Seit Jahren erregt die grassierende mörderische Gewalt in
Mexiko internationales Aufsehen. Morde werden nicht nur
demonstrativ an Frauen und an Oppositionellen, sondern auch
von Kriminellen untereinander begangen. Wie konnte es dazu
kommen, dass die Gewalt so eskalierte? Welche Rolle spielt
der Staat dabei? Und welcher Widerstand regt sich gegen die
Herrschaft dieser Nekropolitik?
Am 26. September 2014 verschwanden in der Stadt Iguala
nächtens 43 männliche Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa, die
zuvor von der Polizei festgenommen worden waren. Im Vorfeld
einer Kundgebung hatten Polizisten bereits sechs Studierende
derselben Gruppe erschossen. Am Tag danach ging das Foto des
leblosen, grausam entstellten Studenten Julio César Mondragón
um die Welt. Seine Ermordung ist Zeugnis der
spektakularisierten Gewalt, die in den vergangenen Jahren
immer mehr zum mexikanischen Alltag wurde. Sie stellt eine
fortgeführte mörderische Praxis dar, die bereits seit 1993
systematische Anwendung gegenüber einer ganzen
Bevölkerungsgruppe findet: Die Serienmorde an Frauen, die
lange Zeit vor allem in der nördlichen Grenzstadt Ciudad
Juárez verübt wurden, inzwischen aber häufiger im zentral
gelegenen Bundesstaat México geschehen.
Mit der Zahl dieser Feminizide stieg auch ihre Präsenz in der
Öffentlichkeit. Gemeinhin wird die zunehmende Gewalt gegen
Frauen auf sich ändernde Geschlechterrollen zurückgeführt:
Prekäre Lohnarbeit verhilft jungen Frauen zum ökonomischen
Aufstieg. Ihre neue Rolle als Familienernährerin empfinden
einige Männer als sozialen Abstieg. Durch Gewalt an Frauen
versuchen sie, ihre verloren geglaubte männliche Identität
wieder zu erlangen.
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission nannte mit
Blick auf Ciudad Juárez drei Aspekte, die die Feminizide
wesentlich begünstigten: Die im Privaten angewandte Gewalt sei
unsichtbar, sie werde nicht öffentlich thematisiert. Hinzu
komme die Normalität der Gewaltanwendung in der patriarchalen
Kultur. Sie autorisiere Männer, das vermeintliche
Fehlverhalten von Frauen gewaltsam zu korrigieren. Die
Straffreiheit bilde den dritten Aspekt. Sie resultiere aus
besagten Umständen und fördere zugleich weitere Gewalt
gegenüber Frauen.
UN Women kalkuliert die Zahl der Feminizide in Mexiko für den
Zeitraum 1985 bis 2010 auf über 36 000.
[1]
Ein Drittel der Täter entstamme dem nahen persönlichen Umfeld
der Frauen, schätzt Amnesty International. Für die Feminizide
im öffentlichen Raum seien hingegen zumeist Banden und
Kartelle verantwortlich. Lange Arbeitszeiten und -wege
exponierten die Frauen zunehmend in einer Umgebung, die stark
vom organisierten Verbrechen, Straffreiheit und Machismo
geprägt ist.
[2]
Die mexikanische queer-feministische Theoretikerin Valencia
Triana Sayak verortet die systematische sexualisierte Gewalt
in einem Beziehungsgeflecht aus krisengeschüttelter
hegemonialer Männlichkeit und den Anforderungen eines
neoliberalen Kapitalismus in einem herausgeforderten und
angegriffenen Staat. Menschenrechtsgruppen sprechen von einem
operativen Netzwerk zwischen Politik und Industrie - dominiert
vom organisierten Verbrechen.
[3]
Körper, Sex und Sexualität seien dabei grundlegende Elemente.
Im Gegensatz zu den
hate crimes der häuslichen Sphäre
verfolgten Täter von Feminiziden eine kommunikative Absicht.
