Die
Künste, die Wissenschaften,
die Pueblos originarios (1) und die Kellergeschosse der Welt
EZLN
– Ejército Zapatista de
Liberación Nacional.
Mexiko.
Februar
2016.
Für
Juan Villoro Ruiz.
Bruder,
es
freut mich, dass es dem Rest der 'Familie unter Protest' gut
geht, und wir
bedanken uns dafür, dass du der Bote warst, der unsere Grüße und
Geschenke an
sie überbrachte (obwohl ich immer noch denke, dass Krawatten,
Aschenbecher oder
Blumenvasen die bessere Option gewesen wären).
In dem
Moment, wo ich versuchte, weiterzuschreiben, erinnerte ich mich
an deinen Text,
„Rede über den Regen“ („Conferencia sobre la lluvia“,
editorial
Almadía, 2013), der, wie ich glaube, für das Theater geschrieben
wurde. Ich las
ihn und stellte mir – sicherlich ungeschickt – das Bühnenbild
vor und die
Gebärden und Bewegungen desjenigen, der den Monolog spricht, und
empfand seine
Fragen eher als eine erhaltene Antwort. Sein Anfang stellt eine
Synthese meines
Lebens dar, beispielsweise. In der ersten Zeile: das lakonische
– „Ich verlor
die Papiere!“. Es füllt eine Enzyklopädie an, wenn ich die
ständigen
Fehlleistungen, die ich gewesen bin, an Zeiten und Orten
festmache.
Immer
wieder gehen mir, nach dem Eröffnungsgruß in einem Brief, die
Ideen verlustig
(„die Tonne“ (2), wie die Compas sagen, wenn sie sich auf
die Tonart
eines Liedes beziehen). Ich will damit sagen, ich verliere den
konkreten Zweck
des Briefes. Sicherlich könnte die Aufklärung darüber, wer der
Briefempfänger
ist, helfen. Nicht selten ist jedoch der Adressat ein Bruder,
von dem man nicht
notwendigerweise eine Antwort, sondern immer einen Gedanken,
einen Zweifel, ein
Infrage stellen provozieren will, – das jedoch nicht
paralysieren, sondern zu
weiteren Gedanken, Zweifeln, Fragen und Eceteras anregen will.
Dann
sprudeln Worte – so wie es vielleicht dem Bibliothekar-Redner,
dem
Buch-Protagonisten, erging
– die sich
nicht vorsätzlich suchen, sondern (einfach) da sind – lauernd,
wartend auf eine
Unachtsamkeit, auf einen Riss im Alltäglichen, um das Papier,
den Bildschirm
oder dieses zerknitterte Blatt („Verdammt-noch-mal-wo-habe-ich-es-gelassen?-Ah-das-ist-es-ja!-Wann-habe-ich-denn-diesen-Blödsinn-geschrieben?“)
zu
überfallen. Die Worte hören dann auf, Abwehr und Barrikade,
Lanze und
Schwert zu sein; sie verwandeln sich – sehr zu unserem Leidwesen
– in einen
Spiegel, der einen enthüllt und schlaflos, wachsam macht.
Klar,
der Bibliothekar kann sich den mit Regalen flankierten Gängen
zuwenden, ihrer
nach Alphabet und Nummern sortierten Anordnung, die aus Zeiten
und Orten die
Landkarte eines literarischen Schatzes zeichnen. Der
Bibliothekar kann das „V“
von „Vergessen“ suchen und sehen, ob er das, was er verlor, dort
findet. Aber
hier, in diesem permanent Orte wechseln, ist die Idee von einer
– wenn auch
minimalen und tragbaren – Bibliothek ein Hirngespinst. Du wirst
es nicht
glauben, aber ich habe die elektronischen Bücher mit
unbegründeten Hoffnungen
betrachtet (denn auf einen USB-Stick, einen Pendrive,
einen
externen Speicher könnte ich zwar nicht die Bibliothek von Luis
Borges, jedoch
wenigstens ein Minimum laden, unter anderen: Cervantes, Neruda,
Tomás Segovia,
Le Carré, Conan Doyle, Miguel Hernández, Shakespeare, Rulfo,
Joyce, Malú
Huacuja, Eduardo Galeano, Alcira Élida Scoust Scaffo, Alighieri,
Eluard, León
Portilla und den Wort-Zauberer: García Lorca).
Aber
daraus wird nichts. Denn wenn der Bibliothekar seine Papiere
verlieren kann, so
verliere ich die USB-Sticks – wo auch immer sie herum fliegen
mögen.
