Süleyman Cihan (Kurde, geboren 1947 in Dersim, ermordet am 30.07.1981 in Istanbul/Kadiköy) war nach Ibrahim Kaypakkaya der zweite Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Türkei / Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) und Kämpfer ihres bewaffneten Arms der Arbeiter- und Bauern Befreiungsarmee der Türkei (TIKKO). Er erfüllte auf diesem Posten bis zu seinem Tod seine revolutionäre Pflicht. Die näheren Umstände seiner Festnahme und seines Todes beschreibt Kürsat Istanbulu in seinem Buch „Verhaftet und Verschwunden. Türkei heute: Beispiel einer `wehrhaften Demokratie´“, Zambon-Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S. 29-39:
Der unbekannte Tote auf dem Friedhof der Namenlosen
Der Leiche, die zur Autopsie gebracht wurde, hatte man einen Zettel beigelegt: „Dokument der Kriegsrechtskommandatur/Polizeipräsidium, Politische Abteilung, Aktenzeichen 3680 31.7.1981
Identität: unbekannt
Alter: 25
Geschlecht: männlich
Todesdatum: 30.7.1981
Diese Daten wurden auch in den Autopsiebericht übernommen, weiter lagen keine Angaben über den Toten vor.
Ein Blick in das „Streifen- und Todesfälle-Protokollbuch“ ließ die Angelegenheit allerdings etwas interessanter erscheinen. Auch dort wurden Namen und Identität des Toten mit „unbekannt“ angegeben; die vorhandenen Eintragungen wiesen jedoch eine ganze Reihe von Ungereimtheiten auf. Diese ließen letzten Endes den Schluss zu, dass die Identität des Toten gar nicht so unbekannt sei, und gaben weiterhin Anlass, auch an der dort angegebenen Todesursache „Selbstmord“ zu zweifeln.
Die erste Eintragung in das Protokollbuch, in dem sich auch die Unterschriften mehrerer hochgestellter Istanbuler Polizeibeamten befinden, stammt von dem Arzt Dr. Metin Bulut:
„Ich habe die mir vorgeführte männliche Leiche untersucht … Sie wies unter beiden Achseln Rißquetschwunden und Blutergüsse, an der linken Schulter einen großen Bluterguß und am linken Ellenbogen Rißquetschwunden auf. An der Innenseite des linken Ellenbogens und an beiden Fußgelenken befinden sich ebenfalls Blutergüsse, und am Ende des Penis sind Male zu sehen, die auf Brandnarben schließen lassen.“
Weiterhin wird in dem Bericht darauf aufmerksam gemacht, dass die Person für einen Sturz aus dem Fenster des oberen Stockwerkes erstaunlich wenig Blut verloren habe. Erst der Autopsiebericht könne eine eindeutige Klärung der Frage herbeiführen, ob der Tod vor dem Sturz oder durch ihn erfolgt sei.
So schien es durchaus möglich, das der unbekannte Tote, der sich nach amtlicher Version aus dem Fenster gestürzt hatte, gar kein Selbstmörder war. Vielleicht nicht einmal unbekannt war, denn als ihm im Zuge der Autopsie Fingerabdrücke abgenommen werden sollten, da fanden sich an seinen Fingerspitzen die Spuren von Stempelfarbe, wie sie im Polizeipräsidium für Abdrücke verwendet wird.
Angesichts dieser Situation begannen die Ärzte des gerichtsmedizinischen Instituts hinter verschlossenen Türen ihren eigenen Autopsiebericht zu schreiben.