Die Zerstörung der Körper selbst sende eine Botschaft und
werde zum konsumierbaren Produkt – der Tod sei ein lukratives
Geschäft, schreibt Sayak.
[4]
Massenhafte Entführungen, Menschen- und Organhandel,
Zwangsprostitution und Auftragsmorde zielten auf den
weiblichen oder nicht-männlichen Körper ab und wirtschafteten
mit ihm. Das kommunikative Moment krimineller Gruppen bestehe
in der Markierung territorialer Machtansprüche durch die zur
Schau gestellten Körper. Sie verbreiteten Angst und bewegten
die Menschen dazu Schutzgelder zu zahlen, private
Sicherheitsdienste oder andere präventive Angebote des stark
wachsenden Sicherheitssektors zu beanspruchen.
Das Beispiel von Julio César Mondragón zeigt, dass die
expressive Dimension der Gewalt bei den Feminiziden nun auch
auf männliche Körper übertragen wurde. Auch sie werden
stigmatisiert, ähnlich den Opfern der Feminizide, denen in
Mexiko oft nachgesagt wird: „Sie alle waren Prostituierte und
somit selbst schuld“. Den verschwundenen Studenten werden ihr
junges Alter und ihre Klassenzugehörigkeit zur Last gelegt.
Damit einher geht eine rassistische Komponente: Arm und
dunkelhäutig/ indigen ist ein gängiges Begriffspaar in Mexiko.
Seit den Morden an den entführten Studenten ist mehr als ein
Jahr vergangen. Doch ungeachtet fehlender Beweise mutmaßen
staatliche Institutionen und Medien über deren Verbindungen zu
einer lokalen kriminellen Bande. Die Verstrickungen zwischen
GemeindepolitikerInnen, der lokalen Polizei, dem in der Nähe
des Geschehens stationierten Militär und der kriminellen
Organisation Guerreros Unidos werden hingegen nicht
thematisiert.
Die Dominanz der Nekropolitik
Im Herbst 2015 besuchte der UN-Hochkommissar für
Menschenrechte, Zeid Rada Al Hussein, Mexiko. Hinsichtlich der
Menschenrechtslage konstatierte er: „Für ein Land, das sich
nicht inmitten eines Konflikts befindet, sind die errechneten
Zahlen einfach erschlagend.“ Er zählte auf: Von Dezember 2006
bis August 2015 seien mehr als 150.000 Menschen ermordet
worden. Die Zahl verschwundener Menschen belaufe sich
offiziell auf über 26 000. Hinzu kämen unzählige
Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe sowie Feminizide.
Angetrieben durch bewaffnete Konflikte zwischen kriminellen
Gruppen oder von diesen mit dem Staat, durchbreche die Zahl
gewaltsam Vertriebener vorsichtig geschätzt bald die 300.000er
Marke.
[5]
Al Hussein bezichtigte aber nicht nur die organisierte
Kriminalität, die Verbrechen zu begehen. Teile der Armee sowie
der Gemeinde-, Länder- und Bundespolizei seien ebenso dafür
verantwortlich. Sie handelten aus Eigeninteresse, teils in
Zusammenarbeit mit Kriminellen.
In diesem Kontext endemischer Gewalt gelten diejenigen
Akteure als souverän, deren Morden frei von strafrechtlichen
Konsequenzen bleibt. Es ist ein Kontext, in dem die Menschen
über keine Rechte und keinen Schutz verfügen. Der
südafrikanische postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe
beschreibt solche „zeitgenössischen Formen der Unterwerfung
des Lebens unter die Macht des Todes“
[6]
als Konzept der
Nekropolitik. Deren zentrale
Charakteristika seien die nicht mehr als Ausnahme, sondern als
Norm verstandene Gewalt sowie souveräne AkteurInnen, die
innerhalb eines wachsenden rechtsfreien Raumes agieren. Hinzu
komme die Legitimation des Handelns durch den Verweis auf
einen Feind, der scheinbar die eigene Existenz bedroht (Staat
versus organisierte Kriminalität).