Du
wirst es nicht glauben, denn einer hat so seine verschämten
Phantasien. In den
USB-Sticks mit den gespeicherten elektronischen Büchern würde
ich eine
Vermischung der Autoren pflegen, daran denkend, falls ich die Sticks
verlieren würde, wären sie weiterhin zusammen, und vielleicht,
ich weiß es
nicht – denn die Belletristik ist das Genre des Unmöglichen, das
sich in
Literatur konkretisiert – könnten sie sich dann unter einander
austauschen.
„Die Literatur ist ein Ort, an
dem es regnet“,
lässt du den unglücklichen
Redner sagen, der gezwungen ist, sich nackt zu machen – ohne
seine Notizen, die
ihn kleiden würden – um sich so zu zeigen, wie er ist:
verletzlich.
Dann
stell' dir mal einen USB-Stick mit diesen oder jenen
Wort-Künstlern vor. Stell'
dir vor, es fängt an zu regnen. Stell' dir vor, sie reden unter
sich, während
sie zu verhindern suchen, dass ein Tropfen den binären Code, in
dem sie leben,
ruiniert. Die Missverständnisse würden beginnen: 0-1-0-Regenfleck-1-Wasserklecks-0-0-Wasserklecks-1,
oder was auch immer. Es begänne: „Was unterstehen Sie sich!“,
und von
einer Seite zur anderen flögen: „Fuck you!“ und: „Ich
verpass' dir
gleich eine Maulschelle!“, „Das ist absoluter
Schwachsinn!“, „Zur
Hölle damit!“, „Vous êtes fou, vollkommen plemplem!“,
„Das ist
für'n Arsch!“ Währenddessen würde Alcira seine „Poesie
in Waffen“
als Kopien verteilen, was, wie ich glaube, die kriegerischen
Gemüter nicht
besänftigen würde. Letztendlich wären alle glücklichen
Erwartungen ruiniert...
durch den Regen.
Klar,
mutatis
mutandi (3), in deiner Literatur bildet eine Katze die
spärliche
Zuhörerschaft des Redners, und hier ist es ein Gato-Perro,
ein
Katze-Hund, mit seiner Lucezita, seinem Lichtchen, die
durch das, was
ich schreibe, genauso verwirrt werden. Als wären nicht schon an
sich eine
Katze-die-Hund-ist-der-Katze-ist-die-Hund-ist und ein
Lichtchen, das sich
im Schatten zusammen kauert, verwirrend.
Schweife
ich
ab? Sicherlich. Schließlich ist dieser unmögliche Austausch
innerhalb eines
USB-Sticks, der darauf vertraut, dass der Regen das Gespräch
nicht ruinieren
kann, nichts als eine Phantasie.
Jedoch
wenn für den Redner das Thema der Regen ist, so ist es für
diesen Brief... der
Sturm.
Erlaube
mir
nun, dass ich diese Zeilen nutze, um unseren Gedankenaustausch
über die
komplexe Krise, die sich – nach den einen – nähert, oder – nach
anderen – sich bereits
eingestellt hat, fortzusetzen.
Jemand
hat in etwa gesagt: Unsere Sichtweise (im Buch „Das kritische
Denken im
Angesicht der kapitalistischen Hydra. Beiträge der Comisión
Sexta des EZLN“
jetzt als Typographie gestaltet (4)) sei apokalyptisch und näher
an Robert
Kirkman und seinen „The Walking Dead“ (Comic und
Fernsehserie, die durch
ihn inspiriert sind, oder auch nicht) als an Milton und Rose
Friedman und ihrer
„Freiheit zu wählen“ (Buch und Wirtschaftspolitiken, die
darin ihr Alibi
finden). Wir irrten uns, weil wir nicht orthodox wären; oder:
Wir irrten uns,
weil wir zu orthodox wären. Nichts würde
geschehen, jeden Morgen beim Aufstehen würde das
Notwendige zum
Frühstücken da sein und der Nachbarhund würde weiterhin das
Müllauto anbellen,
beim Öffnen des Hahns am Waschbecken käme Wasser heraus und
nicht ein Geräusch
aus dem Jenseits. Wir seien lediglich Unheil verkündende schräge
Vögel, die
keinerlei medialen oder akademischen Impakt (beides wird ja
immer mehr zum
Gleichen) mehr auslösten .
Letztendlich:
Die
Maschine funktioniere, und jeder befände sich an der Stelle, wo
er sein
sollte.
Die
Erschütterungen seien sporadisch, und nur Erschütterungen, die
Turbulenzen
vorübergehend und dem geschuldet, dass einer sich widersetze,
dort zu sein, wo
er sein sollte. Wie eine Uhr kaputt gehe, wenn ein Rädchen oder
eine Feder
ihren angestammten Platz verlasse; der Staat sei der
„Uhrmacher“, der das
kaputte Teil heraus nähme und durch ein anderes ersetze.
Die
Apokalypse (alles im Preis eingeschlossen)? Die universale Sintflut? Die
Menschheit als Gefangene im
anscheinend ewigen und unendlich weiter fahrenden Zug des „Snowpiercer“
(Film des Südkoreaners Bong Joon-ho, die mir als DVD aus
„alternativer
Produktion“ zu kam, und den ich jetzt nicht finde)? Innerhalb
dessen die
gleiche Unmenschlichkeit reproduziert wird, die aus der
Einfrierung des
Planeten erfolgt, um damit das Problem der Erderwärmung lösen zu
wollen?
Nichts
liegt von unserem Denken weiter entfernt. Wir, Zapatistinnen und
Zapatisten,
glauben nicht, dass die
Welt untergehen
wird. Ja, wir denken, dass das, was wir gegenwärtig kennen,
zusammen brechen
und seine Implosion eine große Anzahl an menschlichen und
naturalen Unglücken
verursachen wird.
Ob
diese Implosion bereits im Gange ist, oder ihre Dauer und ihr
Ende (noch) zu
bestimmen ist, darüber kann man debattieren; man kann
argumentieren, infrage
stellen, bestätigen oder verneinen. Aber so weit wir wissen,
gibt es keinen
Menschen, der es wagen würde, diese Implosion zu negieren. Alle
dort oben akzeptieren,
dass die Maschine versagt, und testen eine und tausende von
Lösungen – immer
innerhalb der Logik der Maschine. Aber es gibt welche, die
wollen mit dieser
Logik brechen und versichern: Die Menschheit ist möglich – ohne
diese Maschine.
Zweifellos,
so
wie wir sind, beschäftigt uns der Sturm nicht all zu sehr. Nach
all dem
waren es – für die Pueblos originarios und und die
Besitzlosen Mexikos
und der Welt – Jahrhunderte von Stürmen: Wenn man irgendwas
unten lernt, dann
ist es, unter widrigen Umständen zu leben. Das Leben, und in
seltenen Fällen
der Tod, ist ein kontinuierliches Kämpfen, eine Schlacht, die in
allen Winkeln,
zu allen Zeiten und an allen Orten statt findet. Und ich spreche
hier nicht von
den weltweiten, sondern von den persönlichen Kämpfen.
Wie
man aus der aufmerksamen Lektüre unserer Worte schließen kann,
geht unsere
Botschaft über den Sturm und seine durch ihn erzeugten Schmerzen
hinaus.
Wir
glauben, dass die Möglichkeit einer besseren Welt (nicht
perfekt, und nicht
vollendet, denn das überlassen wir den religiösen und
politischen Dogmen) sich
außerhalb der Maschine befindet. Ihre Möglichkeit stützt sich
auf drei Beine,
oder besser ausgedrückt, auf die gegenseitigen Beziehungen
zwischen drei
Bereichen, die in ihrem Auf und Nieder, den kleinen Siegen und
großen
Niederlagen innerhalb der kurzen Geschichte der Welt, überlebt
und ausgeharrt
haben: die Künste (hierbei ausgenommen die Literatur), die
Wissenschaften und
die Pueblos originarios mit den (anderen)
Kellergeschossen der
Menschheit.
Vielleicht
fragst
du dich – ein wenig aus Neugier, viel mehr jedoch wegen der
direkten
Anfrage an dich – warum ich die Literatur ausnehme. Erlaube mir,
dass ich das
weiter unten ausführe.
Du
wirst bemerkt haben, dass ich die Klassiker vernachlässige, und
die Politik
nicht als einen der Rettungswege bezeichnet habe. Uns ein wenig
kennend (trotz
allem und obwohl wir nicht im Innenteil der Zeitungsmedien
erscheinen, gibt es
jedoch eine eigene und reichhaltige Bibliographie für
denjenigen, der ein
aufrichtiges Interesse daran hat, zu wissen, von was der
Zapatismus ausgeht)
wird klar, dass wir uns damit auf die klassische Politik, auf
die Politik „von
oben“ beziehen.
