Sonntag, 4. Oktober 2015

Asylrechtsverschärfung: Scharfer Widerspruch aus der Zivilgesellschaft

Während sich CDU/CSU, SPD und Grüne auf weitreichende Maßnahmen zur Entrechtung und Ausgrenzung von Flüchtlingen geeinigt haben, trifft die geplante Asylrechtsverschärfung bei Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen und weiteren mit Flüchtlingsarbeit und Asylrecht befassten Akteuren der Zivilgesellschaft auf scharfe Kritik. Die Ergebnisse der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik am 24. September 2015 sowie der vorliegende Entwurf eines „Asylbeschleunigungsgesetzes“ werden von zahlreichen Organisationen weitgehend einhellig kritisiert, obwohl ihnen das Bundesinnenministerium für die Stellungnahme eine Frist von unter 30 Stunden gesetzt hatte. PRO ASYL hatten im Vorfeld öffentlich massive Kritik an den Verschärfungsplänen geübt. Eine Übersicht über vorliegende Stellungnahmen und Kommentare: Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz kritisieren in einer gemeinsamen Stellungnahme die im Gesetzesvorhaben avisierte und von Bund und Ländern abgesegnete Unterscheidung in Personen „mit und ohne Bleiberechtsperspektive“ als „sehr problematisch“, eine solche Einteilung widerspreche dem auf eine individuelle Prüfung ausgerichteten Asylrecht. Ferner warnen die Kirchen, die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, auf sechs Monate auszuweiten, könnte die Situation von Betroffenen aus Sicht der Kirchen erheblich verschlechtern. „Abgesehen von den fehlenden Kapazitäten in den Aufnahmeeinrichtungen vieler Bundesländer, die aktuell zu einer schnellen Weiterverweisung an die Kommunen führen, bezweifeln die Kirchen, dass diese Maßnahmen einen effektiven Beitrag zur Bewältigung der hohen Asylbewerberzahlen leisten können.“ Zur Einstufung weiterer Westbalkanstaaten als „sichere Herkunftsländer“ betonen die Kirchen: „Nach der wiederholt zum Ausdruck gebrachten Überzeugung der Kirchen muss jeder Asylantrag unvoreingenommen und gründlich geprüft werden. (…) Die Kirchen haben deshalb das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten stets als eine Einschränkung des individuellen Grundrechts auf Asyl gewertet.“ Ebenso kritisieren die Kirchen das Vorhaben, für bestimmte Gruppen von Flüchtlingen die Sozialleistungen auf das „physische Existenzminimum“ zu reduzieren. Hierzu stellen die Kirchen fest: „Eine Absenkung von Leistungen unter das Niveau des menschenwürdigen Existenzminimums aus migrationspolitischen Erwägungen verbietet das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18.7.2012 (…) ausdrücklich“ Der DGB lehnt die Erweiterung der Liste sicherere Herkunftsländer ab und fordert, die Gründe für eine Schutzsuche auch künftig individuell zu prüfen. „Erstens bestehen immer noch Formen rassistischer Diskriminierungen und Gewalt gegenüber ethnischen Minderheiten in diesen Ländern und zweitens liegt die hohe Ablehnungsquote auch an der Tatsache, dass die Schutzsuchenden über andere EU-Staaten eingereist sind.“ Ebenso sieht der DGB die Einwanderungsregelung für Menschen vom Westbalkan als völlig unzureichend an. Die geplanten Regelungen werden laut DGB nicht zum Erfolg führen: „Denn die Antragstellung setzt voraus, dass eingereiste Asylsuchende mindestens 24 Monate im Herkunftsland wohnhaft sind. Vielmehr erforderlich wäre die Einführung der Möglichkeit eines Spur- oder Zweckwechsels.“ Die AWO befürchtet, „dass durch einen längeren Verbleib der Menschen in Großunterkünften die Ressentiments in der Bevölkerung deutlich ansteigen werden. Auch deshalb, weil die geplante große Anzahl von Menschen in den Großunterkünften für die Infrastrukturen schwer zu integrieren sind. Für rechtsgerichtete Gruppen wird es dadurch einfacher, Ängste zu schüren.