Die im Rahmen von Nekropolitik entstehenden rechtsfreien
Räume werden in einer Weise kontrolliert, die eine Enteignung
von Territorien zugunsten souveräner Akteure ermöglichen.
Betroffen sind nicht nur der Grundbesitz von Staat oder von
verfeindeten kriminellen Strukturen, sondern ebenso
individueller oder kollektiver Besitz. Die Administration
dieser Räume unterliegt der kapitalistischen Logik der
Mehrwerterzeugung. Folglich beutet sie die Bevölkerung, ihre
natürlichen Ressourcen und Produktionsmittel aus, die sich auf
den kontrollierten Territorien befinden. Erfolgreiches
Wirtschaften erfordert demnach Machterhalt und
Machterweiterung. Die Herrschaft über die Körper mittels Tod
und Gewalt spielen dabei eine entscheidende Rolle. Das
Gewaltmonopol liegt nicht länger beim Staat, sondern je nach
Raum bei einzelnen oder einem Mix aus Akteuren.
[7]
Die bewaffneten Auseinandersetzungen mit ihren verheerenden
Auswirkungen ähnelten zunehmend einer „Abrechnung zwischen
mächtigen und verletzten Machos, die versuchen, ihre Ehre zu
erhalten und ihre Territorien zurückzuerobern - aber nicht die
zerstörerischen Effekte auf das Land berücksichtigen,
schreibt Sayak.“
[8]
Auf regierungskritischen Veranstaltungen in Mexiko-Stadt wird
oft Frage gestellt, wer einen Menschen aus dem persönlichen
Umfeld kennt, der Opfer von Entführung, Mord, Vergewaltigung
oder Erpressung wurde. In der Regel gehen zwei Drittel der
Hände in die Höhe. Die Gewalt hat die Grenzen interner
Konflikte zwischen privaten Banden und derer mit dem Staat
längst überschritten. Wenngleich sie nicht überall
gleichermaßen präsent ist, betrifft die endemische Gewalt in
Mexiko fast jede/n in irgendeiner Form. Sie verschiebt sich
zeitlich und räumlich wie ein Netzwerk mit verschiedenen
Knotenpunkten. In manchen Regionen kommt sie fast gar nicht
vor.
[9]
Präsident Felipe Calderón (2006-2012) trug ab Dezember 2006
durch die Militarisierung und die Politik der harten Hand
einiges zur endemischen Gewalt bei. Von der strukturellen
Gewalt profitieren Netzwerke zwischen Politikern und
Sicherheitsdienstleister. Der Staat selbst kurbelte die
Kriegsmaschinerie kräftig an. So verdreifachte sich der
Militärhaushalt zwischen 2007 und 2011 auf 77 Milliarden
Pesos, nachdem Calderón angekündigt hatte, man müsse sich
vorbereiten und ausstatten für die kommenden
Auseinandersetzungen. Die Streitkräfte handelten allein in
diesem Zeitraum 66 Verträge aus – 54 für den Kauf von
Militärfahrzeugen, zwölf für den Erwerb von Waffen.
[10]
Von Punkten zu Linien zu Netzen
Kriminelle Strukturen und illegaler Drogenanbau reichen bis
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück.
Industrialisierungsprozesse und Landenteignungen im Hochland
von Sinaloa trieben Teile der bäuerlichen Bevölkerung zum
Opiumanbau. In dieser Region entstanden auch die ersten
paramilitärischen Einheiten, die in den 1940er Jahren im
Auftrag von Großgrundbesitzern gegen aufsässige Bäuerinnen und
Bauern vorgingen. Korrumpierte staatliche Funktionäre sind
ebenfalls kein neues Phänomen: Der Gouverneur von Baja
California, Colonel Esteban Cantú, paktierte bereits 1916 mit
kriminellen Banden.