Hör'
mal, Juan, Bruder, ich weiß, dass das genügend Stoff ist, der
über einen
nächsten Brief hinausgeht und für eine Bibliothek reicht, in der
wir uns ja
bereits befinden. Erlaube mir deshalb, dass ich das in der
Schwebe lasse.
Nicht weil es im Sturm weniger wichtig oder bedeutsam wäre,
sondern weil ich
bereits „Weg fasste“, wie die Compas sagen, und wenn ich
irgendeiner der
Abzweigungen, zu denen mich die Worte verlocken, folge, besteht
die Gefahr,
dass dich dieser Brief nie erreicht, nicht wegen dem Regen,
sondern weil er
kein Ende findet.
Ich habe „die
Künste“ benannt, weil
sie es sind (und nicht die „Politik“), die im Tiefsten des
Menschen graben und
seine Essenz, sein Wesen zu Tage befördern. Als ob die Welt die
gleiche bliebe,
jedoch mit ihnen und durch sie können wir – unter dem
Lärm der mit schlechter
Laune quietschenden Rädchen, Schrauben und Triebfedern – die menschliche
Möglichkeit
finden. Im Unterschied zur Politik versucht die Kunst nicht, die
Maschine zu justieren oder in Ordnung zu bringen. Sie macht
stattdessen etwas
viel Subversiveres und
Beunruhigenderes:
Sie zeigt die Möglichkeit einer anderen Welt.
Ich habe „die
Wissenschaften“
aufgeführt (und ich beziehe mich hier besonders auf die so
genannten
„Formalwissenschaften“ und „Naturwissenschaften“, in Erwägung,
dass die
Sozialwissenschaften noch einige Dinge zu definieren haben.
Obacht: dies
impliziert keine Aufforderung oder Forderung), weil sie die
Möglichkeit haben
auf dem Boden der Katastrophe, die bereits weltweit „operiert“,
zu
rekonstruieren. Und ich spreche nicht von „rekonstruieren“ im
Sinne von, das
bereits Fehlgegangene, Zerstörte wieder aufzunehmen und neu
aufzurüsten, in der
gleichen oder ähnlichen Version wie vor dem Unglück. Ich spreche
von „wieder
(gut) machen“ (5), das heißt, „von neuem, nochmals machen“. Und
die
wissenschaftlichen Wissen können der Verzweiflung (desesperación)
einen
Boden geben, „reorientieren“, und ihr ihren wirklichen
Sinn geben:
„nicht mehr zu warten (esperar)“. Wer nicht mehr wartet,
kann anfangen
zu handeln.
Die Politik,
die Ökonomie, die
Religion spalten, teilen auf, trennen. Die Wissenschaften und
die Künste einen,
verschwistern, verwandeln die Grenzen in lächerliche
Markierungen der
Landkarte. Jedoch, eines gewiss, weder die einen noch die
anderen sind von der
grausamen Spaltung der Klassen befreit. Sie haben zu wählen:
Beitragen zur
Erhaltung und Reproduktion der Maschine oder Aufzeigen
ihrer notwendigen
Abschaffung.
Anstatt die
Maschine neu zu
etikettieren, zu verschönern, zu verfeinern, werden Wissenschaft
und Kunst auf
der verchromten Oberfläche des Systems ein lakonisches und
eindeutiges Schild
anbringen:
„HINFÄLLIG“, „ZEIT
ABGELAUFEN“, „ZUM WEITERLEBEN BITTE EINER
ANDEREN WELT ÜBERGEBEN“.
Stell' dir
vor („Imagine“:
deine Generation müsste etwas von John Lennon haben, die meinige
kommt ja eher
vom Son und Huapango). Stell' dir also vor, dass all das Geld,
was für Politik
ausgegeben wird (beispielsweise für Parlaments- oder
Kriegswahlen; beide sind
jedoch gleich anti-demokratisch: „Die Politik und die
Wirtschaft sind die
Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“, müsste Clausewitz
gesagt haben, wenn er von den Sozialwissenschaften ausgegangen
wäre), den
Wissenschaften und Künsten zu gute käme. Dass anstatt der
Wahlkampagnen und
Kriegskampagnen Laboratorien, Zentren der Forschung, der
wissenschaftlichen
Verbreitung, Konzerte, Ausstellungen, Festivals, Buchläden,
Bibliotheken,
Theater, Kino existierten, es Land und Straßen gäbe, wo die
Wissenschaften und
Künste und nicht die Maschine regieren würden.