“ Auch würden die Großunterkünfte in Regionen errichtet, in denen „ein Kontakt zur Bevölkerung kaum möglich wird. Doch gerade dieser bewusst hergestellte Kontakt zwischen den Menschen auf der Flucht und den Einheimischen hat sich als wirkungsvolle Maßnahme zum sozialen Zusammenhalt und zur Willkommenskultur bewährt“, so der AWO Bundesverband. Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge: „Die geplanten Bildungsverbote machen alle Erfolge zunichte, die durch Jugendhilfe und Schulen bislang erreicht worden sind“, erklärt Ulrike Schwarz vom Bundesfachverband UMF e.V., „Tausende junge Flüchtlinge müssten weiterführende und berufliche Schulen verlassen und würden nach der Jugendhilfe perspektivlos in Sammelunterkünften landen, statt eine Ausbildung beginnen zu können.“ Paritätischer Gesamtverband: „Es wäre falsch, jetzt zu versuchen, durch gesetzestechnischen Aktionismus und Abschreckungsmaßnahmen Schutzsuchende von der Einreise nach Deutschland abzuhalten. Vielmehr brauchen wir einen schnellen Ausbau der Infrastruktur sowie gute Integrationsangebote. Wir müssen uns um die Menschen kümmern, die hier sind und zwar um alle“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Amnesty International: "Die geplanten drastischen Leistungskürzungen, die sich unter anderem auf die Gesundheitsversorgung beziehen, sind menschenrechtswidrig, unvereinbar mit der Menschenwürde und widersprechen jedem Anstand. Aus der Menschenwürde ergibt sich das Recht, nicht unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums leben zu müssen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz ausdrücklich festgehalten", kritisiert Amnesty-Generalsekretärin Çalışkan. "Migrationspolitische Erwägungen dürfen außerdem weder die Höhe noch die Form der Leistungen bestimmen." Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.: Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen bezeichnet die vorliegenden Entwürfe als „völlig ungeeignet, einen ganzheitlich humanitären Beitrag zur Lösung des aktuellen Fluchtgeschehens zu leisten, die im Übrigen auch jenseits verfassungsrechtlicher Bindungen, insbesondere der Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Art. 1 GG, angelegt sind.“ Bundesgeschäftsführerin Mende stellt fest, dass die Gesetzesentwürfe „den Kernbereich des Grundrechts auf Asyl und des humanitären Flüchtlingsrechts“ berührten, „indem sie protektionistisch auf Abschottung und Abschreckung setzen und nicht nur lediglich verfahrenssteuernde Regelungen treffen. Sie sind maßgeblich davon gespeist, sich der Verantwortung für Zuflucht suchende Menschen zu entledigen.“ Neue Richtervereinigung: Die Neue Richtervereinigung nimmt die von der Bundesregierung gesetzte Frist zur Abgabe einer Stellungnahme mit Befremden zur Kenntnis und stellt fest: „Das Tempo, das die Bundesregierung hier vorlegt, wird der Bedeutung der in Rede stehenden Gesetzesänderungen nicht gerecht. Ganz im Gegenteil birgt es die Gefahr handwerklicher Fehler, die sich später in der Praxis kontraproduktiv auswirken.“ Caritas Deutschland: „Auch wenn die große Zahl an Flüchtlingen entschlossenes Handeln aller Akteure in Politik und Gesellschaft erfordert, müssen die Standards der Asylverfahren und des Verfassungsrechts aufrecht erhalten werden“, betont Caritas-Präsident Peter Neher. „Insbesondere das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminium darf nicht beschnitten werden. Genau das aber sieht der aktuelle Gesetzentwurf für Asylsuchende vor, die über einen sicheren Staat eingereist sind.