[11]
Dennoch nahmen Gewalt und Verbrechen früher nie eine so
ausgeuferte Dimension und Dynamik an wie heute.
Ausschlaggebend war das Jahr 1985: Das Guadalajara-Kartell
enttarnte und ermordete mit Enrique „Kiki“ Camarena einen
Agenten der US-amerikanischen Drogenaufsichtsbehörde DEA. Auf
Druck der USA verhafteten die mexikanischen
Sicherheitsbehörden nach und nach die Capos großer
Drogenkartelle. Zeitgleich duldete die CIA partiell einige
Drogenhändler und kooperierte mit ihnen, um geheime
Operationen im sandinistischen Nicaragua und gegen weitere
mittelamerikanische Guerillagruppen zu finanzieren.
Mexikanische Sicherheitskräfte verhafteten 1989 den letzten
großen Capo Ángel Félix Gallardo und provozierten damit eine
Hydra der Unterwelt. 1975 waren lediglich zwei Drogenkartelle
in zehn Bundesstaaten aktiv: das Guadalajara-Kartell und das
Golf-Kartell. Vierzig Jahre später gibt es neun größere
Kartelle - allesamt Abspaltungen der ersten beiden, präsent in
beinahe jedem der 32 Bundesstaaten. Zusätzlich treiben
unzählige kleinere bewaffnete Banden und Zellen lokal und
regional ihr Unwesen.
Die mexikanischen Kartelle positionierten sich als
Hauptproduzenten und Mexiko wurde wichtigste Transitzone für
Drogen. Begünstigt wurde dies durch folgende internationale
Faktoren: Die Zerschlagung des Medellín- und Calí-Kartells in
Kolumbien Anfang der 1990er; das Inkrafttreten des
Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994 und damit
einhergehend eine große Zahl nicht kontrollierbarer Güter, die
die Grenze gen Norden überqueren; ein liberalisiertes
internationales Finanzsystem, das Geldtransaktionen
erleichtert und Spuren von Geldwäsche schneller verwischen
lässt; neue Absatzmärkte in anderen Ländern; die steigende
Drogennachfrage in und der einfache Zugang zu Waffen aus den
USA.
[12]
[13]
Organisiertes Verbrechen in Mexiko hat also seine Wurzeln im
klassischen Drogenhandel und funktionierte durch das
Korrumpieren staatlicher Strukturen. Das zunehmende Aufreiben
der Kartelle durch den Staat und der verschärfte Wettbewerb
zwischen ihnen förderte exzessive und systematische
Gewaltanwendung. Im Zuge dieses Prozesses erweiterten sich die
kriminellen Tätigkeitsbereiche: Produktpiraterie,
Menschenhandel, Schutzgelder, Entführungen und sogar Bergbau
kamen hinzu. Das Geschäft der schmuggelnden Capos verwandelte
sich zunehmend in eines von Gewaltexperten.
[14]
Dabei ist aber wichtig zu betonen, dass spektakularisierte
Gewalt ursprünglich kein genuines Charakteristikum des
organisierten Verbrechens ist. Denn um illegale Geschäfte
erfolgreich betreiben zu können, sind Aufregung und
Aufmerksamkeit kontraproduktiv. Die mexikanische Nekropolitik
ist somit eher das Ergebnis eines historisch geformten und
variablen Kräftemessens zwischen Staat und organisiertem
Verbrechen.
Nach jahrzehntelanger rigider zentraler Herrschaft öffnete
die neoliberale Regierung das Land ab den 1990er Jahren
politisch und ökonomisch. Sie verteilte politische und
administrative Kompetenzen auf untere staatliche Ebenen -
jedoch ohne die finanziellen Mittel umzuverteilen. Die
demokratische Transition des mexikanischen Staates scheiterte.
Durch taktische Abkommen, wie die Zuteilung bestimmter
Transportrouten, kontrollierte der Staat einst den
Drogenhandel bis zu einem gewissen Grad. Dies manifestierte
sich aber vornehmlich in alltäglichen Beziehungen auf lokaler
Ebene; die Kartelle nutzten finanzielle Nöte von
Bürgermeistern, Abgeordneten und Gouverneuren und finanzierten
deren Kampagnen. Das Korruptionsnetz, das mitunter wichtigste
Instrument zum Schutz illegaler Strukturen, wurde
allgegenwärtig.
[15]
Die favorisierte Strategie der letzten beiden mexikanischen
Regierungen bestand darin, möglichst viele Kartelle zu
attackieren und in möglichst vielen Städten und Ortschaften
mit Armee und Marine zu intervenieren. Die Regierungen
missachteten jedoch, dass sie nicht mehr Herr der
korrumpierten administrativen Strukturen vor Ort waren. Zwang
allein ist nicht Erfolg versprechend, wenn Zustimmung und
Loyalität gegenüber dem eingreifenden Akteur längst abhanden
gekommen sind.
Die Gruppen des organisierten Verbrechens und die staatlichen
Kräfte ähnelten sich in den letzten Jahren immer mehr in ihrer
Vorgehensweise: der tödlichen Konfrontation. Sie entwickelten
organische Verbindungen, gegenseitige Abhängigkeiten,
personelle Überschneidungen und verfolgten gemeinsame Ziele
(aber doch auch gegenläufige?). Aus dieser Dynamik heraus
entstand letztlich jene gewalttätige Formation der
Nekropolitik. Es häuften sich extralegale Hinrichtungen sowohl
von Kriminellen als auch von Unschuldigen seitens Militär,
Marine und Polizei. Bei einer Konfrontation mit dem Kartell
Jalisco Neue Generation (CJNG) Ende Mai 2015 in Tanhuato,
richtete die Bundespolizei mindestens zwei Drittel der
getöteten 42 Mitglieder hin.
Immer öfter geraten ZivilistInnen ins Kreuzfeuer. Es mehren
sich die Fälle, in denen soziale AktivistInnen, die sich
zwischen Staat und Verbrechen positionieren, unaufgeklärten
Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Iguala ist dafür
beispielhaft: Im Zuge der Entführung der 43 Studenten - sie
hatten vermutlich einen mit Drogen beladenen Reisebus gekapert
- starben im Kugelhagel mehrere unbeteiligte Personen. Bereits
Ende 2011 erschossen Polizisten zwei Studenten derselben
Lehramtsschule während einer Protestaktion auf einer Autobahn.
Im Sommer 2014 tötete die Armee in Tlatlaya im Bundesstaat
Mexiko 22 Jugendliche. Später wurden Regierungsdokumente
veröffentlicht, die es gestatten, (vermeintliche) Kriminelle
zu erschießen.
Zeitgleich helfen korrumpierte staatliche und private
Akteure, illegal gewonnene Güter wie Holz, Kupfer und Erdöl in
den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen. Ein Beispiel
unter vielen ist die von einem kanadischen Unternehmen
geführte Goldmine San Xavier nahe des Örtchens San Pedro.
Trotz fehlender Genehmigungen und des Protests der Bevölkerung
betrieb man sie jahrelang weiter. 1998 wurde der
Bürgermeisters und Minengegner Baltazar Loredo ermordet.
In diesem schwer zu durchdringenden und zu entwirrenden Netz
der Gewalt herrscht die Nekropolitik. Tanhuato zeugt von der
umkämpften Kontrolle über ein Territorium, Iguala von der
Vorherrschaft über illegalen Warenverkehr, Tlatlaya steht für
das straffreie Töten, und San Pedro für rücksichtslose
Ressourcenausbeutung. Gemein haben all diese Fälle die
souveräne Gewalt gegen die Menschen und Körper, den Zugriff
auf einen bestimmten Raum sowie das Prinzip der
Mehrwerterzeugung.
