, intern regelmäßig die indigene Sprache benutzen. Einige, die sie nicht mehr zu sprechen gewohnt sind, versuchen, zu ihr zurückzukehren. Es gibt in dieser Hinsicht verschiedene rühmliche Anstrengungen.
Erhalt der Sprache im Kontext einer territorialen Raubpolitik
Das Panorama ist weitaus komplexer als im neuen Erziehungsmodell des Bildungsministeriums berücksichtigt. Dieses führt unter den Grundschullehrfächern die Muttersprache, die indigene Sprache und die Zweitsprache auf. Obwohl der Respekt vor der Vielfalt erwähnt und sogar ein Teil von Artikel 2 der Verfassung wortwörtlich wiedergegeben wird, bekräftigt das Modell den Reduktionismus von Sprache als vollständigem Universum der Identität eines Volkes. Dabei unterschlägt es, dass ein Volk auch ohne seine ursprüngliche Sprache auf der Grundlage anderer kultureller Elemente wie Territorium und Autonomie, Regierungsform, Kosmovision und Kenntnissen weiterbesteht.
Die sogenannte Rettung der indigenen Sprachen macht Sinn, wenn sie dabei die Mitbestimmung der Völker und ihrer Gemeinden zur Priorität macht. Die UNO hat 2019 zum Internationalen Jahr der Indigenen Sprachen erklärt, um die Aufmerksamkeit auf den schwerwiegenden Verlust dieser Sprachen zu lenken. Doch dies geschieht im Kontext einer territorialen Raubpolitik. Das sollten wir nicht vergessen.

https://www.npla.de/poonal/indigene-sprachen-die-salden-des-ethnozids/

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen