Frankfurter Rundschau,
von Klaus Ehringfeld
MEXIKO-STADT –
Die Interamerikanische Menschenrechtskommission
(CIDH) hat Mexiko ein desaströses Zeugnis ausgestellt und dem
Staat vorgeworfen, nichts gegen Folter, Hinrichtungen und
Verschwindenlassen zu tun. Ermöglicht würde diese weitverbreiteten
Verbrechen zudem durch eine endemische Straflosigkeit und eine
undemokratische Justiz, schreibt die CIDH in einem am Mittwoch
vorgestellten 236 Seiten starken Bericht. Fälle wie das
Verschwinden der 43 Studenten von Ayotzinapa oder die Ermordung
von 22 Zivilisten durch Militärs in der Ortschaft Tlatlaya seien
nur die Spitze des Eisbergs und belegten die „schwere Krise“ in
Mexiko, betont die CIDH in ihrem Report, der erstmals seit 1998
eine komplette Bestandsaufnahme der Menschenrechte im zweitgrößten
Land Lateinamerikas erhebt. Die Interamerikanische
Menschenrechtskommission ist ein Organ der Organisation
Amerikanischer Staaten (OAS).
Sieben Experten hatten Mexiko zwischen dem 28.
September und 2. Oktober besucht und auf dieser Basis ihren
Bericht „Situation der Menschenrechte in Mexiko“ verfasst. „Die
staatliche Antwort ist unzureichend, um der Situation der Gewalt
und Straflosigkeit im Land Herr zu werden,“ heißt es darin. Zwar
bescheinigen die Experten Mexiko auf der rechtlichen Ebene große
Fortschritte. „Aber Papier ist geduldig, und die gesetzlichen
Garantien und Sicherheiten müssen auch in die Tat umgesetzt
werden“. Kaum war der Bericht am Mittwoch veröffentlicht, wehrten
sich Mexikos Regierung und Justiz vehement gegen die Vorwürfe.
In einer gemeinsamen Erklärung von
Generalstaatsanwaltschaft, Innen- und Außenministerium hieß es,
der Bericht stelle die Situation falsch dar, sei politisch
motiviert und reflektiere nicht die generelle Lage im Land. „Es
gibt in Mexiko keine Menschrechtskrise“, beharren die Offiziellen.
Diese Reaktion ist typisch, wenn sich Mexiko von außen kritisiert
sieht. Man schließt die Reihen und wirft den Institutionen
unsauberes Arbeiten vor. Dabei sprechen selbst die offiziellen
Zahlen eine Sprache, die nur einen Schluss zulassen: In Mexiko
herrschen Zustände, wie man sie sonst nur aus Diktaturen und
Kriegsgebieten kennt.
Formal ist Mexiko eine der größten Demokratien der Welt. Aber hier
sterben jedes Jahr mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als in den
Kriegsregionen des Nahen Ostens. In den ersten drei Jahren der
Amtszeit von Präsident Enrique Peña Nieto (Dezember 2012 bis
Dezember 2015) wurden laut Zahlen des mexikanischen
Innenministeriums 56 117 Menschen ermordet. In dem Land kommt es zu
mehr Entführungen als anderswo, und hier Verschwinden mehr Männer,
Frauen und Kinder spurlos als in den finstersten Tagen
südamerikanischer Diktaturen: 26 798 Menschen gelten nach
offiziellen Zahlen als spurlos verschwunden. Und die Täter können
sicher sein, straflos davon zu kommen. Die Aufklärungsquote bei
Gewaltverbrechen liegt bei zwei Prozent. 98 von 100 Mördern und
Entführern kommen ungeschoren davon. „Ganz besonders gravierend“, so
der CIDH-Report, sei das Verschwindenlassen Beschuldigter und
Unschuldiger durch staatliche Sicherheitskräfte oder mit deren
Duldung oder Zustimmung. „Wir haben gedacht, so etwas gehört mit dem
Ende der autoritären Regime des Kontinents endgültig der
Vergangenheit an, aber die Zahlen sprechen eine andere, wirklich
alarmierende Sprache“, sagte CIDH-Präsident James Cavallaro.
Auch die Folter als Methode, Geständnisse zu
erpressen sei allgemein und weit verbreitet. Derzeit laufen 2420
Ermittlungsverfahren gegen Vertreter der Sicherheitskräfte wegen
des Verdachts der Folter. Daneben seien bestimmte Gruppen in
Mexiko besonderen Gefahren ausgesetzt: Menschenrechtsaktivisten,
Ureinwohner, Migranten und vor allem Journalisten liefen immer
Gefahr, bei der Ausübung ihres Berufs oder als Minderheit bedroht,
angegriffen oder getötet zu werden.
Die Probleme seien nicht einer einzelnen
Regierung anzulasten, hebt die CIDH hervor. „Die Versäumnisse und
Defizite sind strukturell“. Lösungen würden daher sehr lange
dauern und seien nur in Zusammenarbeit zwischen mexikanischem
Staat und der Internationalen Gemeinschaft zu erreichen. „Die
große Herausforderung für den Staat ist es, die schwere Krise der
Menschenrechte anzuerkennen und als erstes die Straflosigkeit zu
bekämpfen, damit die Verantwortlichen für die Verbrechen zur
Verantwortung gezogen werden können“, betonen die Experten.
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