„Auf der Haut des Penis nicht sonnenverbrannte Narben … Drei Blutergüsse am Hals, auf der Brust und an den Oberarmen Blutergüsse, die rechts stärker sind als links … Starke Blutergüsse unterhalb der rechten Achsel, etwas leichtere auf der linken Seite … Blutergüsse auf linkem Unterarm und Handrücken … Leber verhärtet, Anzeichen auf Zirrhose …“
Das alles brachte die zahlreichen medizinischen Autoritäten und Assistenzärzte, die den Bericht unterschrieben hatten, offensichtlich dazu, die Todesursache des unbekannten Toten ohne Zögern mit „Selbstmord“ anzugeben. Was war dann mit der Leber, die bei einem lebendigen Menschen auf Grund eines solchen Aufpralls hätte reißen müssen? Sie war eher ein eindeutiger Beweis, dass sich die unbekannte Person nicht lebend aus dem Fenster gestürzt hatte. Doch weder diese Tatsachen, noch die Aufzählung der zahlreichen Folterspuren auf dem Körper des Toten erregten Aufsehen. Die Todesursache stand ja fest und so konnte man den unbekannten Selbstmörder ohne weitere Probleme auf dem Friedhof der Namenlosen begraben.
Sein Name war Süleyman Cihan
29. Juli 1981. Auf der Einfallstraße nach Istanbul aus Richtung Thrazien fand eine Verkehrskontrolle statt. Die Fahrzeuge in Richtung Istanbul wurden ohne Ausnahme von der Polizei angehalten und durchsucht. Im Laufe dieser Kontrolle wurde Süleyman Cihan, der mit falschem Ausweis unter dem Namen Oktay Emre in dem Autobus 34 UK 975 unterwegs war, festgenommen. Obwohl Cihan einen falschen Ausweis bei sich hatte, konnte die Polizei ihn noch am Ort der Festnahme identifizieren.
In dem „Protokoll der Festnahme, Durchsuchung und Beschlagnahmung“, das auf der Abteilung 2 des Istanbuler Polizeipräsidiums angefertigt wurde, findet sich auch der Grund für die Kontrolle auf der Schnellstraße nach Istanbul:
„Aussagen von Mitgliedern der verbotenen Organisation TKP/ML-TIKKO gaben uns Grund zu der Annahme, dass einer der Kader dieser Organisation, mit richtigem Namen Süleyman Cihan, in diesen Tagen nach Istanbul kommen würde. Da wir uns im Besitz eines Fotos von ihm befanden, nahmen wir eine Person, namens Oktay Emre, aus dem Autobus Nr. 34 UK 975 wegen ihrer großen Ähnlichkeit mit Cihan fest. Bei der Leibesvisitation fanden wir eine Photographie mit der Aufschrift „Meinem Cihan“. Die Person wurde dann in die Polizeihauptwache nach Sirkeci/Istanbul gebracht. Dort wurde sie dem schon vorher festgenommenen Hidir Ayata vorgeführt, der angegeben hatte, Süleyman Cihan persönlich zu kennen. Ayata identifizierte den Festgenommenen als Süleyman Cihan.“
Die Sicherheitskräfte wussten also bei der Festnahme durchaus schon, wen sie vor sich hatten. Das geht auch aus einem Schreiben der Abteilung 2 des Polizeipräsidiums an die Staatsanwaltschaft von Kadiköy/Istanbul hervor. Als dieses Schreiben verfasst wurde, hatten sich die Verantwortlichen noch nicht entschlossen, Süleyman Cihan als „Mann ohne Namen“ Selbstmord begehen zu lassen:
„… bei der am 29.7.1981 gegen 15 Uhr mit einem auf Oktay Emre ausgestellten falschen Ausweis festgenommenen Person handelt es sich in Wirklichkeit um Süleyman Cihan, Mitglied des Zentralkomitees der TKP-ML/TIKKO, die sich zum Ziel gemacht hat, die verfassungsmäßige Ordnung zu zerstören. Dieser Organisation sine eine Reihe gewaltsamer Aktionen angelastet …“
Während Süleyman Cihan sich noch unter seinem richtigen Namen in Untersuchungshaft befand, hatte sein Vater Aga Cihan angefangen, nach ihm zu suchen. Wie viele andere Mütter und Väter erhielt auch er die stereotype Antwort: „Dein Sohn ist nicht hier. Nach ihm wird noch gefahndet.“
Aber Süleymans Bruder Ahmet erinnert sich noch genau an den Tag der Festnahme: „Mualla Ayata, ebenfalls ein Mitglied der Organisation, war schon vor Süleyman festgenommen worden. Sie wurde aber wieder freigelassen, da sie für ihn als Köder dienen sollte. Sie traf sich mit meinem Bruder, der auf dem Rückweg dann aus dem Autobus heraus festgenommen wurde. Am gleichen Tag kam Mualla Ayata noch zu uns und teilte uns mit, dass Süleyman in Untersuchungshaft sei.“
An der Schwelle des Todes
„Als mein Vater mit erzählte, dass er auf dem Polizeipräsidium nichts über Süleyman erfahren hatte, da wusste ich, dass sie ihn umbringen wollten. Warum sollten sie sonst abstreiten, dass er dort war?“
Als Ahmet Cihan diese Vermutung aussprach, befand sich sein Bruder wirklich an der Schwelle des Todes. Sein Todesurteil hatte man gefällt, ohne irgendeinen Richter oder ein Gericht heranzuziehen. In einem Land, in dem die Zeitungen von der Unabhängigkeit der Gerichte schreiben, in dem von Gewaltenteilung die Rede ist, wurde stillschweigend über den Tod Süleyman Cihans entschieden. Er wurde dazu verurteilt, als Unbekannter Selbstmord zu begehen und auf dem Namenlosenfriedhof verscharrt zu werden.
Für die Zeit nach seiner Festnahme, in der sich Süleyman Cihan auf einer Odyssee durch Folterkammern und Verhörstuben dem Tode Schritt für Schritt näherte, gibt es eine Reihe von Zeugen. Sie sind Zeugen seines Todes und seiner Unschuld. Zeugen dafür, dass er nie einem Richter vorgeführt wurde, der über seine Schuld oder Unschuld entschieden hätte. Schuldig sind die, die mit seinem Tod nicht nur einen Menschen, sondern ein ganzes Rechtssystem haben verschwinden lassen, die ein Recht der Folterkammern aufgebaut hatten, das sich keinem Gerichtsaal zu stellen brauchte. Doch eines Tages werden auch sie zur Rechenschaft gezogen und dann werden ihre Opfer, die Opfer der Folterkammern, als Zeugen der Anklage sprechen. Die Zeugen des Mordes an Süleyman haben schon zu sprechen begonnen:
„… ungefähr um Mitternacht holten sie mich zur Gegenüberstellung mit Süleyman Cihan. Ich konnte ihn identifizieren. Süleyman lag regungslos am Boden und sah aus, als sei er nicht imstande, auch nur ein einziges Glied zu bewegen. Ich konnte nicht feststellen, ob er noch lebte oder nicht …“ (Aussage des Gefangenen Halil Gündogan in der Akte Süleyman Cihan, 2. Militärgericht Istanbul)
„Süleyman Cihan wurde nachts gebracht und an eine Bank gefesselt. Er war nur noch ein Stück rohes Fleisch. Ein Polizist rief ununterbrochen seinen Namen, um zu sehen, ob er noch lebte. Süleyman war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot gewesen oder er starb gerade in diesem Augenblick. Später trugen sie ihn zusammen mit der Bank wieder weg.“ (Aussage des Gefangenen Binali Sahin in einem Schreiben an die Rechtsabteilung der Kriegsrechtskommandatur)
„Ich glaube, es war die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag am 28., 29. oder 30. Juli. Ich befand mich in einer Zelle des 1. Traktes der Abteilung 2 des Istanbuler Polizeipräsidiums. Um Mitternacht hörte ich, wie jemand in unseren Korridor gebracht wurde. Ein Polizist rief ununterbrochen den Namen Süleyman. Als diesem Rufen mit dünner gebrochener Stimme geantwortet wurde, merkte ich, dass es sich um Süleyman Cihan handelte. Er antwortete dem Soldaten nur, dass er nicht reden könne. Außerdem verlangte er ständig Wasser, was er schließlich auch bekommen haben muss, denn ich hörte den Soldaten sagen: `Es reicht, mehr Wasser schadet dir nur.´ Dann verlangte er, auf die Toilette gebracht zu werden, was ihm der Polizist verwehrte. Dann muss der Polizist wohl gegangen sein, denn es wurde sehr laut gerufen: `Ich bin Süleyman Cihan, ist jemand hier?´ Ich antwortete ihm und sagte meinen Namen. Dann sagte er noch, dass die Frau Hidir Ayatas ihn der Polizei in die Hände gespielt habe. Das letzte was ich von ihm hörte war: `Damit ihr Bescheid wisst, ich konnte nicht mehr fliehen, wurde festgenommen, und jetzt wollen sie mich umbringen.´ Naci Karabulut aus der Nebenzelle hat durch das Schlüsselloch gesehen, wie sie ihn in den frühen Morgenstunden wieder abholten.“ (Aussage des Gefangenen Mehmet Ali Kankotan vor dem stellvertretenden Militärstaatsanwalt)
„Ich lag verwundet in meiner Zelle und konnte mich nur unter großen Schwierigkeiten bewegen. Gegen Mitternacht brachten die Polizisten jemanden, der mit Ketten an eine Bank gefesselt war. Sie ließen die Bank in einer Ecke der Zelle stehen und gingen wieder. Ich versuchte mit dem Mann zu reden, aber außer einem leisen Wimmern brachte er nichts heraus. Sein Zustand war sehr schlecht. Er hing völlig bewegungslos auf der Bank und konnte nicht sprechen. Ab und zu kamen die Soldaten und schrien ihn an: `Süleyman los, mach kein Theater!´“ (Aussage des gefangenen Mustafa Yildirimtürk, wiedergegeben von Ahmet Cihan)
„Tahsin Alpasn und Sezai Ekinci berichteten, dass Süleyman Cihan auf dem Polizeipräsidium in einer Einzelzelle gehalten wurde und mehrmals laut gerufen habe: `Ich bin Süleyman Cihan, sie wollen mich umbringen!´“ (Ahmet Cihan in seiner Klageschrift an die Kriegsrechtskommandatur)
Diese Zeugenaussagen lassen es nicht mehr so unlogisch erscheinen, dass aus Süleyman Cihan ein „Mann ohne Namen“ werden musste. Sie machen außerdem deutlich, dass keinem der verantwortlichen Beamten die Identität des Festgenommenen unbekannt war.
Selbstmordszenario
Nach keinem Rechtsverständnis der Welt darf der Tod eines Menschen als Bagatelle behandelt werden. Wie konnten es die Behörden dann fertigbringen, ohne irgendwelche Schwierigkeiten Süleyman Cihan seines Lebens und seiner Identität berauben? Und warum auch der Identität? Hätte man Süleyman Cihan nicht einfach Selbstmord begehen lassen können? Auch den Sicherheitskräften schien dies wohl die einfachste Lösung gewesen zu sein, doch „leider“ war der Versuch, einen Selbstmord zu inszenieren, schiefgegangen. Nach seinem Tod hatte man Süleyman in ein Hochhaus des Istanbuler Stadtteils Üstbostanci gebracht. Dort stürzte man ihn vom Balkon. Doch die inneren oder äußeren Blutungen, die sich bei einem Lebenden in jedem Fall einstellen müssten, blieben aus. Dennoch versuchte man zu retten, was zu retten war, und stellte die oben erwähnten Dokumente aus. Der Assistent des Chefs der Abteilung 2 schildert den Vorgang folgendermaßen:
„Der 1950 in Tunceli geborene Süleyman Cihan erklärte, dass er bereit sei, nachdem alle seine Genossen schon Aussagen gemacht hätten, uns eine von seiner Organisation gemietete Wohnung zu zeigen, in der neben Waffen und Dokumenten auch ein größerer Betrag in DM versteckt sei. Er sagte uns die Adresse der Wohnung und wollte dorthin gebracht werden. Allerdings behauptete er, keinen Schlüssel zu haben und bat uns, die Tür aufzubrechen. Als wir die Wohnung betraten, mussten wir feststellen, dass sie schon vor einiger Zeit verlassen worden war. Obwohl er in Handschellen war, gelang es Cihan, sich mit einer blitzschnellen Bewegung auf den Balkon zu schwingen und sich nach unten zu stürzen. Er starb vor Ort des Sturzes. Die Leiche wurde in das Leichenschauhaus eingewiesen und die notwendigen Ermittlungen aufgenommen.“
Auch in anderen offiziellen Schreiben findet sich die Bemerkung, Süleyman Cihan habe bei einer Ortsbegehung Selbstmord begangen. Bei der Wohnung, aus der sich Cihan gestürzt haben soll, hat es sich jedoch nie um einen Unterschlupf seiner Organisation gehandelt. Außerdem war dieses Mietshaus der Polizei bestens bekannt. In dem gleichen Haus, allerdings in einer anderen Wohnung, war Monate zuvor Erol Ciftci festgenommen worden, ebenfalls wegen Mitgliedschaft in der TKP-ML/TIKKO. Danach hatte die Polizei diese Wohnung selbst als Stützpunkt benutzt. Die Nachbarwohnung, in die Süleyman Cihan gebracht worden war, hatte schon lange leer gestanden. Sie gehörte einem Industriellen, der sie aber nicht benutzte. Kein Staatsanwalt hatte es jedoch für nötig gehalten, die Beschaffenheit dieser „illegalen“ Wohnung zu überprüfen.
Hätte Süleyman Cihan Selbstmord begangen, so hätte man das seiner Familie, die jeden Tag erneut an die Tore des Polizeipräsidiums klopfte, mitteilen können, oder man hätte die Nachricht seinem Bruder Ahmet übermitteln können, der mittlerweile auch festgenommen worden war.
Ein Augenzeuge
Die Stimme kam dünn und zittrig durch das Telefon. „Ich bin ein Zeuge von Süleyman Cihans Tod. Ich möchte erzählen, was ich gesehen habe. Aber ich habe Angst!“ Der Mann am Telefon hatte wirklich Angst, er hatte Dinge erlebt, die ihn davon abschreckten, öffentlich zu berichten, wie Süleyman Cihan `selbstgemordet´ werden sollte. Aber er konnte auch nicht schweigen, er musste mitteilen, was er wusste. Eines Tages, wenn er nicht mehr um sein eigenes Leben fürchten muss, dann wird er sich nicht mehr verstecken und wird vor der Öffentlichkeit sprechen. Aber vorerst bleibt sein Name geheim. Das, was er am Telefon erzählte, soll allerdings schon jetzt an die Öffentlichkeit gelangen:
„Ich habe gesehen, wie sie ihn aus dem Hochhaus warfen. … Ich will alles erzählen, aber ich habe Angst. Sie werden mich wieder abholen, wieder foltern, und das halte ich nicht nochmal aus. Ich kann nicht noch einmal mitansehen, wie sie meine Frau vor meinen Augen vergewaltigen. Sie liegt immer noch zu Hause, völlig apathisch, wer weiß, ob sie jemals wieder völlig zu sich kommt. Dreimal hat man uns festgenommen und gefoltert. … Nein, das will ich ihnen nicht erzählen, sonst erlebe ich es heute Nacht noch einmal im Traum. Sie haben mich gezwungen, zuzuschauen, wie sie mit meiner Frau alles gemacht haben. Nicht einmal den Kopf konnte ich senken. … Ich will erzählen, was ich gesehen habe, das ist die letzte Pflicht, die ich für Süleyman Cihan zu erfüllen habe. Aber wer kann mir garantieren, dass dann nicht morgen jemand diese letzte Pflicht für mich erfüllen muss.
Sie haben ihn gebracht und in das Hochhaus geschleppt; ein paar Anwohner, die aus dem Fenster schauten, sind von ihnen verscheucht worden. Insgesamt haben sie sich bemüht, keinen Krach zu machen. Es war eindeutig, dass der Mann, den sie schleppten, tot war. Ein Teil der Gruppe wartete vor dem Haus, die anderen gingen hinein. Die vor dem Haus starrten ununterbrochen nach oben. …
Hören sie, sagen sie bloß niemanden meinen Namen. Garantieren sie mir für Leib und Leben, dann erzähle ich alles, was sie wollen. …“
Eines Tages werden sie alle aussagen, nicht nur dieser, sondern Hunderte, Tausende von Zeugen. …
Endstation: Friedhof der Namenlosen
Nach misslungenem Selbstmord blieb den Sicherheitskräften nur noch die Möglichkeit, die Identität Süleyman Cihans zu verschleiern. Über einen unbekannten Toten, nach dem niemand fragt, braucht man auch keine Rechenschaft abzulegen. So hatte Süleyman Cihan nun seinen Platz in der Akte der Vermissten. Die Standardantwort an seine Angehörigen war auch schon vorbereitet: „Nach ihm wird noch gefahndet.“
Damit war die Angelegenheit erledigt. Hatte es Süleyman Cihan überhaupt je gegeben? Ein Vater, ein paar Freunde, die nach ihm suchten, was bedeutete das schon? Aga Cihan gab aber nicht auf – und fand seinen Sohn tatsächlich eines Tages beim Durchblättern des Registers unbekannter Toter. Mit der langen verzweifelten Suche endete so auch die letzte Hoffnung Aga Cihans. Sein Sohn war nicht mehr vermisst. Er war tot – ermordet. Jetzt kam es dem alten Mann darauf an, die schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Fünf Rechtsanwälte unterstützten ihn. Sie reichten Klage gegen die Mörder Süleyman Cihans ein.
Der Staatsanwalt befragte daraufhin den Vorsitzenden des gerichtsmedizinischen Instituts, Semsi Gök, zu dem Autopsiebericht. Semsi Gök galt in der Türkei als Experte seines Faches. In seinem Buch „Gerichtsmedizin“ hatte er in einem Kapitel ausführlich erläutert, welche Narben und Male bestimmte Foltertechniken auf dem Körper zurücklassen, und war dabei auch auf kreisrunde Brandnarben eingegangen, „die mit größter Wahrscheinlichkeit auf ausgedrückte Zigaretten zurückzuführen sind“. Für Süleyman Cihan schien diese allgemeine Wahrheit jedoch nicht zuzutreffen. Semsi Gök machte sich sogar die Mühe, für das hohe Gericht einen völlig neuen Bericht zu schreiben, in dem er die Brandnarben als „Folgen des Wasseraustritts aus dem Körper des Verstorbenen“ bezeichnete und ausdrücklich erklärte, wie ein solcher Wasseraustritt erfolgen kann. „… dass sich auf dem Körper des Toten die Umrisse seiner Badehose abzeichnen, lässt darauf schließen, dass er am Strand Sonnenbäder genommen hat; durch den Wasseraustritt aus der sonnenverbrannten Haut entstehen Zusammenziehungen, die wie Brandnarben aussehen. …“
Nach der Untersuchung dieser Indizien hielt es der Militärstaatsanwalt für angebracht, die Ermittlungen einzustellen. Die Erklärung für die gesamte Angelegenheit lag schon bereit: Es handelte sich um einen heimtückischen Plan der Organisation Süleyman Cihans, der die Sicherheitskräfte in Verruf bringen und sie des Mordes verdächtig machen sollte. So wurde es erklärt und so musste es auch sein. Bei jeder anderen Version käme man nämlich nicht umhin, den Staatsanwalt von Kadiköy, das gerichtsmedizinische Institut sowie die Staatsanwaltschaft zumindest der vorsätzlichen Täuschung zu beschuldigen. Da das nicht angehen konnte, mussten die Zeugen gelogen haben.
Aga Cihan hatte seinen Sohn gefunden und gleichzeitig eine brutale, unmissverständliche Lektion in Staatskunde erhalten; er wusste nun, wie reibungslos und perfekt die Räder der Militärs und ziviler staatlicher Stellen ineinandergreifen.
Vorerst bleibt auch Aga Cihan nur das Grab seines Sohnes, doch wie unzählige andere Mütter und Väter hat er sich die Tränen getrocknet; eines Tages würde sich das ändern, der Tag wird kommen, ganz bestimmt …
Quelle: Kürsat Istanbullu, Verhaftet und Verschwunden. Türkei heute: Beispiel einer `wehrhaften Demokratie´, Zambon-Verlag, Frankfurt/Main, 1988, S. 29-39
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