Sonntag, 4. Oktober 2015
Chile 1970 ist nicht vergleichbar mit Griechenland 2015
von Reinhold Schramm (Zusammenfassung) 27. September 2015
4. September 1970: Der gemeinsame Kandidat der in der Unidad Popular vereinten Parteien, Dr. Salvador Allende Gossens, gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Er erzielt als Kandidat der UP, mit 36,30 Prozent die höchste Stimmenzahl. Der Rechtskandidat Alessandri bekommt 34,98 Prozent und der Christdemokrat Tomic 27,84 Prozent.
Votum für ein klares Programm
Dr. Allende: „Es ist ein Sieg, der mit einem sehr präzisen und klaren Programm erkämpft wurde, mit einem großen Nationalbewusstsein und einer ausgesprochenen antiimperialistischen Einstellung. Dieser Sieg gehört nicht einer Person, sondern dem Volk, das für seine wirtschaftliche Unabhängigkeit und völlige politische Souveränität kämpft.“ [Hervorhebungen – R. S.]
Erstmalig eine Regierung des werktätigen Volkes
22. Oktober 1970: Dr. Salvador Allende wird vom chilenischen Kongress – mit den Stimmen der Christdemokraten – zum Präsidenten proklamiert. Seinem Kabinett gehören erstmals in der Geschichte Chiles vier Arbeiter an. Vier Minister sind Sozialisten, drei Kommunisten, drei gehören zur Radikalen Partei.
5. November 1970: Präsident Dr. Salvador Allende anlässlich seines Amtsantritts:
„Der Sieg gehört dem geprüften Volk, das eineinhalb Jahrhunderte lang unter dem Deckmantel sogenannter Unabhängigkeit die Ausbeutung der herrschenden Klasse ertrug, die unfähig ist, den Fortschritt zu sichern, und die auch gar kein Interesse daran hat. Die Wahrheit ist – und das wissen wir alle –, dass Rückständigkeit, Unwissenheit und Hunger unseres Volkes und aller Völker der dritten Welt einigen wenigen Privilegierten Gewinne bringen. Aber jetzt endlich ist der Tag gekommen, um Schluss zu sagen, Schluss mit der wirtschaftlichen Ausbeutung! Schluss mit der sozialen Ungleichheit! Schluss mit der politischen Unterdrückung!“
4. März 1973: Trotz der von der Reaktion organisierten wirtschaftlichen Schwierigkeiten erhält die Regierung Allende am 4. März bei den Wahlen zum Parlament erneut einen überzeugenden Vertrauensbeweis.
Der Unidad Popular gelingt, was noch keiner Regierung Chiles gelang:
Sie gewinnt nach dreijähriger Regierungszeit 43,39 Prozent der Stimmen, sieben Prozent mehr als bei den Wahlen von 1970!
Sie erhöht die Zahl ihrer Abgeordneten von 57 auf 63. Auch im Senat gewinnt sie zwei Sitze hinzu.
Was die UP 1970 vorfand: parasitären Luxus, unvorstellbares Elend und wirtschaftlicher Niedergang
• Reichtum in wenigen Händen: Die größten Aktiengesellschaften, nicht einmal ein halbes Prozent aller Unternehmen, kontrollierten zwei Drittel der gesamten Produktion des Landes.
• Acker- und Weideland befinden sich zu 80 Prozent in den Händen von 4,2 Prozent der Bevölkerung, der großen Grundeigentümer, der Latifundistas.
• Zwei Prozent der chilenischen Familien verfügen über 46 Prozent des Geldeinkommens.
• 46,2 Prozent des Aktienkapitals der 30 größten Industrieunternehmen Chiles befinden sich im Besitz ausländischer Konzerne. Der Bergbau, aus dem rund 85 Prozent aller Exporterlöse Chiles stammen, ist unumschränkte Domäne der US-Konzerne.
• Die Staatsfinanzen sind zerrüttet. Beim Antritt der UP-Regierung ist die Pro-Kopf-Verschuldung, nach Israel, die zweithöchste der Welt.
• Unter den vorausgegangenen Regierungen der Nationalpartei und Christdemokraten stiegen die Lebenshaltungskosten innerhalb eines Jahrzehnts um fast 1.000 Prozent. Die Arbeiter erhielten Hungerlöhne, die Altersrenten sind fast auf ein Nichts reduziert. Das Einkommen der Landarbeiter beträgt nur ein Fünftel des niedrig angesetzten Mindestlohns der Arbeiter. Allein in Santiago leben 600.000 Menschen in Elendsquartieren. Zwei Drittel aller Bauernhäuser besitzen keinen befestigten Fußboden, nur zehn Prozent haben Strom. Es gibt über 300.000 Arbeitslose. 1,5 Millionen Kinder sind unterernährt. 600.000 Kinder sind geistig zurückgeblieben, weil sie nicht genug zu essen haben. Die Kindersterblichkeit liegt im Landesdurchschnitt bei 10 Prozent, auf den Dörfern sogar 30 Prozent. Jährlich sterben 25.000 Kinder im ersten Lebensjahr. 60 Prozent aller Kinder werden vor 1970 ohne medizinische Hilfe geboren. Auf dem Lande haben nur 52 Prozent aller Kinder die Möglichkeit, am Schulunterricht teilzunehmen. Die Folge ist, dass 15 Prozent aller Chilenen über 15 Jahre Analphabeten sind.
Der Großangriff der UP unter Dr. Salvador Allende – gegen den Widerstand reaktionärer und imperialistischer Kräfte – mit der Verwirklichung wahrhaft menschlicher sozialer Maßnahmen.