Gegenwehr ist möglich
Das NAFTA-Abkommen ermöglichte die Privatisierung von ehemals
kommunalem Land und trieb so den Abbau von Ressourcen voran.
Dies zwang indigene Gruppen dazu, ihr Land selbst zu
verteidigen – gegen staatliche, privatwirtschaftliche und auch
kriminelle Akteure. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass
sie während der Kolonisation teilweise in Gebiete vertrieben
wurden, die heute die reichsten Vorkommen an natürlichen
Ressourcen aufweisen.
Je stärker die Konflikte zwischen den Kartellen und mit der
Regierung zunehmen und je mehr wirtschaftliche Bereiche als
illegale Geldquelle dienen, desto häufiger formiert sich
Widerstand. Vor allem in ländlichen Regionen richtet sich
dieser gegen das Amalgam aus organisiertem Verbrechen, Staat
und kapitalistischem Markt, wie Francisco „Paco“ Ortis aus
Tepoztlán in einem Gespräch berichtet. Paco ist Mitglied des
Congreso Nacional Indígena (CNI), ein Zusammenschluss von 27
indigenen Völkern, Stämmen und Nationen.
Die Gemeinden des CNI entscheiden selbst, wie sie sich zur
Wehr setzen. Die Beispiele reichen vom gewaltfreien Widerstand
von Xochicuautla bis hin zum Aufstand von 18.000
EinwohnerInnen der Stadt Cherán im April 2011. Sie bewaffnen
sich gegen kriminelle Gruppen, die mit lokalen staatlichen
Akteuren zusammenarbeiten und die Wälder abholzen. Mit Blick
auf die geplanten Infrastruktur-, Tourismus-, und
Bergbauprojekte in Territorien indigener Gruppen folgert
Paco: „Für uns ist das die kapitalistische Hydra und der
gleiche Krieg wie immer gegen die ursprünglichen Völker.“
Die indigenen Gruppen des CNI stehen mit ihrer Gegenwehr
nicht alleine. Weitere Beispiele sind die regionale autonome
Gemeindepolizei
CRAC im Bundesstaat Guerrero, die
politisch schwer einzuschätzenden Selbstverteidigungsgruppen
Autodefensas
aus Michoacán, die Frauengruppen aus Ciudad Juárez und die
Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde. Letztere
kämpft landesweit für die Aufklärung der Fälle von
verschwundenen oder ermordeten Angehörigen.
Lösungsansätze finden sich auch innerhalb des bestehenden
rechtlichen Rahmens - abseits der militärischen Option, die
Bundes- und Länderregierungen als einzig möglichen Weg
betrachten. WissenschaftlerInnen wie Edgardo Buscaglia
schlagen institutionelle Lösungswege vor. Weil die
Kriminalität staatliche Stellen korrumpiert, um ihre Märkte zu
stabilisieren, setzen an genau diesen Schnittstellen vier
Gegenmaßnahmen an: illegale Vermögenswerte beschlagnahmen und
illegal-legale Unternehmen demontieren, korrupten
PolitikerInnen den Prozess machen, die internationale
Zusammenarbeit verstärken und soziale Präventivmaßnahmen
verabschieden.
[16]
Spätestens seit Ende der 1960er Jahre üben mexikanische
Regierungen rigoros politische Repression gegen dissidente
Gruppen und Einzelpersonen aus. Von der EZLN ausgehend,
gründete sich bereits 2007 das
Netz gegen die Repression
und für die Solidarität. Es ist in mehr als 20
Bundesstaaten und international aktiv und richtet sich sowohl
an politische Gefangene als auch generell an Opfer staatlicher
Gewalt. Ziel sei es, erklärt Aktivist Luis López, Betroffene
„stets nach dem Rhythmus und den Bedürfnissen der
angegriffenen Person, Familie oder Gemeinde zu begleiten“.