Klar, wir
Zapatistinnen und Zapatisten
sind davon überzeugt, dass das nur möglich ist, außerhalb der
Maschine. Und man
die Maschine zerstören muss. Nicht justieren, nicht anstreichen,
nicht sie
„humaner“ machen. Nein, sie zerstören. Wenn etwas von ihren
Resten dienlich
sein sollte, dann als ein Beweis dafür, dass man diesen Albtraum
nicht wiederholen
muss. Lediglich wie eine Referenz darauf, in den „Rückspiegel“
zu schauen,
während man den Weg hinter sich lässt.
Aber wir
zweifeln nicht daran, dass es
nicht doch jemanden gibt, der denkt und glaubt, es sei innerhalb
der Maschine,
ohne ihren Betriebsablauf zu verändern, machbar: Indem der
Maschinist
ausgewechselt wird oder danach gesehen wird, dass die
prunkvollsten Wagons
ihren Reichtum ausstreuen, damit etwas (nicht viel, man darf es
nicht
übertreiben) die hinteren Wagons erreicht. Klar, immer betonend,
dass jeder an
dem Platz sei, wo er sein sollte. Die Arglosigkeit, Bruder,
pflegt jedoch eine
der Verkleidungen der Perversität zu sein.
Nun gut, ich
habe vorher die Pueblos
originarios und die Kellergeschosse der Welt erwähnt. Nun,
weil sie diejenigen
sind, die die größte Chance haben, den Sturm zu überleben, und
die einzigen mit
der Fähigkeit, eine „andere Sache“ zu schaffen. Jemand muss
morgen eine Antwort
geben auf die Frage: „Gibt es jemanden auf dieser Erde?“
Und hier zeigt
das Wort, nicht ohne provozierende Koketterie, eine weitere
Abzweigung auf, die
ich – mit
meiner
bekannten Zurückhaltung –
zum Wohle dieses Briefes vermeide.
Ich habe
zuvor – verschmitzt und
streitlustig – geschrieben: „Die Künste, ausgenommen die
Literatur“. Nun
gut, weil ich glaube (und das ist persönlich), dass es die
Aufgabe der
Literatur ist, die Verbindungen zwischen den drei oben genannten
Bereichen zu
schaffen, und Rechenschaft abzulegen über den erfolgreichen oder
nicht
erfolgreichen Prozess der Interrelationen. Es ist an ihr, „die
Zeugin“ zu sein.
Jedoch am Sichersten ist es, dass ich mich irre, oder in diesem
Kartenspiel
lediglich den „Joker“ offen gelegt habe, um zu fragen: „Warum
so ernst?“
-*-
Was
wollen wir? Der Schlüssel zur unterirdischen Botschaft des
Zapatismus liegt in
den kleinen Erzählungen über das Mädchen, das sich selbst „Defensa
Zapatista“
(6) nennt, und die im Buch „Das kritische Denken im Angesicht
der
kapitalistischen Hydra“ auftauchen.
Sich
das Folgende vorzustellen – weil es notwendig und dringlich
ist –
scheint unmöglich: Eine Frau,
die aufwächst, ohne Angst zu haben.
Klar,
jeder Ort und jede Zeit wird andere Ketten hinzufügen: Indígena,
Migrantin,
Arbeiterin, Waise, Vertriebene, Illegale, Verschwunden gemachte,
subtile oder
ausdrückliche Gewalt Erfahrende, Vergewaltigte, Ermordete – immer
dazu verurteilt, ihrem
Leben als Frau weitere Lasten und Bestrafungen hinzuzufügen.
Welche
Welt würde von einer Frau geschaffen, die ohne die Angst vor
Gewalt,
Belästigung, Verfolgung, Verachtung, Ausbeutung geboren werden
und aufwachsen
könnte?
Wäre
eine solche Welt nicht schrecklich und wundervoll?
Wenn
sie mich – gespenstischer Schatten und
impertinente Nase –
irgendwann einmal bitten würden,
das Ziel des Zapatismus zu definieren, dann würde ich somit
sagen: „Eine
Welt zu schaffen, in der eine Frau geboren wird und aufwächst,
ohne Angst.“
Obacht:
Ich
sage nicht, dass es in dieser Welt bereits keine dieser
Gewaltformen, die
auf die Frau lauern, gibt (vor allen Dingen weil man diesem
Planeten mehrmals
ein Ende bereiten kann, jedoch nicht gleichsam dem Schlechten
unserer
Bedingtheit als Männer).