• Milch und Schulbücher für die Kinder
Bereits im November 1970 tritt eine Verfügung in Kraft, die in ganz Lateinamerika Aufsehen erregt. Alle Kinder unter 15 Jahren erhalten täglich kostenlos einen halben Liter Milch. Bis August 1971 sinkt die Kindersterblichkeit um 20,1 Prozent. Kostenlos werden an Kinder werktätiger Familien fünf Millionen Schulbücher, 500.000 Paar Schuhe und große Mengen Schulutensilien verteilt. Zusätzlich zu ihrer Milchration erhalten 1,8 Millionen Schüler ein Frühstück und 600.000 ein Mittagessen. Die Preise für Schulkleidung werden gesenkt.
• Lohnerhöhungen und neue Arbeitsplätze
Die Löhne und Gehälter werden um 35 bis 66 Prozent erhöht. Die Mindestlöhne steigen um 66 Prozent. Die Familienzuschläge werden verdoppelt. [Die Oppositionsparteien versuchen, diese Maßnahmen immer wieder zu sabotieren.] In kurzer Zeit erhalten 260.000 Arbeitslose einen Arbeitsplatz.
• Steigender Lebensstandard
Die Preise für wichtige Bedarfsgüter werden durch Verfügung eingefroren. Das Realeinkommen der Werktätigen steigt um 20 Prozent.. Ihre Kaufkraft erhöht sich 1971 gegenüber 1970 um fast die Hälfte. Die Inflationsrate, 1970 bei 34,9 Prozent, kann bis April 1971 auf 6,6 Prozent gesenkt werden.
In den ersten Monaten der UP-Regierung steigt der Verbrauch von Geflügel um 15,0 Prozent, Fleisch um 26,3 Prozent, Kartoffeln um 55,0 Prozent, Zucker um 37,0 Prozent, Reis um 15,0 Prozent, Milch um 16,3 Prozent, Eier um 13,6 Prozent. – Die UP-Regierung macht Schluss mit der Ungerechtigkeit, dass die Reichen besseres Brot zu kaufen bekommen als die Armen!
• Mietstopp und Wohnungsbau {…}
• Bessere medizinische Hilfe {…}
• Soziale Fürsorge für alle {…}
• Unterstützung der Rentner {…}
Revolutionäre Fortschritte: Die Unidad Popular muss ihren Weg gegen den Widerrstand der in- und ausländischen imperialistischen Reaktion durchkämpfen, auch noch gegen die Mehrheit im Parlament, gegen Justiz, Armee und Massenmedien.
• Schach den Kupferkonzernen
Im Dezember 1970 unterzeichnet Dr. Allende den Gesetzentwurf über die Nationalisierung des Kupferbergbaus und der Kupferverhüttung, die vor allem in den Händen von USA-Monopolisten liegen.
Im Juli 1971 werden alle amerikanischen Kupferminen in Chile verstaatlicht.
Nationalisiert werden unter anderem: der USA-Telephon- und Telegrafenkonzern ITT, die Kohlenbergwerke von Lota und Schwager, der Salpeterbergbau, alle Textil- und Zementfabriken, das US-Sprengstoffunternehmen Du Pont.
• Gesundung der Wirtschaft
Bereits im Jahr 1971 steigern die Arbeiter die Kupfergewinnung um 40.000 auf 730.000 t.
Die zuvor nur zu etwa 65 Prozent ausgelasteten Industriekapazitäten werden voll genutzt.
Das Nationalprodukt ist unter der Regierung Dr. Allende im ersten Jahr bereits schon um 8,5 Prozent gestiegen. Der Zuwachs der Industrieproduktion beträgt 12,5 Prozent.
Folgende Produktionssteigerungen wurden z. B. 1971 erreicht: Landwirtschaft plus 5 Prozent, Salpeter plus 50 Prozent, Zement plus 7 Prozent, Ölraffinerie plus 32 Prozent, Elektronische Erzeugnisse plus 55 Prozent, Stahl plus 10 Prozent, Elektroenergie plus 16 Prozent.
• Privatbanken werden Volksbanken
Ende 1971 sind die kapitalistischen Banken weitgehend verstaatlicht. Die Regierung der Unidad Popular kontrolliert – nach dem Aufkauf der Aktien – 90 Prozent der früheren Privatbanken.
• Land in Bauernhand
Die Latifundien – eine der Grundlagen der Macht der Oligarchie – wurden im wesentlichen beseitigt. Das Land der Latifundisten wurde an 50.000 Bauern übergeben.
• Kostenloser Schulbesuch
Durch Neubauten wurde es möglich, dass 94 Prozent der Kinder zwischen 6 und 15 Jahren sowie 35 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren die Schule besuchen. 1970 hatten erst 35.000 Kinder die Möglichkeit zu lernen, so waren es 1971 bereits 210.000.
Jede Maßnahme: unversöhnlicher Kampf
Belando Calderon, Sekretär der Sozialistischen Partei Chiles (SP), auf einer Tagung im April 1971:
„Mit jeder Maßnahme, die die Regierung oder die Unidad Popular betreibt, ist unweigerlich der unversöhnliche Kampf zwischen dem Volk Chiles und seinen größten Feinden verbunden, nämlich dem Imperialismus, den Monopolen, den Banken und dem Großgrundbesitz.“
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Vgl. CHILE. Ein Schwarzbuch. Herausgegeben von Hans-Werner Bartsch, Martha Buschmann, Gerhard Stuby und Erich Wulff. Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1974.
27. September 2015, Reinhold Schramm (Zusammenfassung)
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