López konstatiert, die endemische Gewalt zerbreche das soziale
Gefüge: „Die Gewalt drückt sich nicht ausschließlich auf
politischer, sondern auf sozialer Ebene aus: die Nachbarin,
die keine Nachbarin mehr ist, sondern eine potentielle
Kriminelle. Großes Misstrauen und Angst entstehen um uns
herum“. Es vergehe kein Monat, „ohne dass ein Aktivist, sei er
Anarchist oder Menschenrechtler, verschwindet oder ermordet
wird“.
Die Geschichte von Kuy
Die Geschichte des mexikanischen Widerstands und der
politischen Repression ist auch die Geschichte des Aktivisten
Juan Francisco Kuykendall Leal, genannt Kuy. Während am 1.
Dezember 2012 der frisch gewählte Präsident Enrique Peña Nieto
seinen Eid ablegte, schoss ein Polizist auf einer
Demonstration in Mexiko-Stadt ein Gummigeschoss auf den Kopf
von Kuy. Der 67-jährige fiel in ein Koma und starb dreizehn
Monate später. Kuys Freund Teodulfo Torres filmte zufällig das
Geschehen und stellte das Video auf Youtube ein. Teodulfo
sollte Ende März 2014 vor der Staatsanwaltschaft aussagen.
Einige Tage vorher verschwand er. Bis heute fehlt von ihm jede
Spur.
Mit fester Stimme und traurigen Augen spricht seine
Lebensgefährtin Eva über Kuy. Sein Tod ist jetzt eine Woche
her. Jemand vom Netz gegen die Repression ist auch da. Hin und
wieder huscht ein Lächeln über ihre Lippen, wenn sie sich an
eine der unzähligen Anekdoten erinnert. „Er war der einzige,
der mir einen Horizont gab“, deutet sie an, wer Kuy war und
was er tat. Seine Politisierung verortet sie im turbulenten
Jahr 1968. Am Tag des Massakers von Tlatelolco, am 2. Oktober
kurz vor Beginn der Olympischen Spiele in Mexiko, als das
Militär mehrere hundert Studierende erschoss, konnte er den
Kugeln noch entwischen. Zusammen mit FreundInnen versteckte er
sich in der nah gelegenen Wohnung einer kubanischen Ärztin.
Mit Frauenkleidern getarnt verließen sie am nächsten Morgen
die Szenerie, vorbei an stationierten Militärs und Polizisten.
Einige Jahre später, als an Fronleichnam 1971
paramilitärische Gruppen auf eine studentische Demonstration
in Mexiko-Stadt feuerten, wurde Kuy durch seine Affinität zum
Kino gerettet. Auf dem Weg zur Versammlung blieb er vor einem
Kinoplakat stehen. Er interessierte sich für den gerade
laufenden Film, kaufte eine Eintrittskarte und verbrachte die
folgenden Stunden vor der Leinwand. Als
Halconazo ging
dieser Tag in die mexikanische Geschichte ein, an dem mehr als
100 Studierende ums Leben kamen. Danach begann Kuys Zeit des
Theaters. In Mexiko galt Kuy als einer der Vorreiter des
Straßentheaters. Mehr als 40 Jahre lang sollte das so bleiben.
Die Entgrenzung aufheben
Die vielen verschiedenen Formen der Gewalt in Mexiko, die
Nekropolitik und die politische Repression, reißen mehr und
mehr das soziale Gefüge auf, das eine Gesellschaft zusammen
hält. Die Konflikte werden weder politisch ausgetragen noch
eingehegt, sie sind entgrenzt. Zwischen der Politik des Todes,
der um sich greifenden Angst und der allgemeinen
Involviertheit in die Gewalt tun sich jedoch Momente der
Dissidenz und des Widerstandes auf. Es sind letztlich die
Ansätze der Zivilgesellschaft und der betroffenen
Bevölkerungsgruppen, die versuchen, die Entgrenzung
aufzuheben.