“ Weiter heißt es: "Wenn Flüchtlinge die sogenannten Dublin-Regelungen missachten, muss darauf mit einem entsprechenden Verfahren reagiert werden, aber nicht, indem man ihnen die Leistungen des sozio-kulturellen Existenzminiums kürzt. Das ist verfassungswidrig". Die Caritas kritisiert zudem das geplante Arbeitsverbot für Menschen, die nur geduldet in Deutschland leben und nicht abgeschoben werden können, wenn beispielsweise die Staatsangehörigkeit nicht geklärt werden kann oder sie angeblich falsche Angaben gemacht haben: "Wer jahrelang nur geduldet in unserem Land lebt, nicht arbeiten darf und keinen Zugang zu Bildung hat, lebt in völliger Perspektivlosigkeit. Das ist schrecklich für die Betroffenen und unvernünftig mit Blick auf das Leben in der Gesellschaft“. Diakonie Deutschland: Die Diakonie kritisiert, dass Flüchtlinge künftig bis zu sechs Monaten in den Erstaufnahmeeinrichtungen ausharren müssen und stellt zur Wiederbelebung des Sachleistungsprinzips, der Residenzpflicht und der Hürden beim Arbeitsmarktzugang fest: „Diese Regelungen zielen eher darauf ab, Asylanträge zu verhindern. Für die Asylsuchenden werden diese Änderungen mit erheblichen Einschränkungen einhergehen.“ Ebenso kritisiert die Diakonie die Einstufung weiterer Westbalkanstaaten als „sicher“: „Verfolgung glaubhaft zu machen bedarf grundsätzlich intensiver Bemühungen seitens der Asylsuchenden. Für Personen aus als sicher eingestuften Herkunftsstaaten ist diese Glaubhaftmachung nahezu unmöglich. Sie müssen beweisen, dass gerade ihnen Verfolgung droht - obwohl das Land, aus dem sie kommen, als sicher gilt. Das Asylrecht ist ein Individualrecht. Daher sollten Asylanträge ohne gruppenbezogene Vorbehalte geprüft werden.“ Hinsichtlich der geplanten Leistungskürzungen für Asylbewerber verweist die Diakonie auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2012, das urteile: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“. Flüchtlinge dürfen daher nicht „durch Leistungsentzug genötigt sein, das Land zu verlassen.“ (Update:) Rat für Migration: Der bundesweite Zusammenschluss von Migrationswissenschtlerinnen bewertet in seiner Stellungnahme das Gesetzesvorhaben „aus wissenschaftlicher Sicht als höchst problematisch“. Die Einschränkung der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verstoße nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 18. Juli 2012 gegen die Menschenwürde. Die verlängerte Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen werde erfahrungsgemäß nicht zu der erstrebten Beschleunigung der Verfahren führen, sondern „nachweislich soziale Ausgrenzung“ fördern und „zu vermehrten psychischen und gesundheitlichen Problemen der Flüchtlinge“ führen. Zudem hemme sie die Integration und schaffe Zusammenballungen, in denen Konflikte vorprogrammiert sind. Insbesondere kritisiert der Rat für Migration anhand mehrerer Maßnahmen des „Asylbeschleunigungsgesetzes“, dass dieses statt zu einer Beschleunigung der Asylverfahren zu bürokratischem Mehraufwand führen wird. Die im Gesetzesvorhaben avisierte Trennung von Flüchtlingen mit „guten“ und „schlechten“ Bleibeperspektiven trage der Vielfalt der aktuellen Fluchtbewegungen nicht Rechnung, die Diskussion über „sichere Herkunftsstaaten“ sei eine Scheindebatte. Generell stehe der Gesetzentwurf in der Tradition der gescheiterten Abschottungs- und Abschreckungspolitik. http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/asylrechtsverschaerfung_scharfer_widerspruch_aus_der_zivilgesellschaft/

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