Ich
sage auch nicht, es gäbe nicht bereits Frauen ohne Angst, deren
Rebellinnentum
diesen Sieg in der alltäglichen Schlacht erlangt hat und die
wissen, dass sie
Schlachten gewonnen haben. Aber nicht den Krieg. Nicht bis
jegliche Frau in
jeglichem Winkel der Zeiten und Orte der Welt ohne Angst
aufwachsen kann.
Ich
spreche von der Tendenz. Könnten wir behaupten, dass die
Mehrheit der Frauen
geboren werden und aufwachsen, ohne Angst? Ich glaube nicht.
Wahrscheinlich
irre ich mich, und sicherlich werden Zahlen, Statistiken,
Beweise dafür, dass
ich mich irre, einlaufen.
Jedoch
in unserem begrenzten Horizont nehmen wir die Angst wahr: Angst
weil klein,
Angst weil groß, Angst weil schlank, Angst weil dick, Angst weil
hübsch, Angst
weil hässlich, Angst weil schwanger, Angst weil nicht schwanger,
Angst weil
Mädchen, Angst weil Jugendliche, Angst weil Erwachsene, Angst
weil Alte (zu
sein).
Lohnt
es sich den Schritt, Leben und Tod, einzusetzen, in einem
derartigen
Hirngespinst?
Wir,
Zapatistinnen und Zapatisten sagen, ja, es lohnt sich.
Und in
das setzen wir das Leben, auch wenn es wenig ist; es ist alles,
was wir haben.
-*-
Ja, du
hast recht, es wird derjenige nicht fehlen, der uns als „naiv“
tadeln wird
(bestenfalls; denn in allen Sprachen gibt es dafür gröbere
Synonyme). /Dieses
Textverarbeitungsprogramm, eine freie Software und ein offener
Code, gefallen
mir, denn jedes mal wenn ich „caso (Fall)“ oder „casos
(Fälle)“
schreiben will, schlägt die Textkorrektur mir „caos (Chaos)“
vor. Ich
glaube, die freie Software weiß mehr von verheerenden Stürmen
als ich/.
Letztendlich,
wo
war ich? Ah!, die verloren gegangenen Worte, ihr Schiffbruch auf
Papieren
oder in Bites,
die Pueblos
originarios und die Kellergeschosse der Menschheit –
umgewandelt zu einer Arche
Noah, die Wissenschaften und die Künste als rettende Inseln, ein
Mädchen ohne
Angst als Kompass und Hafen...
Was?
Ich stimme mit dir überein, das Resultat des Ganzen hat mehr von
„Chaos“ als
von „Fall“. Aber das hier ist lediglich ein Brief, der sich in
einen kleinen
Papier-Flieger verwandelt, so wie es alle Briefe tun
sollten, ein kleines
Papierflugzeug – mit der seitlich aufgemalten
einschüchternden Aufschrift,
„Zapatistische Luftwaffe“, das seinen Adressaten suchen
wird. Weil, wer
weiß, wo du dich herumtreibst, Juan, 'Bruder unter Protest'. Wie
sagten die
Großmütter früher (ich weiß nicht, ob sie das heute noch tun): „Jetzt
beruhige
dich 'mal, kleiner Kerl“, und zieh' dir eine warme Jacke
an, oder
lass' dich umarmen, denn es ist kalt „und das Thema, du weißt
es ja bereits,
ist der Regen.“
Aus
den Bergen des Südosten Mexikos.
Subcomandante
Insurgente
Galeano.
Mexiko,
Februar
2016.
Anmerkungen
der
ÜbersetzerIn:
(1)
pueblos originarios: „originäre/ursprüngliche Gemeinden/Völker“
(2) im
Original: „la tonelada“
(3)
mutatis mutandi (latein.): „unter Abänderung des zu ändernden“
(4)
„El Pensamiento Crítico Frente a la Hidra Capitalista –
Participación de la Comisión Sexta del EZLN“: Das Buch wird in wenigen
Monaten in deutscher
Übersetzung erscheinen.
(5)
rehacer: kann auch „aufmöbeln, kitten“ bedeuten
(6)
Defensa Zapatista: „Zapatistische Verteidigung“
übersetzt
von
lisa-colectivo malíntzin
_______________________________________________
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