Anmerkungen:
[1]
UN Women (2012): Violencia feminicida en México.
Características, tendencias y nuevas expresiones en las
entidades federativas, 1985-2010,
www2.unwomen.org/~/media/headquarters/attachments/sections/library/publications/2013/2/feminicidio_mexico-1985-2010%20pdf.pdf?v=1&d=20141013T121457
, S. 23
[2]
Kathrin Zeiske (2015): Stadt der verschwundenen Frauen, in:
www.amnesty.de/journal/2015/dezember/stadt-der-verschwundenen-frauen?destination=node%2F1344.
[3]
Raina Zimmering (2006): Frauenmorde und keine Aufklärung – die
Frauen von Juárez, in: UTOPIE kreativ, H. 184, S. 149-161.
[4]
Valencia Triana Sayak (2011): Capitalismo gore: narcomáquina y
performance de género, in: e-misférica, Nr. 8.2,
http://hemisphericinstitute.org/hemi/en/e-misferica-82/triana;
(2012): Capitalismo Gore y Necropolítica en México
contemporáneo, in: Relaciones Internacionales, Nr. 19,
GERI-UAM, S. 83-102; (2014): Teoría transfeminista para el
análisis de la violencia machista y la reconstrucción
no-violenta del tejido social en México contemporáneo, in:
Universitas Humanística, Nr. 78, S. 66-88.
http://dx.doi.org/10.11144/Javeriana.UH78.ttpa
[5]
Norwegian Refugee Council NRC (2015): Global Overview 2015.
People internally displaced by conflict and violence, in:
www.internal-displacement.org/assets/library/Media/201505-Global-Overview-2015/20150506-global-overview-2015-en.pdf.
[6]
Achille Mbembe (2011): Nekropolitik, in: Pieper, M. et al.
(Hrsg.): Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden, VS Verlag, S.
63-96.
[7]
Helena Chávez Mac Gregor (2013): Necropolítica. La Política
como trabajo de muerte, in: Revista Ábaco, Vol. 4, Nr. 78, S.
23-30.
[8]
Vgl. Sayak 2012.
[9]
Jesús Espinal-Enríquez/ Hernán Larralde, (2015): Analysis of
México’s Narco-War Network (2007–2011), in:
PLoS ONE,
10(5), e0126503.
http://doi.org/10.1371/journal.pone.0126503
[10]
Rafael Cabrera, (2012): Felipe Calderón triplicó el gasto
militar. El
shopping de la guerra, in: Emeequis, 19.
November 2012, S. 23-31.
[11]
Ioan Grillo (2011): El Narco. Inside Mexico's Criminal
Insurgency, Bloomsbury Press, New York.
[12]
Phil Williams (2001): Crime, Illicit Markets and Money
Laundering, in: Chantal de Jonge Oudraat P.J. Simmons, eds.
Managing
Global Issues: Lessons Learned. New York, S. 106-150.
[13]
Enrique Krauze (2012): México: La tormenta perfecta, in:
Letras Libres, Noviembre 2012, S. 8-15.
[15]
Guillermo Pereyra (2012): México: violencia criminal y
“guerra contra el narcotráfico”, in: Revista Mexicana de
Sociología, Jg. 74, Nr. 3, S. 429-460.
[16]
Edgardo Buscaglia (2010): México pierde la guerra, in: Revista
Esquire, S. 95-101; Fernando Lozano (2011): Entrevista a
Edgardo Buscaglia, in: Versión Nueva Época, Nr. 28, S. 1-6.;
Buscaglia, Edgardo (2012): La Paradoja Mexicana de la
Delincuencia Organizada: Policías, Violencia y Corrupción, in:
Revista Policía y Segurdiad Pública, Enero-Junio, S. 275-282.